Flüchtlingskrise - „Ungarn war immer ein offenes Land für Migration“

In der Flüchtlingskrise pocht Ungarn auf seine nationale Souveränität und lehnt die Politik der EU ab. Ein Gespräch mit dem ungarischen Botschafter Peter Györkös über Migration und die Beziehung zu Deutschland

Flüchtlinge demonstrieren im September 2015 an der serbisch-ungarischen Grenze. / picture alliance
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Cicero: Seit einigen Monaten ist die Zahl der Überfahrten von Flüchtlingen und Migranten von der Türkei nach Europa drastisch gesunken. Ist das ein Erfolg des Abkommens mit der Türkei oder liegt es daran, dass die Balkan-Route geschlossen wurde?
Peter Györkös: Es wäre spekulativ zu behaupten, eine der beiden Maßnahmen hätte einen größeren Beitrag geleistet. Sicher ist jedenfalls, dass die Schließung der ungarisch-serbischen grünen Außengrenze und später der mazedonisch-griechischen Grenze dabei eine sehr wichtige Rolle gespielt haben. Aus unserer Sicht ist es jedoch wichtiger, die internen Kapazitäten Europas zu mobilisieren. Das heißt, die 28 Mitgliedsländer der EU sollten zunächst von innen heraus den Hauptkorridor nach Europa schließen und kontrollieren können. Dazu braucht man nicht die Hilfe der Türkei. Übrigens zeigt die derzeitige Situation, dass es sehr wohl möglich ist, die Außengrenzen der EU zu schützen.

War Ungarn überrascht von der schwierigen Situation im Nahen Osten und den Dimensionen der Flüchtlings- und Migrationskrise?
Ja, das waren wir. Zu Beginn der Krise im April 2015 war ich noch Ständiger Vertreter Ungarns bei der EU in Brüssel. In Vorbereitung auf die Konferenz zur Migration in Valletta im November 2015 wollten sich einige Mitgliedsstaaten und insbesondere die europäischen Institutionen nur auf die Migrationsroute von Libyen nach Italien konzentrieren. Damals habe ich darauf aufmerksam gemacht, dass die Balkan-Route schneller und sicherer für die Migranten ist. Ich wies darauf hin, dass die Migrantenzahlen dieser Route bereits in den letzten Jahren von weniger als 3.000 Menschen in 2012 bis auf 42.000 Menschen in 2014 hochgeschnellt ist. Für 2015 nahm ich daher zunächst an, dass bis zu 200.000 Menschen die Balkan-Route nutzen könnten. Bis Ende 2015 waren es dann faktisch 400.000. Es ist sicherlich die Frage angebracht, wie sich die Anzahl der Menschen auf dieser Route binnen eines Jahres verzehnfachen konnte.

Ihr Ministerpräsident wurde in den deutschen Medien damit zitiert, dass es nicht der politische Wille Ungarns sei, die ethnische Zusammensetzung seiner Bevölkerung zu verändern, noch die Entstehung einer größeren muslimischen Minderheit zu befördern. Ist das so richtig wiedergegeben?
Diese Äußerungen des ungarischen Ministerpräsidenten treffen so zu. Denn diejenigen, die jetzt als Migranten zu uns kommen, entstammen einer anderen Kultur und einem anderen Religionskreis. Wir haben absolute Hochachtung gegenüber dieser Religion. Wenn diese Menschen so massenweise nach Europa kommen, dann muss man sich jedoch fragen, ob das in Europa wünschenswert ist. Wir haben nichts dagegen, wenn Deutschland oder Belgien diese Menschen gerne aufnehmen. Wir sagen jedoch, dass es die Entscheidung Ungarns bleiben muss, mit wem wir in der Zukunft zusammenleben. Dafür gibt es mehrere Argumente. Erstens können wir bislang in ganz Europa kein erfolgreiches Integrationsmodell feststellen. Überall, wo unterschiedliche Kulturen und Religionen zusammenleben, beobachten wir Probleme. Zweitens haben wir in Ungarn eine lange Tradition und Erfahrung, was Migration angeht. Ungarn ist ein Schmelztiegel für Menschen aus den umliegenden Region und den Gebieten der ehemaligen K-&-K-Monarchie. Wir haben allein 200.000 Ungarndeutsche. Das heißt Ungarn war immer ein offenes Land für diese Migration innerhalb Europas.

