„Gottes Geschenk“ - Wie der Putschversuch in der Türkei Erdogans Macht stärkt

Der Militärputsch in der Türkei wurde nicht etwa von Demokraten niedergerungen, sondern von zweifelhaften Unterstützern Erdoğans, von Islamisten und Faschisten. Der Staatspräsident ist nun mächtiger als je zuvor

Der türkische Präsident Reccep Tayyeb Erdogan spricht nach dem gescheiterten Putschversuch vor seiner Residenz in Istanbul zu seinen Unterstützern / picture alliance
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Kemal Hür ist Journalist und arbeitet als Radio- und Fernsehautor für den Deutschlandfunk.

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Die Türkei kennt sich aus mit Staatsstreichen. Dreimal hat in der Geschichte der türkischen Republik das Militär die jeweilige demokratisch gewählte Regierung gestürzt und die Macht an sich gerissen. Jeder Militärputsch warf die Demokratie und die Zivilgesellschaft um Jahre und Jahrzehnte zurück, brachte Tod und Folter mit sich. Ein Militärputsch ist ein Alptraum und Trauma zugleich für die Menschen in der Türkei.

Doch das, was in der Nacht von Freitag auf Samstag in der Türkei passierte, hatte nichts mit den drei Staatsstreichen zu tun. 1960, 1971 und 1980 wachte die Bevölkerung eines Morgens auf und fand den erfolgten Putsch vor. Die Regierung war abgesetzt, die Regierenden waren festgenommen. Das Land war unter militärischer Kontrolle. Es wurde im ganzen Land Kriegsrecht und Ausgangssperre verhängt.

Diesmal lief der Putsch, oder was dafür gehalten werden sollte, wie ein schlechter Film ab – live und in Farbe auf nahezu allen Fernsehsendern. Und er dauerte nur einige Stunden, nicht Jahrzehnte wie der dreifache Alptraum.

Ein paar Panzer blockierten zwei Bosporus-Brücken. Ein paar Jets flogen über Ankara und Istanbul. Die Zivilbevölkerung stellte sich den Putschisten in den Weg. Menschen stellten sich couragiert vor die Panzer. Auf den ersten Blick erschienen diese Bilder, die auch im Fernsehen übertragen wurden, wie ein mutiger Widerstand von Demokraten.

Kein Widerstand von Demokraten

Doch mit jeder Minute dieses schlechten Films verwandelten sich die Massen in Ungeheuer und Zombies, die bereit waren, Blut zu vergießen. Gegen Ende des versuchten Putsches taten sie es denn auch. Sie töteten Soldaten, pinkelten auf ihre Leichname, und ganz in Manier des barbarischen IS enthaupteten sie sogar einen Soldaten.

Es zeigte sich, dass es keine Menschen waren, die es überdrüssig waren, noch einen Putsch über sich ergehen zu lassen und die die Republik und die Demokratie verteidigten. Sondern es war derjenige Teil der Bevölkerung, von dem Recep Tayyip Erdoğan immer wieder sagte: „Wir halten die 50 Prozent nur mit Mühe zurück. Ein Wort, und sie sind bereit, auf die Straße zu gehen“. Nun sind sie auf die Straße gegangen – für ihren Führer. Erdoğan rief sie dazu auf. Er, der Oberbefehlshaber des Militärs, meldete sich per Facetime in einer Live-Sendung und rief die Bevölkerung dazu auf, sich gegen die Putschisten zu stellen. Diesen Appell riefen im ganzen Land auch Muezzine über die Lautsprecher der Minarette.

Erdoğans Gefolgschaft stürmte auf die Straßen. Erdoğan, der sonst Menschen, die für Demokratie demonstrierten, mit leichter Zunge als Terroristen und Gesindel bezeichnete, forderte nun selbst, dass Menschen auf die Straße gingen und die Demokratie oder das, was Erdoğan darunter versteht, gegen einen Teil des Militärs zu verteidigen. Sie folgten der Aufforderung. Sie folgten ihr mit lauthals skandierten Allahu-Akbar-Rufen und streckten ihre Zeigefinger gen Himmel als Zeichen der Islamisten. Andere formten ihre Hände zu einem Wolfskopf zum Gruß der faschistischen Grauen Wölfe. Islamisten und Faschisten als Garanten der Demokratie? Wohl kaum.

Putschversuch sicherte Erdoğans Macht

Dieser Putschversuch, von wem und warum auch immer er organisiert wurde, hat ein klares Ergebnis gebracht: Er verhalf Erdoğan zur Verfestigung seiner Macht und zur Stärkung des Selbstbewusstseins seiner islamistischen Anhänger.

