Graue Wölfe in Wien - Warum werden die nicht verboten?

Ende Juni griffen die „Grauen Wölfe" in Wien Teilnehmer einer kurdischen Demo für Frauenrechte an. Die Kundgebung war zwar eine Provokation, doch die Gegenwehr überforderte sogar die Polizei. Seyran Ates über einen Konflikt, der sie 1984 fast das Leben gekostet hätte.

Ein Teilnehmer einer Erdogan-Demo zeigt den "Wolfsgruß" / dpa
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Autoreninfo

Seyran Ateş arbeitet als Anwältin und Publizistin. Sie ist Gründerin der liberalen Ibn Rushd-Goethe Moschee in Berlin.

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Ich denke, es ist immer wichtig, sich daran zu erinnern, dass wir als Bürger Europas, als Deutsche oder Österreicher, Freiheiten geerbt haben, mit denen weltweit nur sehr wenige im vergleichbaren Maße gesegnet sind. Das Recht auf Versammlung, die Redefreiheit und die Möglichkeit unsere Religion frei auszuüben wie wir es wollen. Sogar in Zeiten von COVID-19 sind Versammlungen weitgehend möglich, auch wenn das nicht immer gesundheitspolitisch ideal ist.

Dennoch ist dies politisch essenziell. All diese Rechte in Verbindung mit unseren demokratischen Grundwerten machen die EU zu einem Paradies, aber sehr oft schrecken wir vor Kritik zurück, sei es aus Bequemlichkeit oder aus politischer Apathie. Es ist jedoch die Kritik an unseren Politikern, unseren Institutionen und unserer Umgebung, die unsere Gesellschaft vorantreibt. Wir dürfen uns nicht scheuen, zu kritisieren und unsere Stimme zu erheben, wenn etwas schief geht, sonst ist dieser hart erkämpfte Platz, den wir unser Zuhause nennen, vielleicht schneller wieder weg, als es den Anschein hatte. 

Agitation gegen Frauen und Polizisten  

Das können wir derzeit in Wien beobachten. Es könnte aber genauso gut in Berlin oder in jeder anderen deutschen Stadt passieren. Die so genannten „Grauen Wölfe“, eine nationalistische türkische Gruppierung, agitierte und randalierte am vergangenen Wochenende sowohl gegen links-kurdische Demonstranten als auch gegen Frauen und Polizisten in Favoriten, einem Wiener Bezirk mit hohem Migrationsanteil. Filme auf Twitter zeigen junge Männer, die einen ganzen Stadtteil terrorisieren. Wien läuft offenbar Gefahr, eine ganze Generation junger Österreicher türkischer Abstammung an eine Gruppe zu verlieren, die als verlängerter Arm des türkischen Prösidenten Erdogan im Ausland agiert. 

Dieser mischte sich aus Ankara in den Konflikt ein, indem er das Vorgehen der Polizei gegen die Aktivisten der „Grauen Wölfe“ kritisierte und mehr Härte gegen pro-kurdische Demos forderte. Zusammenstöße, auch gewalttätige, zwischen türkischen Ultranationalisten und Kurden, die aus der Türkei gelenkt werden, sind uns in Österreich und Deutschland nicht fremd. Wer dieser Tage behauptet, dass der Einfluss aus der Türkei neu sei und nun untersucht werden müsse, ist verlogen.

Kurdische Demos in der Hochburg türkischer Nationalisten 

Den Ausschreitungen waren Kundgebungen feministischer und pro-kurdischer Gruppen unter dem Dach des „Bündnisses Antifaschistische Solidarität“ vorausgegangen. Ihre Teilnehmer wollten auf die zunehmende Zahl von Frauenmorden in der Türkei und in Österreich hinweisen. Auch solche Proteste und Demonstrationen sind nicht neu. Kurden und Feministinnen versuchen seit Jahrzehnten in Europa Gehör dafür zu finden, was in der Türkei und den Parallelgesellschaften in Deutschland und Österreich passiert.

