Frankreich - „ Die Linke protestiert für sich selbst “

Die heftigen Proteste der gelben Westen in Frankreich setzen Präsident Macron unter Druck. Der französische Gesellschaftsanalyst Christophe Guilluy sprach bereits Anfang 2018 über die innere Spaltung seines Landes und das mangelnde Problembewusstsein der Eliten

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„Mit einem Monatseinkommen von 1000 Euro stellt sich Multikulturalismus ganz anders dar, als wenn man 10.000 Euro verdient“ / arte.tv
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Björn Rosen arbeitet als freier Journalist in Berlin. Sein Schwerpunkt ist Ostasien, wohin er regelmäßig reist.

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Herr Guilluy, die Tageszeitung Figaro nennt Sie „den Mann, der alles vorausgesehen hat“ … 
… (lacht) Das ist wohl ein bisschen übertrieben.

Schon Anfang der 2000er-Jahre beschrieben Sie die Spaltung Ihres Landes: in ein neues urbanes Bürgertum und ein abgehängtes „peripheres Frankreich“. Letzterem verdankte der Front National in jüngster Zeit seinen Aufstieg. Erkennen Sie eine ähnliche Dynamik hinter dem Erfolg von Trump oder der AfD?
Ja. Es gibt deutliche Parallelen, weil alle westlichen Länder historisch die gleichen Vorzüge und nun die gleichen Probleme haben. Mit dem globalisierten Wirtschaftssystem kommt die Welt zu uns. Die einheimische Mittelschicht wird nicht länger gebraucht, um Wohlstand zu schaffen; dank der internationalen Arbeitsteilung übernehmen das Menschen in China oder Indien. Die Leute haben Probleme, einen Job zu finden, für sie gibt es keinen Platz mehr in der Gesellschaft. Angehörige dieser Schicht wurden aus den Metropolen verdrängt, wo die Gewinner der Globalisierung zu Hause sind. Man findet sie stattdessen auf dem Lande, in kleinen und mittelgroßen Städten. Der Populismus ist ein Symptom dieser Entwicklung. Für den Brexit hat das „periphere England“ gestimmt, für Geert Wilders das „periphere Holland“.

Deutschland steht wirtschaftlich hervorragend da, trotzdem sitzt die AfD im Bundestag.
Das Phänomen AfD ist tatsächlich komplexer. Andererseits: Deutschland hat eine niedrige Arbeitslosenquote, jedoch enorm viel prekäre Beschäftigung. Es ist die gleiche Spaltung.

Die populistischen Parteien wenden sich gegen Zuwanderung und den Islam. Geht es ihren Wählern nicht vorrangig um Fragen der Identität?
Die spielen natürlich eine Rolle. Die unteren Schichten trennen sich entlang ethnokultureller Linien. Wenn die Immigration aus dem Maghreb oder Subsahara-Afrika in einem Arbeiterviertel der französischen Städte ein bestimmtes Niveau erreicht, tendieren die Einheimischen dazu, das Quartier zu verlassen. Nicht unbedingt aus Rassismus, sondern weil niemand gern Minderheit ist. Denn als solche ist man auf das Wohlwollen der Mehrheit angewiesen. Die anderen haben eigene Gebräuche und Codes; zwar kann das Zusammenleben trotzdem funktionieren, aber man weiß eben nie. Die unteren Schichten sind viel stärker von den Auswirkungen der Zuwanderung betroffen: Sie konkurrieren um günstigen Wohnraum, und sie können ihre Kinder nicht auf eine Privatschule schicken. Mit einem Monatseinkommen von 1000 Euro stellt sich Multikulturalismus ganz anders dar, als wenn man 10.000 Euro verdient.

