Flugzeugentführung in Belarus - Riskantes Manöver

Weißrusslands Regierung zwingt eine Ryanair-Maschine zur Landung und entführt einen regimekritischen Journalisten: Dieser an Staatsterrorismus grenzende Vorfall wird für den weißrussischen Diktator Lukaschenko nicht folgenlos bleiben. Auch für Moskau ist die Angelegenheit heikel.

Eine Sicherheitskraft inspiziert mit einem Spürhund am Sonntag das Gepäck des Ryanair-Flugzeugs in Minsk / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Ekaterina Zolotova ist Analystin für Russland und Zentralasien beim amerikanischen Thinktank Geopolitical Futures.

So erreichen Sie Ekaterina Zolotova:

Anzeige

Die Folgen der Umleitung eines kommerziellen Passagierflugzeugs durch Weißrussland am Wochenende sind noch nicht ausgestanden. Der Vorfall ereignete sich am Sonntag, als die belarussischen Behörden eine Ryanair-Maschine auf dem Weg nach Litauen zur Landung in Minsk zwangen, angeblich wegen einer Bombendrohung. Nach der Landung verhafteten sie den oppositionellen Journalisten Roman Protasewitsch, den Gründer eines Kanals namens Nexta in der Messaging-App Telegram.

Nexta hatte im vergangenen Jahr über die Massenproteste gegen den belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko berichtet, der persönlich das Startverbot für das Flugzeug angeordnet hatte. Details über den Auslöser des Vorfalls sind nicht bekannt. Wichtiger ist jedoch, wie sich das Ereignis auf die Beziehungen Europas zu Weißrussland und dessen wichtigstem Verbündeten, Russland, auswirken wird.

Es wurde eine Reihe von Theorien darüber aufgestellt, was genau passiert ist und warum. In Ermangelung einer Untersuchung lassen sich zwei mögliche Erklärungen anführen. Erstens könnte Lukaschenko die Verhaftung des Journalisten gewollt haben, um zu versuchen, die Opposition unter Druck zu setzen, die sowohl in der belarussischen Öffentlichkeit als auch bei ausländischen Mächten wachsenden Rückhalt genießt. Sollte dies der Grund für die Verhaftung sein, würde dies darauf hindeuten, dass Lukaschenko glaubt, seine Position und die seiner Regierung werde schwächer, insbesondere seit den Protesten nach den umstrittenen Wahlen im vorigen August.

Verärgerter Westen

Die Bedrohung durch Protasewitsch muss für Lukaschenko ernst genug gewesen sein, um zu riskieren, den Westen zu verärgern, indem er einen Kampfjet losschickt, um die Landung einer Verkehrsmaschine mitten im Flug zu erzwingen. Diese Erklärung scheint jedoch nicht ausreichend zu sein. Die Bedrohung für den Präsidenten nach den Protesten im letzten Jahr scheint mittlerweile genug unter Kontrolle zu sein, um einen solch drastischen Schritt nicht zu riskieren. Lukaschenko ist weiterhin an der Macht, und die jüngsten Demonstrationen fielen kleiner als jene, die auf die Wahl folgten. Außerdem wurden strenge neue Einschränkungen für die Medienberichterstattung verhängt, und viele Oppositionelle verließen entweder das Land oder wurden inhaftiert.

Eine zweite mögliche Erklärung ist, dass Minsk tatsächlich glaubte, dass sich eine Bombe an Bord des Flugzeugs befand. Der Leiter der Luftfahrtabteilung des weißrussischen Verkehrsministeriums sagte, dass nicht identifizierte Personen, die sich als Hamas-Kämpfer bezeichneten, am Vortag gedroht hätten, das Flugzeug in die Luft zu sprengen, und ein Ende der israelischen Aggression in Gaza gefordert hätten.

Der CEO von Ryanair wiederum äußerte, dass die Taschen der Passagiere nach der Landung des Flugzeugs durchsucht worden seien – obwohl ein Passagier zu Protokoll gab, die Behörden hätten sich nicht bemüht, die Passagiere zum Verlassen der Maschine zu bewegen und bei der Durchsuchung der Fluggäste und ihrer Taschen auch keine Sorge gezeigt, dass eine Explosion bevorstehen könnte.

Wie auch immer, der Vorfall hat Minsk unter erheblichen Druck gesetzt, der nun zu neuen Protesten und Forderungen nach Lukaschenkos Absetzung und Neuwahlen führen könnte. All diese Möglichkeiten dürften den Präsidenten nur weiter isolieren.

Viele Länder in Europa (und darüber hinaus) haben die Verhaftung von Protasewitsch und die erzwungene Landung des Flugzeugs verurteilt. Großbritannien untersagte Flüge der staatlichen belarussischen Fluggesellschaft Belavia. Und Litauen verbot allen Flugzeugen aus Weißrussland die Landung auf seinen Flughäfen.