Die demokratischen Kräfte in der Türkei erlebten in dieser Nacht des gescheiterten, oder wie einige sagen: (von wem auch immer) inszenierten Putschversuchs ein Déjà-vu: Es war das Jahr 1998. Erdoğan war Oberbürgermeister von Istanbul. Auf einer Veranstaltung rezitierte er aus einem Gedicht die folgenden Verse: „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“

Für das öffentliche Rezitieren dieser Verse wurde Erdoğan von einem Staatssicherheitsgericht zu zehn Monaten Haft und lebenslangem Politikverbot verurteilt. Er kam aber nach vier Monaten frei und schaffte es bekanntlich bis zum ersten vom Volk gewählten Staatspräsidenten.

Sein nächstes Ziel ist, die Türkei zu einem Präsidialsystem umzuformen und als mit aller Macht ausgestatteter Präsident das Land mindestens bis zum Jahr 2023, dem 100. Jahr der Republiksgründung, allein zu regieren. Erdoğan ist insofern ein Konterrevolutionär, der nach und nach die säkulare Türkei, die Republiksgründer Atatürk aufgebaut hatte, in ein re-islamisiertes Land zurückführen möchte. Er hat dafür die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich; denn er bindet sie durch zwei Argumente an sich.

Seine Waffe ist die Religion

Erstens er kommt aus einfachen Verhältnissen und gibt sich als Kämpfer des Volkes, das von der herrschenden Elite seit der Gründung der Republik stets verachtet und diskriminiert wurde.

Seine zweite und vielleicht stärkere Waffe ist die Religion. Atatürk hat nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches das Kalifat abgeschafft und Staat und Religion nach dem Vorbild Frankreichs laizistisch voneinander getrennt. Die muslimische Bevölkerung hasst Atatürk dafür. Erdoğan weicht den Laizismus mehr und mehr auf und gibt den Menschen das Gefühl, ihnen zu ihren Bürgerrechten zu verhelfen. So durften Frauen mit Kopftuch nicht studieren oder im Staatsdienst arbeiten. Diese Verbote gelten nicht mehr.

Die große Unterstützung, die Erdoğan in der Bevölkerung seit 13 Jahren genießt, entfernte ihn aber immer mehr von der Realität. Er fühlt sich seiner Macht so sicher, dass er das Land autokratisch regiert. Er setzte die Gewaltenteilung de facto nahezu außer Kraft, schränkte die Meinungs- und Pressefreiheit bis auf ein Minimum ein, machte jede Opposition mundtot. Ohne dass er seinen Traum von einem Präsidialsystem verwirklicht hat, regiert er das Land allein und setzt sich damit über die Verfassung.

Säuberungsaktionen werden sich ausweiten

Diese alleinige Regierungsmacht, die er für sich bereits in Anspruch nimmt, wurde durch den Putschversuch unerschütterlich verfestigt. Er ließ bereits einen halben Tag später mehr als 2700 Richter vom Amt entfernen und 3000 Militärangehörige festnehmen. Es besteht der Verdacht, dass diese Personen bereits vor dem Putschversuch auf einer schwarzen Liste von unliebsamen Erdoğan-Gegnern standen. Erdoğan nannte den verunglückten Staatsstreich ein „Geschenk Gottes“, damit er das Militär säubern könne. Diese Säuberungsaktionen werden sich aber nicht nur auf das Militär und den Justizapparat beschränken. Erdoğan wird nun jeden Kritiker als Putschisten von seinem Amt entfernen lassen; sei es ein General, ein Politiker, ein Journalist oder ein Lehrer.

Und es wird auch auf den Straßen ähnlich vorgegangen werden. Erdoğans Gefolgsleute werden sich legitimiert fühlen, Frauen, die keine Kopftücher tragen, zurechtzuweisen, Menschen, die Alkohol trinken, als Ungläubige zu verprügeln.

Und trotz dieser Horrorszenarien, die sich bereits abzeichnen, bleibt eines festzuhalten: Nichts legitimiert das Militär oder Teile davon, eine demokratisch gewählte Regierung durch einen Putsch zu stürzen, nicht einmal einen Erdoğan, der ohne verfassungsrechtlichen Auftrag die Türkei allein regiert. Die Türkei ist schon lange kein demokratischer Staat mehr, weil Erdoğan es geschafft hat, die demokratische Grundordnung aus ihren Fundamenten zu heben. Aber die Bevölkerung muss aus sich heraus die Kraft entwickeln, eine Zivilgesellschaft zu formen – mit demokratischen Mitteln, auch wenn es im Moment nach einer Utopie klingt.

Das Militär gehört in die Kasernen, nicht ins Parlament.

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