Frankreich ist nach rechts gerückt. Auch im Bürgertum gibt es doch viele einwanderungskritische Stimmen.
Ich glaube, am Ende geht es primär um Geld. In Paris haben Sie im Osten die Bobos, die bourgeoise Boheme, und im Westen das alte, katholische Bürgertum, das vorgibt, traditionelle Werte zu verteidigen. Bei der Präsidentschaftswahl stimmte die linke Bourgeoisie schon im ersten Wahlgang für Emmanuel Macron, mancher auch für weiter links. Das rechte Bürgertum wählte François Fillon, den Kandidaten der Republikaner. Im zweiten Wahlgang konnten sich all diese Leute ganz selbstverständlich auf Macron einigen, statt zum Beispiel in großer Zahl ungültige Stimmen abzugeben oder der Wahl fernzubleiben. Beide Gruppen besitzen Immobilien in der Stadt, sie haben einen Status in der Gesellschaft und gemeinsame Interessen zu verteidigen.

Die Beliebtheitswerte des Präsidenten sind ein halbes Jahr nach Amtsantritt miserabel. War der Aufbruch, den er zu verkörpern schien, eine Chimäre?
Vergessen Sie nicht, dass er relativ wenige Stimmen erhalten hat. Man redet immer über seine Jugend. Aber gewählt haben ihn neben den oberen Schichten vor allem die Alten, denen die Globalisierung nichts mehr anhaben kann.

Macron zitiert Sie in seinem Buch „Revolution“. Und er hat sich vor längerer Zeit, wie schon seine Vorgänger François Hollande und Nicolas Sarkozy, mit Ihnen getroffen. Wie lief das Gespräch?
Interessanterweise hat er meine Dia­g­nose nicht infrage gestellt. Er meinte, es sei schwierig für die Technokratie, die sich ja aus den Elite-Unis rekrutiert, einem Gebiet wie dem peripheren Frankreich Priorität einzuräumen, das wirtschaftlich kein Gewicht hat. Die Macht liegt heute nicht mehr bei der Politik, sondern bei den internationalen Konzernen und den supranationalen Instanzen. Macron besitzt genauso wenig Spielraum wie Hollande und Sarkozy. Er wird versuchen, Frankreich an die Normen der Globalisierung anzupassen. Nach dem Motto: Wenn der Kommunismus nicht funktioniert, braucht es mehr Kommunismus, und wenn die Globalisierung die Gesellschaft spaltet, braucht es mehr Globalisierung! (lacht)

Sie wollen die Uhr zurückdrehen?
Nein, die Globalisierung und die multikulturelle Gesellschaft sind Tatsachen, darüber braucht man nicht zu diskutieren. Ich habe Macron auch erklärt, dass ich nichts gegen globalisierte Metropolen habe, in denen werden schließlich zwei Drittel unseres Wohlstands erwirtschaftet. Es geht eher um ein Komplementär- als ein Alternativmodell, etwa die Verlagerung von Industrien oder um Hochschulen in der Peripherie, denn ein bezahlbares Zimmer in Paris zu finden, ist für Studenten von außerhalb heute fast unmöglich. Es geht darum, dass die Eliten überhaupt mal ein Bewusstsein für die Probleme entwickeln.

Wie erklären Sie sich, dass die Proteste gegen Macrons Arbeitsmarktreform weniger stark ausgefallen sind als erwartet?
Abgesehen davon, dass es sich vielleicht überlebt hat, auf die Straße zu gehen und Fahnen zu schwenken, um gegen etwas zu protestieren: Diese Demos à la française repräsentieren immer weniger die Gesellschaft. Mit deren wirklichen sozialen und kulturellen Spannungen haben sie nichts mehr zu tun. Nehmen Sie die Nuit debout …

Eine soziale Bewegung, die 2016 unter anderem die Place de la République belagerte – aus Widerstand gegen geplante Änderungen des Arbeitsrechts.
Ich habe mir das genauer angeschaut. Solche Veranstaltungen sind sozial sehr homogen. Wenn Sie im Zentrum von Paris eine Demonstration abhalten, kommen Angestellte im Staatsdienst, die Intelligenzija der Universitäten, Studenten. Die Immigrantenkinder aus den Vorstädten haben überhaupt keine Verbindung zu dieser Protestkultur, die als französisches Erbe gilt. Und die kleinen Leute in der Peripherie sind, wenn sie denn interessiert wären, sowieso zu weit weg. Es ist sehr lustig, dass die extreme Linke davon träumt, erneut die Bastille zu stürmen – die Soziologie der Städte gibt das gar nicht her. Ich glaube, die protestieren vor allem für sich selbst.