Neu war, dass die Demonstration in einem Bezirk stattfand, den man als No-Go-Area für Kurden und Feministinnen bezeichnen könnte. Der Favorit gilt als Hochburg der türkischen Ultranationalisten. Dass sie ausgerechnet dort demonstrierten, darf man getrost als Provokation bezeichnen. Dass vollbesetzte Busse mit Gegendemonstranten bis aus Deutschland angereist sein sollen, zeigt, wie gut die „Grauen Wölfe“ organisiert sind. Nun sind solche Gegendemonstrationen von türkischen Ultranationalisten gegen kurdische und feministische Proteste auch nicht neu. Die Politik hat bisher aber gerne beide Augen zugedrückt und die rechte türkische Gewalt kleingeredet.

Der „Wolfsgruß“ und seine Folgen

Bis vor ungefähr zwei Jahren die österreichische Regierung sich entschlossen hat, politische Symbole der PKK zu verbieten. Im selben Atemzug war die Regierung gezwungen, den Wolfsgruß der „Grauen Wölfe“ zu verbieten. Nachdem auf der Demonstration die „Grauen Wölfe“ trotz Verbot den Wolfsgruß zeigten, muss die österreichische Politik nun handeln. 

Die Regierung stellte im Rahmen einer öffentlichen Erklärung des Innenministers Nehammer fest, dass es „null Toleranz gegenüber Gewalt gibt, egal von welcher Seite, und dass es absolut keinen Grund gibt, türkische Konflikte auf österreichischem Boden auszutragen“. Wenige Tage darauf wurde der Türkische Botschafter zu einem Gespräch geladen. Die Türkei erwiderte das Signal und bestellte den Österreichischen Botschafter ein. 

Von einem Grauen Wolf angeschossen  

Tatsache ist, dass wir uns in Österreich wie in Deutschland bereits mitten in einem Revierkampf befinden, den die Regierungen nicht beherrschen und über sie die Kontrolle verloren haben. Ich weiß, wovon ich rede. Ich bin 1984 in Berlin-Kreuzberg von einem Mann angeschossen worden, der mutmaßlich als Auftragskiller für die „Grauen Wölfe“ gearbeitet hat. Ich finanzierte mir mein Jurastudium damals als Beraterin für türkische und kurdische Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt geworden waren. Der Mann erschoss eine Besucherin während eines Beratungsgesprächs – und beinahe auch mich. Eine Kugel zerfetzte eine Arterie im Hals und blieb im Halswirbel stecken. Es ist ein Wunder, dass ich den Anschlag überlebt habe. 

Kreuzberg war in den achtziger Jahren Schauplatz für Revierkämpfen. Die „Grauen Wölfe“ kauften zum Beispiel reihenweise Immobilien auf und klagten kurdische Geschäftsleute heraus. Zwei Welten prallten aufeinander. Dort die überwiegend sunnitischen Nationalisten, die in ihrem Herzen immer noch Türken waren und denen zur Verteidigung ihrer Macht jedes Mittel recht war – auch Gewalt gegen Frauen. Dort die überwiegend alevitischen Kurden, die sich eher als Europäer sehen. 

Ideologie der Breitbandintoleranz 

Meiner Meinung nach haben wir den richtigen Moment verpasst, den „Grauen Wölfen" eine Grenze zu ziehen. Videos von den Ausschreitungen in Wien zeigen, wie die Jugendlichen demonstrativ die türkische Flagge hissen und den Wolfsgruß zeigen – und die Polizisten schauen einfach zu. Es kann jetzt bestenfalls noch um Schadensbegrenzung gehen. Immerhin besser spät als nie, oder? Fakt ist, dass das Ausmaß der ultranationalistischen „Grauen Wölfe“ mehr als nur beängstigend ist. Bei näherer Betrachtung ihrer weitläufigen Vernetzung und effektiven Organisationsstruktur wird das nur allzu deutlich. Alleine in der Türkischen Föderation in Österreich sind insgesamt 20 Vereine der „Grauen Wölfe“ mit schätzungsweise 2.000 Mitgliedern zusammengeschlossen.

Laut dem österreichischen Journalisten Thomas Rammerstorfer („Graue Wölfe – Türkische Rechtsextreme und ihr Einfluss in Deutschland und Österreich”) gibt es noch vier bis fünf Splittergruppen. Der Türkische Bund stellt zwei Kulturgemeinschaften – je zehn Vereine – in der Islamischen Gemeinschaft (IGGÖ). Diese Gruppen sprechen die Jugendlichen an, indem sie ihnen soziale Aktivitäten, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und eine religiös begründete Identität bieten. Mit anderen Worten: Es gelingt ihnen, die für Einfluss anfällige Jugend in eine ultranationalistische türkische Ideologie des Hasses, der Diskriminierung, der Breitbandintoleranz, des Sexismus und des Antisemitismus zu indoktrinieren. Das Schlimmste dabei – es passiert ganz einfach vor unseren Augen und ohne jegliche Gegenwehr durch die Regierungen. Sie flüstern den jungen Österreichern türkischen Ursprungs eine falsche Zugehörigkeit ein, um sie von den europäischen liberal-demokratischen Werten zu distanzieren. 