Luftraum über Belarus gesperrt

Die EU-Mitglieder beschlossen während eines Gipfeltreffens am Montag, weißrussischen Flugzeugen den Flugverkehr in den Europäische Union zu verbieten und forderten europäische Fluggesellschaften auf, den weißrussischen Luftraum nicht zu durchqueren. Die Lufthansa, die lettische Air Baltic, die ungarische Wizz Air, die polnische LOT, die niederländische KLM und die schwedische SAS kündigten alle an, dass ihre Flugzeuge Weißrussland nicht überfliegen werden.

Diese Maßnahmen wiegen besonders schwer während einer Pandemie, die die Luftfahrtindustrie ernsthaft unter Druck gesetzt hat. Jetzt, wo die Abriegelungsmaßnahmen allmählich nachlassen, könnte eine starke Einschränkung der Flüge von und nach Europa die Erholung der belarussischen Fluggesellschaften und der belarussischen Wirtschaft im Allgemeinen beeinträchtigen. Belavia plant aufgrund der europäischen Gegenreaktion, sein Personal zu reduzieren – einigen Quellen zufolge um bis zu 50 Prozent.

Moskau hat mitgeteilt, dass es sich nicht in eine Angelegenheit einmischen will, die hauptsächlich zwischen Weißrussland und Europa ausgetragen wird; wahrscheinlich versucht der Kreml, so lange abzuwarten, bis sich abzeichnet, welche Auswirkungen das Ganze haben wird. Russlands Staatsführung hat diese Strategie des Abwartens schon früher angewendet (auch während der Proteste gegen Lukaschenko im vorigen Jahr), obwohl man immer noch reagieren könnte, wenn die Notwendigkeit besteht.

Gerüchten zufolge wird sich Lukaschenko am Freitag mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in Sotschi treffen. Die beiden Staatsoberhäupter werden wahrscheinlich besprechen, wie sich der Ryanair-Vorfall auf den Verkehr zwischen den beiden Ländern auswirken könnte – besonders wenn man bedenkt, dass Weißrussland ein wichtiger Korridor für den Verkehr zwischen Russland und Europa war. Russland könnte nun zu einem Korridor für Reisen zwischen Weißrussland und Europa werden, vor allem, wenn sich die Sommersaison beginnt.

Bisher haben russische Fluggesellschaften keine Änderungen an den Flugverbindungen vorgenommen, aber wenn sie unter Androhung von Sanktionen nicht mehr über weißrussisches Territorium fliegen würden, könnten sie andere Routen nach Europa finden – wie sie es seit dem Flugzeugabsturz im Donbass 2014 getan haben, der dazu führte, dass der Luftraum dieser Region für unsicher erklärt wurde. In Moskau wurde außerdem vor kurzem eine neue Zugverbindung eröffnet, mit der Minsk in sieben Stunden zu einem äußerst niedrigen Preis von 20 bis 30 Dollar erreicht werden kann.

Der Kreml ist besorgt

Der Kreml ist wahrscheinlich auch besorgt wegen westlicher Vergeltungsmaßnahmen, die gegen Russland gerichtet sind. Der Europäische Rat hat bereits beschlossen, neue Sanktionen gegen belarussische Personen, Unternehmen und Branchen zu verhängen. Moskau kann nur hoffen, dass die europäischen Regierungschefs diese Maßnahmen als ausreichende Bestrafung empfinden und keine Vergeltung gegen Lukaschenkos größten ausländischen Unterstützer suchen.

Allerdings teilte Großbritannien mit, dass es Sanktionen gegen Nord Stream 2 und gegen die Jamal-Europa-Pipeline in Erwägung zieht, die beide russisches Erdgas nach Europa transportieren (werden) – und von denen die letztere durch Weißrussland verläuft.

Das Dilemma für Moskau, das jeden zusätzlichen Druck auf seine Wirtschaft vermeiden möchte, besteht darin, dass es abwägen muss zwischen der Befriedung Weißrusslands und der Vermeidung einer weiteren Verärgerung Europas.

Trotz des Rätselratens über die Gründe, die zum Vorfall mit dem Ryanair-Flugzeug führten, lautet die Schlüsselfrage, wie die europäische Reaktion Russland sowie die weißrussische Regierung und Opposition beeinflussen könnte. Moskau betrachtet jede Bedrohung des weißrussischen Führers als eine Bedrohung für sich selbst. Weißrussland ist Russlands letzter verbliebener Verbündeter an seiner Westgrenze, was erklärt, warum Moskau so hart daran arbeitet, Lukaschenko an der Macht und loyal gegenüber dem Kreml zu halten. Aber genau das wird immer schwieriger.

In Kooperation mit

 

Anzeige