Ihr Vorwurf lautet grundsätzlich: Die Bewohner der Metropolen sehen sich gern als sozial und offen, tatsächlich leben sie in Wohlstandsfestungen.
Das gilt für Paris wie für New York oder Mailand. Überall, wo sich die Macht der Wirtschaft, der Medien, der intellektuellen Klasse konzentriert. Ich spreche von Zitadellen, für mich handelt es sich um eine Rückkehr ins Mittelalter. Der Kontakt zum Rest des Landes und damit zu den einheimischen unteren Schichten geht verloren. Statt um wirkliche soziale Probleme, etwa die immens gestiegenen Mieten, kümmert man sich lieber um Luxusprojekte wie ein Leihfahrradsystem. Es gab diesen gemeinsamen Artikel von Sadiq Khan, dem Bürgermeister von London, und seiner Pariser Amtskollegin Anne Hidalgo. Darin haben die beiden indirekt die Unabhängigkeit ihrer Städte ins Spiel gebracht. Weil sie in Zeiten von Brexit und Front National untereinander mehr verbindet als mit dem Rest ihrer eigenen Länder.

Der Antirassismus sei eine Art Statussymbol der oberen Schichten, behaupten Sie. Die Banlieues, die von Migration geprägten Vorstädte, bekämen zu viel Aufmerksamkeit. Denn die Situation dort sei oft besser als in der Peripherie.
Ja, zum Beispiel, weil man in der Banlieue näher an den wirtschaftlich dynamischen Zentren ist, an Bildungseinrichtungen und Jobs.

Manche werfen Ihnen wegen solcher Thesen vor, „dem Front National in die Hände zu spielen“.
Da ich von links komme, hat mich das anfangs sehr irritiert. Irgendwann versteht man, dass es sich um eine Technik handelt, die Leute zum Schweigen zu bringen. Für mich zählt nur, ob etwas falsch oder richtig ist. Schlimm finde ich die Entwicklung an den französischen Universitäten, wo es nur noch darum geht, sich besonders moralisch zu geben. Ich glaube, ich bin näher an der Realität. Mir schreiben Studenten: Mein Professor mag Sie nicht, aber ich zitiere Sie trotzdem.

Sie sind selbst in Paris aufgewachsen – wo genau?
In Belleville-Ménilmontant, dort lebe ich bis heute. Wie die meisten multikulturellen Viertel war es einst ein Arbeiterquartier. In meiner Kindheit und Jugend gab es schon ziemlich viele italienische und portugiesische Migranten, später kamen algerische Juden und Muslime. Der große Unterschied ist, dass die Religion früher nicht nach außen getragen wurde. Es hat lange gedauert, bis ich jemanden mit einer Kippa sah. Und meine maghrebinischen Freunde wussten damals nicht mal, wann Ramadan ist. Die Rückbesinnung auf die Religion und das Zugehörigkeitsgefühl zu einer bestimmten Community begannen erst in den neunziger Jahren.

Als das Land Abschied nahm von seinem klassischen Modell der Assimilation?
Ja. Früher wurde der andere, also der Einwanderer, wie man selbst. Jetzt, wo das nicht mehr der Fall ist, stellen sich die Leute die Frage: Wie viele der „anderen“ gibt es in meinem Gebäude, meinem Viertel, meiner Stadt? Die Franzosen dachten, sie besäßen das beste Integrationsmodell. Inzwischen sind wir eine amerikanische Gesellschaft geworden wie jede andere auch.

Warum hört man von Ihnen nichts zum Thema Islamismus?
Das ist ein Problem, das die Muslime selber lösen müssen. Zu glauben, wir könnten extremistische Strömungen stoppen oder gleich den Islam säkularisieren, das ist der alte französische Überlegenheitskomplex. Da müssen wir bescheiden sein.

