Großbritannien - Brexit neu gedacht

Das britische Parlament bekommt ein Mitspracherecht beim Brexit und schmälert Theresa Mays Verhandlungsmacht gegenüber Brüssel. Doch es gibt sogar eine Möglichkeit, wie das Land doch noch in der EU bleiben könnte

Der High Court hat entschieden, das Britische Parlament muss beim Brexit befragt werden / picture alliance
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Autoreninfo

Dr. Matthias Göschke, Jahrgang 1972. Der gebürtige Österreicher wuchs in Deutschland auf, dissertierte 2000 an der Universität Wien zu rechtsphilosophischen Grundfragen und war von 1999 bis 2012 als Rechtsanwalt in Wien tätig. Seither ist er als Konsulent in Großbritannien und Österreich aktiv.

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Letztlich ging es bei bei der „Leave“-Kampagne um den Widerstand gegen innereuropäische Migrationsströme, wie  jüngst Tessa Szyszkowitz dargelegt hat. Auch die „Leave“-Mehrheit wollte wohl kaum wegen der vier Grundfreiheiten des europäischen Binnenmarkts austreten, sondern um die Immigration zu stoppen. Das zeigt sich auch an dem (blauäugig-frommen, wenn nicht provokanten) Wunsch der britischen Regierung, man wolle auch nach dem Brexit den vollen Zugang zum Binnenmarkt weiterhin genießen. Nur sollten eben künftig die Arbeitsmigranten tunlichst zu Hause bleiben. Dass die EU-Mitgliedstaaten einer solchen Wunschvorstellung nicht genüge tun können, ohne damit die Fundamente des Binnenmarktes einzureißen, ist wohl common sense – jedenfalls auf dem Kontinent. Und so langsam dürfte das auch der britischen Administration dämmern.

Die Ausnahme bestätigt die Regel

Der Ärger mit Rest-Europa ist nicht genug, es geht noch ein ganzes Stück schlimmer: Die Brexit-Entscheidung droht die Zentrifugalkräfte innerhalb des Vereinigten Königreichs zu verstärken und was London betrifft, womöglich sogar neue entstehen zu lassen. Hier Wales und England, ohne den Großbezirk London zusammen 49 Millionen Einwohnern  und dort Nordirland, Schottland und der Großbezirk Londons mit zusammen 15,4 Millionen.

Bei dem Satz „Binnenmarkt gleich vier Grundfreiheiten“ handelt es sich keineswegs um die abschließende Beschreibung europäischer Realitäten. Zwar gelten die vier Grundfreiheiten als Fundament des Binnenmarktes grundsätzlich uneingeschränkt für alle 28 EU-Mitgliedstaaten – aber eben nur „grundsätzlich“: Für eine Vielzahl von Territorien von Mitgliedstaaten der EU kommen EU-Normen (darunter die vier Grundfreiheiten) nicht nur ausnahmsweise oder nur eingeschränkt zur Anwendung. Alleine Deutschland, als Motor der europäischen Einigung und europäischer Musterknabe wohl über jeden Verdacht spalterischer Momente erhaben, verfügt über zwei Territorien, in denen EU-Recht nur teilweise gilt: Helgoland im hohen Norden und Büsingen im tiefen Süden. So unterliegen zum Beispiel Warenlieferungen aus dem baden-württembergischen Büsingen in die Landeshauptstadt Stuttgart grundsätzlich den EU-Einfuhrzöllen und der EU-Einfuhrumsatzsteuer.

Rechtliche Sonderverhältnisse

Im europäischen Vergleich steht Deutschland damit keineswegs alleine da und derartige rechtliche Sonderverhältnisse umfassen durchaus relevante Gebiete. Zu nennen sind dabei Dänemark mit den beiden Sonderfällen Färöer Inseln und Grönland, Finnland mit den Aland-Inseln, Frankreich mit einer ganzen Liste an überseeischen Territorien, darunter unter anderem Französisch-Guyana, Italien mit Campione d’Italia und Livigno, die Niederlande mit Aruba, Bonaire, Curacao, Saba, Sint Eustatius und Sint Marteen sowie Spanien mit Ceuta, Melilla und den Kanarischen Inseln.

Und die Briten? Die Liste der Sonderterritorien  ist schier endlos: Dazu gehören Akrotiri und Dekelia, Anguilla, Bermuda, das Britische Antarktis-Territorium, die Britischen Jungferninseln, das Britische Territorium im Indischen Ozean, die Falklandinseln, Gibraltar, Guernsey, Jersey und Alderney, die Isle of Man, die Cayman Islands, Montserrat, die Pitcairninseln, St. Helena, Ascension und Tristan da Cunha, Südgeorgien und die südlichen Sandwichinseln sowie den Turks- und Caicosinseln. Überall dort gilt EU-Recht nur eingeschränkt.