Anfang September 2015 entschied Kanzlerin Merkel tausende in Ungarn festsitzende Flüchtlinge  und Migranten mit Zügen und Bussen nach Deutschland fahren zu lassen. In der deutschen Innenpolitik und in den Medien wurde dies mit einer katastrophalen und unmenschlichen Situation dieser Menschen in Ungarn begründet. So schrieb etwa die Bildzeitung am 5.9.2015 von der „Schande von Budapest“ und der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel sagte jüngst in einem Spiegel-Interview, die Situation sei eine menschliche Notlage gewesen und er sei der Letzte, der Frau Merkel wegen ihrer Entscheidung kritisieren würde. Teilen Sie diese Einschätzungen?
Seit April 2015 kamen von Tag zu Tag immer mehr Menschen nach Ungarn, die weiter nach Deutschland wollten. Wir haben Erstaufnahmestellen für alle Gruppen von Migranten vorbereitet, auch für allein reisende Minderjährige und Frauen. Ein Problem entstand, als manche Migranten nicht in die Erstaufnahmestellen wollten, weil sie nicht die Möglichkeit verlieren wollten, in ihr Zielland weiterzureisen. Wir haben bis Mitte September über 175.000 Migranten registriert, von den über 95 Prozent bereits vorher auf dem Gebiet der EU gewesen sind. Wir haben immer deutlich gemacht, dass diese Menschen Versorgung bekommen, aber nicht auf den Autobahnen oder Bahnhöfen sondern in den Erstaufnahmestellen. Warum das in den deutschen Medien anders dargestellt wurde, darüber kann man nur spekulieren. Am 3. September ist der ungarische Ministerpräsident dann nach Brüssel gereist, um dem Präsidenten der EU-Institutionen zu erklären, dass Ungarn zum 15. September die grüne Grenze nach Serbien mit einem Zaun schließen würde. Mit der Schließung haben wir dem unkontrollierten Grenzübergang den Boden entzogen.

Am 4. September tauchten dann mehrere tausend Migranten am Ostbahnhof im Budapest auf. Einige Tage nach der Schließung der grünen Grenze nach Serbien haben dann diese friedlichen und politisches Obdach suchenden Menschen diesen Zaun mit physischen Kräften attackiert. Davon war in den Medien aber nichts zu sehen. Die Bilder zeigten dagegen nur Frauen und Kinder sowie die bewaffnete ungarische Grenzschutzpolizei. Dass es sich bei den Eindringenden tatsächlich um gut organisierte und kräftige junge Männer handelte, wurde nicht erwähnt.

Die Bundesregierung schildert die Vorgänge anders. Stellt das eine Belastung der Beziehungen zwischen Ungarn und Deutschland dar?
Es hat schon ein bisschen wehgetan, dass Vertreter der Bundesregierung die Meinung geäußert haben, im September waren in Ungarn unmenschliche Verhältnisse, die Ungarn hätten weder Brot noch Wasser gegeben. Aber problematischer finde ich die verzerrten Darstellungen vieler Medien:  Sie waren fast zu hundert Prozent nur daran interessiert, die Natur dieser Migrationsströme zu verschleiern. Die Migranten wurden pauschal als syrische Flüchtlinge deklariert, unter ihnen vorgeblich Frauen und Kinder. Tatsachen wurden ignoriert, Sicherheitsrisiken kleingeredet.

Die EU verfolgt das Ziel, dass Flüchtlinge und Migranten innerhalb der Mitgliedsstaaten verteilt werden.
Wir erfüllen alle humanitären und finanziellen Verpflichtungen als EU-Mitgliedsstaat, etwa bei der gemeinsamen Grenzschutzbehörde Frontex. Bei der angedachten Zwangsverteilung von Flüchtlingen und Migranten sind wir allerdings anderer Meinung: Aus dem EU-Vertrag lässt sich nicht herauslesen, dass eine Zwangsverteilung von Flüchtlingen rechtlich, politisch oder moralisch möglich wäre. Denn das beeinflusst die Zusammensetzung der Gesellschaft - und das steht unter nationaler Souveränität. Die Europäische Kommission argumentiert auch damit, dass das wegen der Arbeitsmarktlage und den demographischen Problemen Europas nötig sei. Nur, dabei handelt es sich um keine Gemeinschaftskompetenz. Demografie, Familienpolitik sind auch nationale Kompetenzen und da haben wir eine andere Strategie. Wir wissen auch nicht, ob die ungarische Familienpolitik funktioniert, aber sie ist unsere eigene Entscheidung. Die Europäische-Kommission vermischt Flüchtlinge mit legaler Einwanderung und dem Thema der demographischen Probleme. Das hat aber nichts miteinander zu tun.

Herr Botschafter, vielen Dank für dieses Gespräch!

 

Die Fragen stellten Martin Jehle und Dr. Sebastian Banusch

 

Dr. Peter Györkös, Jahrgang 1963, ist seit November 2015 Botschafter der Republik Ungarn In Deutschland. Zuvor war Györkös fünf Jahre Botschafter und Leiter der Ständigen Vertretung Ungarns bei der EU. Der Jurist  trat 1988 als Deutschlandreferent in das Außenministerium Ungarns ein. In dieser Rolle war er im September 1989 an der Kündigung des Reiseabkommens zwischen Ungarn und der DDR beteiligt, die der Grenzöffnung Ungarns für DDR-Flüchtlinge voranging. In der Folge konnten zehntausende DDR-Bürger nach Österreich ausreisen. Der „Eiserne Vorhang“ war löchrig geworden. 1992 promovierte Györkös zu dem Thema „Pläne für die deutsche Einheit in der Periode der Teilung und der Vereinigung Deutschlands“. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.

 

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