Herr Guilluy, sehen Sie wie andere französische Intellektuelle die Gefahr einer „Wiederkehr der dreißiger Jahre“, mit Extremisten von links und vor allem von rechts?
Mit dieser Analogie macht man es sich zu einfach. Dann würde es genügen, Antifaschist zu sein, und gut. Doch es handelt sich um eine ganz andere Entwicklung.

Wirklich? Die politischen Ränder erstarken, während die Volksparteien im Niedergang begriffen sind. Frankreichs Sozialistische Partei ist klinisch tot, CDU und SPD haben bei der Bundestagswahl historisch schlechte Ergebnisse erzielt.
All diese Parteien folgen derselben Logik. Ihr Erfolg basierte auf der Verankerung in der breiten Mittelschicht. Mit deren Verschwinden verlieren die natürlich ihre Wähler. Meine These ist, dass wir keine Gesellschaft mehr haben, dass wir in einer Nichtgesellschaft leben. Unter- und Mittelschichten haben sich völlig losgesagt von den Eliten. Wenn sie nicht für die Populisten stimmen, gehen sie mehrheitlich gar nicht erst wählen. Letzteres verbindet übrigens die Autochthonen und die Franzosen mit Migrationshintergrund. Die neue Bourgeoisie lebt in ihrer kleinen Welt, die Immigranten leben in ihrer kleinen Welt, das periphere Frankreich lebt in seiner kleinen Welt. Der Front National ist heute proletarischer, als es die Kommunistische Partei selbst in den sechziger Jahren war.

Die Kommunisten zogen viele Intellektuel­le an. Die sucht man beim Front National vergeblich.
Genau, ein Indikator für das größere Problem. Denn eine Gesellschaft braucht die Verbindung von oben und unten.

In Frankreich diskutiert man gerade darüber, dass Politiker von ganz links statt bei Arbeitern gezielt bei Muslimen punkten wollen, etwa mit Kritik an Israel.
Linke Parteien signalisieren den Migranten auch gerne: Vorsicht, es droht Gefahr von rechts, wenn ihr nicht uns wählt, kommen die an die Macht und schmeißen euch aus dem Land! Außerdem werden sie vermutlich stärker gewählt, weil sie großzügiger bei Sozialleistungen sind. Diese Verbindung ist oberflächlich und wird nur so lange halten, bis es mehr präsentable Vertreter der muslimischen Community gibt. Was die Werte angeht, sind die Muslime Lichtjahre entfernt von den Linken. Das zeigt sich bei Themen wie der Homo-Ehe und beim Widerstand an einigen Schulen gegen die Gendertheorie. Hinter vorgehaltener Hand sagen einem übrigens auch linke Bürgermeister in den Vorstädten, dass wir einen Migrationsstopp brauchen.

Den würden Sie begrüßen?
Ja, und es sollte kein Skandal sein, einen solchen zu fordern. Er würde zur Befriedung der Gesellschaft beitragen. Die unteren Schichten wollen bewahren, was sie an sozialem und kulturellem Kapital besitzen. Sie suchen Stabilität. Die Entscheidung von Kanzlerin Merkel, ohne Abstimmung eine Million Menschen ins Land zu lassen, war insofern ein Akt enormer Brutalität. Mit einem Stopp könnte man den Mittel- und Unterschichten vermitteln: Wir haben eine multikulturelle Gesellschaft, und auch wenn das nicht immer einfach ist, könnt ihr doch davon ausgehen, dass sich eure Viertel, eure Städte in den nächsten 20, 30 Jahren nicht massiv verändern werden.

Ein heikles Versprechen, selbst ohne Einwanderung.
Jedenfalls glaube ich, dass die Zukunft unserer Gesellschaft von der Fähigkeit der Politik abhängt, auf die Bedürfnisse der Unter- und Mittelschicht einzugehen. Dafür müssen die Eliten aufhören, die Realität zu verleugnen und jede Meinung, die ihnen nicht passt, mit einem moralischen Diskurs abzuwürgen.

Dieser Text stammt aus der Januar-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhalten.

 

 

 

 

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