Gipfeltreffen - Die Nato neu denken

Das neue strategische Konzept der Nato bietet die Möglichkeit, Deutschlands nukleare Teilhabe zu überdenken. Drei Vorschläge, was stattdessen dem heutigen Ratstreffen der Nato-Regierungschefs in Brüssel folgen sollte. Ein Gastbeitrag von Rafael Loss.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg im Nato-Hauptquartier in Brüssel Foto: Francisco Seco/dpa
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Auf ihrem heutigen Ratstreffen wollen die Nato-Regierungschefs den Startschuss für ein neues strategisches Konzept geben. Ein solches Dokument beschrieb zuletzt 2010, also noch vor Russlands Annexion der Krim und Invasion der Ukraine, das politische und militärische Selbstverständnis der Allianz und ihre Ausrichtung für die nähere Zukunft.

Gleichzeitig werden im anlaufenden Bundestagswahlkampf Forderungen laut, die nuklearwaffenfähigen Tornado-Jagdbomber der Luftwaffe einzumotten, Deutschlands Beitrag zur nuklearen Teilhabe der Nato auf politische Konsultationen zu beschränken und insgesamt die Rolle der nuklearen Abschreckung in der Allianz zu reduzieren. Ein Prozess, den die nächste Bundesregierung anstoßen und in die Nato-Planungen einbringen könnte.

In die Jahre gekommene Tornado-Jagdbomber

Die nukleare Teilhabe der Nato sieht vor, dass Kampfflugzeuge europäischer Alliierter im Einsatzfall US-amerikanische Nuklearwaffen ins Ziel bringen. Neben Belgien, Italien und den Niederlanden beteiligt sich Deutschland mit seinen in die Jahre gekommenen Tornado-Jagdbombern.

Die anstehende Ausmusterung der alten Tornados, sagen Kritiker der nuklearen Teilhabe, sei die ideale Gelegenheit, das Arrangement zu überdenken, die verbliebenen etwa zwei Dutzend US-Nuklearwaffen aus Deutschland abzuziehen und in Zukunft kein Kampflugzeug für solche Missionen mehr bereitzustellen.

Einseitige Abrüstung wird gepredigt

Was allerdings in der Regel fehlt, sind konkrete Vorschläge, um das Abschreckungs- und Verteidigungspotenzial der Nato auch ohne nukleare Teilhabe zu gewährleisten. Stattdessen wird einseitige Abrüstung gepredigt, als ob 2014 die Verschiebung europäischer Grenzen mit militärischer Gewalt im Schatten des russischen Nuklearpotenzials nie stattgefunden hätte.

Ohne die in Europa stationierten US-Nuklearwaffen ginge es nicht mehr darum, einen Angriff oder begrenzten nuklearen Erstschlag abzuschrecken mit der Drohung, einen solchen zu vergelten. Das Bündnis und folglich auch die Bundeswehr müssten sich stattdessen so aufstellen, dass potenziellen Aggressoren klar ist, dass ein Angriff, egal mit welchen Mitteln, in jedem Fall abgewehrt würde und Erfolg verwehrt bliebe.

Beschaffung von Mittelstreckenraketen forcieren

Hieraus ergäben sich aber maßgeblich andere Anforderungen an die Nato-Armeen. Es würde sich auch die Frage stellen, ob solch eine Aufstellung im Rahmen der Nato-Russland-Grundakte zu bewerkstelligen wäre. Wollte die nächste Bundesregierung einen solchen Vorstoß wagen, sollte sie im Bündnis die Beschaffung von Mittelstreckenraketen forcieren.

Ein solcher Schritt wird in Nato-Kreisen bereits seit 2019 als Antwort auf Russlands Verletzung des Intermediate Range Nuclear Forces Treaty (INF)-Rüstungskontrollabkommens diskutiert. Mittelstreckenraketen würden es erlauben, feindliche Luftverteidigungssysteme gezielt unter Feuer zu nehmen, um der Nato im Konfliktfall rasch die Luftüberlegenheit und den Bodenkräften der östlichen Alliierten die Verstärkung zu sichern. Nuklearfähige Varianten, wie sie in Russlands Arsenal zu finden sind, bedarf es dabei aber nicht – konventionelle Raketen würden die Fähigkeitslücke der Nato zur Genüge füllen.

Raketenabwehr braucht Auffrischung

Gleichsam braucht die Flug- und Raketenabwehr der Bundeswehr dringend eine Auffrischung. Zuletzt entschied sich das Verteidigungsministerium gegen die Beschaffung des sogenannten taktischen Luftverteidigungssystems. Stattdessen sollen die alten Patriot-Systeme der Bundeswehr modernisiert und ein neues System zur Abwehr von Drohnen entwickelt werden. In Anbetracht des Krieges um Bergkarabach im Herbst vorigen Jahres und der Erfolge, die aserbaidschanische Drohnen dabei gegen armenische Truppen erzielten, scheint dies folgerichtig.

In einem Konflikt mit Russland jedoch kämen nicht nur Drohnen zum Einsatz. Vielmehr würden verschiedenste Waffensysteme, darunter auch nuklearfähige Marschflugkörper und moderne Hyperschall-Raketen, parallel eingesetzt, um die Abwehrsysteme der Nato zu überwinden und Ziele auch weit hinter der Frontlinie anzugreifen.

Truppen müssen aufgestockt werden

Zuletzt müssten ebenfalls die Truppen, die seit 2017 die verstärkte Vornepräsenz des Bündnisses im Baltikum und Polen bilden, weiter aufgestockt werden, auch um nach einem Einsatz von Nuklearwaffen weiterhin effektiv operieren zu können. Das Ziel wäre es, russische Hoffnungen zu zerstreuen, dass ein schneller Vorstoß, flankiert mit der Drohung oder gar dem Einsatz begrenzter Nuklearschläge, die Nato vor vollendete Tatsachen stellen würde, auf die das Bündnis nur unter hohen Verlusten reagieren könnte.

Um die Nato-Russland-Grundakte zu bewahren, verzichtet das Bündnis bislang darauf, substanzielle Kampftruppen dauerhaft in die Region zu verlegen. Bei wachsender Größe und Robustheit der Kontingente wäre das bisherige Rotationsverfahren aber zunehmend unpraktikabel.

Bundeswehr muss reagieren können

Das neue strategische Konzept, das über die nächsten zwölf Monate erarbeitet und dann 2022 verabschiedet werden soll, bietet die Gelegenheit, die Ausrichtung der Nato bis 2030 neu zu denken. Es ist also allerhöchste Zeit, dass Deutschlands Sicherheits- und Verteidigungspolitiker konkrete Vorschläge liefern, wie sie die Bundeswehr aufstellen wollen, damit diese effektiv auf zukünftige Bedrohungen reagieren kann – besonders, wenn sie in die nächste Bundesregierung streben und das Ende der nuklearen Teilhabe einleiten wollen.

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