Inwiefern diese Territorien Teil der Krone oder Teil des Vereinigten Königreichs sind, ist insofern nicht von Bedeutung, als beispielsweise das Bundesverfassungsgericht (und mit diesem wohl auch die übrige EU) diese Nuancen britischen Rechts beiseite wischt, und sämtliche dieser Territorien dem Völkerrechtssubjekt und EU-Mitglied „Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Nordirland“ zuschreibt.

Schaut auf die Fülle von Zwischenrufen

Diese besondere britische Situation hat weder dem inneren Zusammenhalt des Landes noch der britischen Stellung in Europa je geschadet. Es ist also nicht nur Deutschland, sondern – und zwar in erheblich größerem Ausmaß – auch Großbritannien möglich, unterschiedliche rechtliche Regime, gerade auch was EU-Recht betrifft, im selben Staat zu vereinen, ohne dass dies innerstaatlich zu Zerwürfnissen geführt hätte oder innergemeinschaftlich auf Unverständnis gestoßen wäre.

Und würde man in dieser, je nach Territorium und Thema feinen Aquarellistik schichtweise differenzierter und nuancierter Anwendung einzelner, einiger oder aller EU-Normen weiterdenken, käme man wohl bald einmal zu dem Schluss, dass es gerade in der EU, zwischen „Schwarz“ und „Weiß“, zwischen „Out“ und „In“, eine schier unüberschaubare Fülle von Zwischenstufen gibt. Und genau diese Nuancen könnten als Ansatz für eine mögliche Lösung des Dilemmas dienen.

Hätte zum Beispiel nicht ganz Großbritannien für den EU-Austritt gestimmt, sondern lediglich die in der irischen See versteckte Isle of Man (deren Bevölkerung beim Brexit gar nicht stimmberechtigt war), dann käme wohl niemand auf die Idee, dass dadurch die Mitgliedschaft Großbritanniens in der EU insgesamt in Frage gestellt wäre; vielmehr hätte ein solches Votum  wohl lediglich die Warenverkehrsfreiheit, als die nach einem Anhang zum Beitrittsvertrag Großbritanniens einzige auf der Isle of Man anwendbare Grundfreiheit des EU-Rechts, sowie die darauf fußenden EU-Regeln beendet.

Theresa May und der Stein der Weisen

Wenn nun aber wie in Großbritannien  eine klare Trennung vorliegt, und wenn es den einen darum geht, Zuwanderung zu verhindern (was nur ohne EU-Mitgliedschaft gehen wird), und den anderen, die Vorteile der EU-Mitgliedschaft zu erhalten (was nur mit Zuwanderung gehen wird): warum nicht in der bewährten Kategorie „Andere Territorien – andere Anwendbarkeit von EU-Recht“ denken?  Nur weil der vorliegende Sachverhalt irgendwie größer erscheint, als die vielen kleinen Ausnahmen für die vielen zerstreuten EU-Territorien?

Für Großbritannien könnte das etwa heißen: Großbritannien bleibt – trotz des formalrechtlich ohnehin nicht bindenden Brexit-Votums – Mitglied der EU, und stellt dementsprechend auch kein Artikel-50-Austrittsgesuch. In weiterer Folge konstituiert sich, nach den entsprechenden Parlamenten von Schottland, Nordirland und Wales, nun endlich auch ein Parlament von England, und zwar ohne den Großbezirk London, das mit der London Assembly ohnehin bereits über ein Regionalparlament verfügt. Der Großbezirk London hätte damit, was ja auch seiner Größe und Wirtschaftskraft entspräche, einen Status auf Augenhöhe mit den übrigen vier Regionen Großbritanniens.

Daraufhin könnte dann jede dieser Regionen für sich entscheiden, ob sie den Status jener Territorien des Vereinigten Königreiches teilen möchte, in denen EU-Recht gar nicht oder nur teilweise anwendbar ist, oder jener Territorien, in denen EU-Recht vollumfänglich anzuwenden ist.

Menschen aus anderen EU-Mitgliedstaaten könnten sich dann entsprechend nur in jenen Territorien niederlassen, in denen die Grundfreiheiten gelten. Umgekehrt unterlägen Waren und Dienstleistungen, die zwischen Großbritannien und anderen EU-Mitgliedstaaten gehandelt würden, nur in jenem Umfang dem Binnenmarkt, als ihre Wertschöpfung eben in EU-Mitgliedsterritorien erfolgte. Um das mit geringem administrativen Aufwand zu bewerkstelligen, könnte ein definierter Teil der auf innerbritische, aber eben EU-grenzüberschreitend erbrachte Lieferungen und Leistungen verrechneten Umsatzsteuern vom Vorsteuerabzug ausgeschlossen werden und insofern als Zollersatz dienen.

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