Giftgas-Einsatz in Syrien - Die düstere Geschichte der Chemiewaffen

Der Einsatz von Chemiewaffen ist international verpönt, in Syrien scheinen Abkommen dagegen aber nicht mehr zu zählen. Die ersten, die das Tabu brachen, Gift als Kriegswaffe einzusetzen, waren die Deutschen im Ersten Weltkrieg. Viele gräuliche Einsätze folgten

Schnell hat man Giftgas so weit entwickelt, dass eine Gasmaske allein nicht vor den verheerenden Folgen schützen kann / picture alliance
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Julia Mirkin studiert Philosophie und Politikwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Sie arbeitet für Cicero Online.

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Hannah Fuchs studiert Philosophie an der Universität Wien. 

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Nach den Giftgas-Anschlägen in der syrischen Provinz Idlib haben die USA, Frankreich und Deutschland für heute eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates beantragt. Zwar verurteilen die teilnehmenden Länder den Angriff aufs Schärfste, ihr UN-Resolutionsentwurf sieht jedoch keine Sanktionen vor.

Sowohl EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini als auch US-Präsident Donald Trump machen den syrischen Diktator Baschar al-Assad für die Anschläge mit 72 Todesopfern verantwortlich. Assad lehnt hingegen alle Anschuldigungen ab. Auch Russland dementiert einen gezielten Angriff von Seiten des syrischen Regimes. Laut dem Ersten Generalmajor und Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow, handele es sich um eine syrische Luftwaffe, die in ein Munitionslager von Terroristen geflogen ist. Dieses Lager enthielt Chemiewaffen, welche in den Irak geliefert werden sollten.

Gabriel und Hollande sprechen von „Kriegsverbrechen”

Außenminister Sigmar Gabriel und der französische Präsident François Hollande bezeichneten den Angriff als „Kriegsverbrechen”. US-Außenminister Rex Tillerson sprach sich nach dem Vorfall für einen allgemeinen Waffenstillstand aus, der sowohl von Russland als auch dem Iran mitgetragen werden solle. Die Bilder von getöteten Kindern haben auch bei Trump „einen mächtigen Eindruck“ hinterlassen. „Diese abscheuliche Tat des Assad-Regimes kann nicht geduldet werden“, sagte er danach und änderte damit erneut seine Haltung im Syrienkrieg.

Chemiewaffen wurden in Syrien offiziell seit 2014 vernichtet. Das Land hat sich in Folge einer UN-Resolution sowie durch die Mitgliedschaft bei der Organisation für das Verbot von Chemischen Waffen (OPCW) gegen ihre Herstellung, ihren Besitz, ihre Weitergabe sowie ihre Verwendung verpflichtet.

Einsatz im Ersten Weltkrieg

Der Verdacht besteht, dass das Assad-Regime den Vertrag und damit erneut mit dem Tabu gebrochen hat, Gift als Kriegswaffe einzusetzen. Die ersten, die das taten, waren die Deutschen im Ersten Weltkrieg. Nahe der belgischen Stadt Ypern, am 22. April 1915, griffen deutsche Truppen erstmals neben den üblichen Maschinengewehren und Handgranaten zu dieser lautlosen Methode, die gegnerischen Soldaten außer Gefecht zu setzen: Chlorgas.

Aus 6000 Zylindern stiegen Schwaden auf, die der Wind auf die französischen Linien zutrieb. Wenig später fielen tote Vögel aus verdorrenden Büschen. Die gegnerischen Soldaten spürten zunächst nur ein Kratzen in der Nase, Tränen in den Augen. Doch dann liefen sie blau an, umklammerten ihre Kehle und rangen verzweifelt nach Luft. Eitriger Schaum schoss ihnen aus Mund und Nase, viele husteten so stark, dass ihnen die Lunge platzte.1.200 Soldaten erstickten grausam. Von der durchschlagenden Wirkung des Giftes waren Angreifer und Opfer wohl gleichermaßen überrascht.

Schnell wurde das Giftgas in die Standardausrüstung der Soldaten aufgenommen. In Folge dieser Einsätze kamen schätzungsweise 100.000 Soldaten ums Leben, 1,2 Millionen wurden verwundet.

Eindämmungsversuche und Rückschläge

Ein Versuch, die verheerenden Folgen solcher Angriffe einzudämmen, wurde mit der Unterzeichnung des Genfer Protokolls 1925 unternommen, welchem sich bis heute 140 Staaten angeschlossen haben. Frankreich, Japan, die USA und Deutschland gehörten zu den ersten, die das gemeinsame Abkommen unterzeichneten, mit dem der Einsatz von chemischen und biologischen Waffen im Krieg verboten wurde. Diese zu entwickeln, herzustellen und zu besitzen blieb jedoch weiterhin erlaubt.

In Deutschland forcierten die Nazis die Herstellung. Die Fabriken der I. G. Farben, der niederschlesischen Anorgana-Werke und der Chemiewerke Huels produzierten unter Aufsicht des Oberkommandos des Heeres vor und während des Zweiten Weltkriegs bis zu 12.000 Tonnen Giftgas jährlich. Bei Kriegsende wurden die Vorräte hastig verbuddelt oder versenkt; teilweise vermodern die Überreste noch heute in der Erde oder rosten in der Ostsee.

 „Agent Orange“ fordert sofortige und späte Opfer 

Doch auch andere Länder setzten trotz der Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg weiter chemische Waffen ein. Im Zweiten Weltkrieg und im Vietnamkrieg wurden sie massiv verwendet. Im letzteren versprühten die US- Truppen vor allem das berüchtigte, verunreinigte Entlaubungsmittel „Agent Orange“. Bis heute spürt man in der Region die Nachwirkungen der grausamen chemischen Kriegsangriffe: Leukämie, Prostatakrebs, Nervenleiden, Diabetis, Parkinson. Das sind nur einige Beispiele für die direkt verursachten Krankheiten, die die US-Armee durch den Einsatz des Pflanzengiftes zu verantworten hat. Doch gibt es auch späte Opfer zu beklagen: mindestens 150.000 Kinder kamen noch nachdem Abzug der amerikanischen Truppen aus dem Gebiet mit Behinderungen zur Welt. Während geschädigte ehemalige US-Soldaten nach gerichtlichen Auseinandersetzungen von den damaligen Herstellerfirmen finanziell entschädigt wurden, erhielten vietnamesische Opfer bis heute keine Entschädigung. Eine entsprechende Sammelklage in den USA wurde 2005 abgewiesen, da der Einsatz von Agent Orange „keine chemische Kriegsführung“ und deshalb kein Verstoß gegen internationales Recht gewesen sei

Erst nach Ende des Kalten Krieges verlangte eine internationale Chemiewaffenkonvention die Vernichtung aller bestehenden Arsenale. Zusätzlich wurde die OPCW eingesetzt, die die Einhaltung des Verbots überwacht.

Syrien tritt Verbot 2013 bei

2013 trat auch Syrien, unter gemeinsamem Druck seitens der USA und Russland, dieser internationalen C-Waffenverbotskonvention bei. Zuvor hatte es verheerende Chemiewaffenangriffe auf damals von Rebellen besetzte Vororte von Damaskus gegeben. Bis heute steht die genaue Zahl der Todesopfer nicht endgültig fest. Nach unabhängiger Prüfung fand die OPCW zahlreiche Indizien, die auf eine Beteiligung der Regierungsstreitkräfte hindeuten. Wer auch immer in Idlib Chemiewaffen eingesetzt hat, setzt eine grausame Tradition fort.

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