Flüchtlingskrise - Afrika sitzt auf gepackten Koffern

Angela Merkel reiste nach Afrika, um Migrationspartnerschaften auszuhandeln. Doch die Lage dort wird sich nur langsam verbessern lassen, schreibt Prinz Asserate. Patrouillen auf See und Mauern können das Problem jedoch nicht lösen

Die Wahrscheinlichkeit, bei der Überfahrt von Afrika nach Italien den Tod zu finden, liegt bei 1 zu 23 / picture alliance
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Autoreninfo

Asfa-Wossen Asserate, geboren 1948 in Addis Abeba, lebt seit Ende der 1960er Jahre als Unternehmensberater für Afrika und den Mittleren Osten und als Buchautor in Deutschland. Er ist Großneffe des letzten äthiopischen Kaisers Haile Selassie. Mehrere seiner Bücher waren Bestseller, darunter „Manieren“ (2003) und „Afrika: Die 101 wichtigsten Fragen und Antworten“ (2010). 2014 erschien bei Propyläen seine viel beachtete Biografie Haile Selassies unter dem Titel „Der letzte Kaiser von Afrika“.

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Seit dem März 2016, seitdem die EU ein Flüchtlingsabkommen mit der Türkei geschlossen hat und die sogenannte Balkanroute „geschlossen“ ist, ist die Zahl der Menschen, die über das Meer nach Griechenland kommen, stark gesunken.

Von Januar bis Mai 2016 landeten dort nach Angaben des UNHCR rund 150.000 Flüchtlinge. Dafür nimmt die Zahl derer, die sich mit Booten nach Italien aufmachen, wieder deutlich zu. Von Januar bis Anfang Juni 2016 kamen rund 50.000 Flüchtlinge in Italien an – vor allem Afrikaner.

Knapp die Hälfte von ihnen stammt aus Nigeria, Gambia, Somalia, Eritrea und der Elfenbeinküste. Sie gehören zu denen, die die gefährliche Überfahrt über das Mittelmeer überlebt haben. Für viele andere endete ihr Traum von Europa tödlich. Von 2014 bis Anfang Juni 2016 sind dem UNHCR zufolge 10.000 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken. Aus dem „Mare Nostrum“ ist ein „Mare Monstrum“ geworden. Die Wahrscheinlichkeit, bei der gefährlichen Überfahrt von Afrika nach Italien den Tod zu finden, beträgt 1 zu 23.

Menschenleben zählt nicht viel für Schmuggler

Wie viele Menschen beim Versuch der Flucht in eine neue Heimat ums Leben gekommen sind, weiß keiner genau. Die Zahl der Menschen, die beim Versuch sterben, die Sahara zu durchqueren, zählt niemand. Aus der Wüste gibt es keine Fernsehbilder. Aber von den Erzählungen derer, die es geschafft haben, weiß man, wie lebensgefährlich die Passage ist. Drei Tage dauert die von Schmugglern organisierte Fahrt auf dem Kleinlaster normalerweise. Auf deren Ladeflächen kauern die Menschen zu Dutzenden nebeneinander. Um während der Fahrt nicht den Halt zu verlieren, haben sie Stöcke in den Boden gerammt, an die sich klammern. Wer von der Ladefläche fällt, wird seinem Schicksal überlassen. Ein Menschenleben zählt nicht viel in den Augen der Schmuggler.

Frauen berichten von sexuellen Übergriffen und Vergewaltigungen. Banditen überfallen die Wagen, und im Falle einer Panne muss der Weg zu Fuß fortgesetzt werden. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) geht davon aus, dass mehr Menschen auf der Fahrt durch die Sahara sterben als beim Überqueren des Mittelmeeres. Allein im ersten Halbjahr des Jahres zählte die Organisation 3.694 Menschen, die auf der Flucht in eine neue Heimat ums Leben kamen, die meisten davon auf dem Weg nach Europa.

Zahl der Flüchtlinge wird weiter steigen

Die italienische Zeitung Il Giornale schrieb im Mai 2016, in nächster Zeit sei mit mindestens einer halben Million Flüchtlinge allein aus Kenia zu rechnen. Die Menschen wollten sich auf den Weg nach Libyen machen und von dort mit Booten übers Mittelmeer setzen – mit dem Ziel Italien. Die Rede ist von einem „Exodus biblischen Ausmaßes“.