In den Fängen der Rechtsextremen 

Verstehen Sie mich nicht falsch, ich glaube, dass eines unserer wichtigsten Grundrechte in Europa die Fähigkeit ist, multikulturell, ethnisch und divers zu leben. Als Migrantenkind schätze ich meine Herkunft sehr, und ich glaube, dass die Suche nach Menschen ähnlicher Gesinnung ein natürliches Verhalten ist. Diese Suche sollte aber nicht in den Fängen einer ideologisch rechtsextremen Gruppe enden, die sich jedem Wert unserer europäischen Gesellschaft widersetzt. Wir sind eine Gesellschaft, die nach den in unseren Verfassungen verankerten Gesetzen in Frieden und gegenseitigem Verständnis zusammenlebt. Die Ideologie der Grauen Wölfe ist nicht darauf ausgerichtet, sich in die bestehenden rechtlichen oder gesellschaftlichen Strukturen zu integrieren.

Sie ist mit unseren Werten nicht vereinbar. Sie passt viel eher zu dem Slogan „deutsch werden, aber türkisch bleiben“. Die Absichten der „Grauen Wölfe“ sind mir mit solch einer Einstellung klar! Sie versuchen, eine Parallelgesellschaft aufrechtzuerhalten, deren Mitglieder die Vorteile ihrer Heimatländer genießen und ausnutzen, sich aber an der Verbreitung türkischer Propaganda beteiligen. Tatsächlich agieren sie wie ein gesellschaftlicher Fremdkörper unter der direkten Kontrolle des türkischen Staates. Man könnte es auch als eine Form von Gegenwehr bezeichnen. Die meisten Entscheidungen über ihre Aktivitäten und ihr öffentliches Engagement werden nicht in Europa getroffen, sondern von Ankara oder Istanbul aus delegiert. Ihre direkte Verbindung zur Regierungspartei AKP macht das nicht besser.

Die Grauen Wölfe, eine Kampfeinheit?

Die Grauen Wölfe, ob in Österreich oder Deutschland, sind aber teils schon mehr. Sie kommen einer Kampfeinheit gleich, die eine unvertretbare Ideologie repräsentieren und verbreiten sollen. Die Angriffe auf die friedlichen Demonstrationen im Favoriten Bezirk Wiens in der vergangenen Woche machen das abermals nur zu deutlich. Ich finde es ziemlich bezeichnend, dass es trotz breiter Kritik aus dem politischen Milieu weder eine Diskussion über den Ursprung des Problems gab, noch darüber, welche weiteren Maßnahmen erforderlich wären, um eine Lösung für die wiederkehrende Gewalt zu finden.

Erstaunlicherweise und wahrscheinlich als Folge der bereits angespannten diplomatischen Beziehungen hat es jedoch kein Politiker auch nur gewagt, laut über ein Verbot der Organisation nachzudenken. Dafür würde ich mich aussprechen. Vielleicht hat die Zurückhaltung der Politik in Österreich noch einen anderen Grund. Es gibt Indizien dafür, dass ihre Sympathisanten auch in den Parteien sitzen. Die Gruppierung ist unglaublich gut organisiert, und die Ausschreitungen gegen die Demonstrationen haben sogar gezeigt, dass sie bestens vernetzt sind.

Die Wahrheit ist, dass wir mehr Engagement zeigen müssen, diese offensichtlichen Integrationshemmnisse aus dem Weg zu räumen. Das geht nur, wenn wir derartige Vereine auflösen. Ändern werden sie sich nicht. Es ist an der Zeit, dass Politiker in Österreich und Deutschland sich ehrlicher machen sich der Realität stellen. Ihre passive Haltung gegenüber Erdogans Außenpolitik endet sonst in einem sozial-politischem Fiasko. Unsere Rechte sollten uns wichtiger sein.

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