Hintergrund ist die neuerliche Ankündigung der kenianischen Regierung, Daadab und ein weiteres großes Flüchtlingslager auf dem Territorium Kenias zu schließen – Ende 2016 soll es endgültig soweit sein, so der kenianische Innenminister Joseph Nkaissery. Beobachter und Menschenrechtsorganisationen rechnen darüber hinaus mit einer weiter wachsenden Zahl von Flüchtlingen aus der Zentralafrikanischen Republik, aus Mali, der Demokratischen Republik Kongo, Gambia und anderen Ländern. Keiner kann genau vorhersagen, wie viele sich auf den Weg machen werden. Aber dass die Zahl der Afrikaner, die dies in Erwägung ziehen, riesig ist, daran besteht kein Zweifel.

Zehntausende Afrikaner, die es durch die Sahara nach Libyen geschafft haben, harren dort aus und warten auf die Gelegenheit, nach Europa überzusetzen. Viele von ihnen werden in Städten wie Misrata als „illegale Migranten“ in überfüllten Auffanglagern festgesetzt. Niemand in dem zerfallenen Staat interessiert sich für sie; erst recht nicht die Botschaften der Länder, aus denen sie geflohen sind. An den Stränden der Westküste, von wo die Schlepperboote gen Europa ablegen, sehen sie die angeschwemmten Leichname derer, die die Überfahrt nicht überlebt haben. Es hält sie nicht davon ab, das Risiko auf sich zu nehmen. Man kann ihnen zurufen: „Hört zu! Wisst ihr nicht, dass auch die Menschen in Europa wirtschaftliche Probleme haben? Euch muss doch klar sein, dass Europa nicht alle Flüchtlinge aufnehmen kann! Wisst ihr überhaupt, was euch dort blüht? Ihr kommt in ein Aufnahmelager mit Tausenden anderen Flüchtlingen. Ihr müsst lange warten, bis ihr überhaupt einen Antrag auf Asyl stellen könnt. In dieser Zeit werdet ihr auch nicht arbeiten dürfen.“

Kein Risiko zu groß

Aber all dies wissen die jungen Afrikaner. Sie leben nicht hinterm Mond. Sie haben Smartphones und Zugang zum Internet. Sie haben Freunde und Verwandte, die es nach Europa geschafft haben und ihnen erzählen, wie das Leben dort aussieht. Sie haben gewiss auch davon gehört, dass nicht alle Menschen dort ihnen freundlich gesinnt sind und dass es Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte gegeben hat. Die Europäer sollten sich nichts vormachen: Im Vergleich zu dem Leben, das sie in ihrer Heimat zu führen gezwungen sind, erscheint ihnen das Asylantenleben in Deutschland, Schweden oder anderswo wie ein Leben im Paradies.

Ich kenne keinen Afrikaner, der seine Familie, seine Freunde, seine vertraute Umgebung verlassen hat, nur weil er denkt, er könne anderswo mehr verdienen als in seiner Heimat. Es geht ihnen um die nackte Existenz. Sie verlassen ihre Heimat, weil sie dort nicht existieren können oder weil sie aus Angst vor Verfolgung nicht in der Lage sind, frei zu atmen. Sie lassen alles zurück, packen das Allernotwendigste zusammen und machen sich schweren Herzens auf dem Weg – und kein Risiko scheint ihnen dabei zu groß.

Zäune und Mauern werden nicht helfen

Man muss dieser Realität ins Auge blicken, damit man endlich beginnen kann, sich damit auseinanderzusetzen und die tieferliegenden Ursachen zu bekämpfen: Wir müssen die Lebensbedingungen der Menschen in Afrika verbessern, damit es nicht zu diesem Exodus kommt. Nur wenn sie eine Zukunft in ihrer Heimat finden, werden sie bleiben. Europa sollte sich nicht der Illusion hingeben, dass diese Völkerwanderung durch Patrouillen auf See, durch Zäune oder Mauern aufgehalten werden könnte.

Im 18. Jahrhundert trotzten die Menschen in Europa ihren absolutistischen Herrschern das Recht auf Freiheit und das Prinzip der Menschenwürde ab. „Alle Menschen sind frei und an Würde und Rechten gleich geboren.“ So lautet das Credo, das sich die Vereinten Nationen, die Gemeinschaft der Staaten der Welt, im Dezember 1948 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gaben. Wir sollten uns daran erinnern: Dieser Grundsatz gilt für alle Menschen, in Europa ebenso wie in Afrika und in jedem anderen Teil der Welt, egal welcher Hautfarbe, ob Arm oder Reich, ob in ihrer Heimat verwurzelt oder als Flüchtling in der Fremde.

Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem neuen Buch von Asfa-Wossen Asserate: Die neue Völkerwanderung. Wer Europa bewahren will, muss Afrika retten, Propyläen 2016, 200 Seiten, 20 Euro.

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