Flüchtlingskrise in Litauen - Lukaschenkos Krieg gegen die EU

Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko löste im Nachbarland Litauen eine Flüchtlingskrise aus. Das ist nicht nur die Rache für die EU-Sanktionen gegen sein Regime. Es ist sein Versuch, die gesamte EU in eine ähnliche Krise zu stürzen wie 2015.

Litauen hat angesichts einer stark steigenden Zahl illegal Einreisender mit dem Bau eines Zauns an der Grenze zu Belarus begonnen / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Thomas Dudek kam 1975 im polnischen Zabrze zur Welt, wuchs jedoch in Duisburg auf. Seit seinem Studium der Geschichts­­wissen­schaft, Politik und Slawistik und einer kurzen Tätigkeit am Deutschen Polen-Institut arbei­tet er als Journalist.

So erreichen Sie Thomas Dudek:

Anzeige

Es sind Bilder, die an Freiberg und andere Ortschaften erinnern, in denen vor sechs Jahren Bürger zum Teil mit Gewalt gegen die Aufnahme von Flüchtlingen protestierten. Doch was man zurzeit im litauischen Fernsehen zu sehen bekommt, sind keine Archivaufnahmen von 2015, sondern aktuelle Bilder aus mehreren Ortschaften in der Nähe der litauisch-belarussischen Grenze. Es sind die Bilder einer Flüchtlingskrise, die in den letzten zwei Monaten an der östlichen Grenze der EU entstand.

Wie angespannt die Lage momentan in Litauen ist, offenbarte der litauische Staatspräsident Gitanas Nauseda am Donnerstag, als er die Ausrufung eines Ausnahmezustands ins Spiel brachte. „Es ist mehr oder weniger Konsens, dass wir für alle Lösungen offen sind und auch dieses Thema in naher Zukunft angehen werden“, sagte Nauseda nach einem Treffen mit Ministerpräsidentin Ingrida Šimonyte und Vertretern aller Parteien. Bereits vor zwei Wochen verabschiedete der Seimas, wie das litauische Parlament heißt, eine umstrittene Verschärfung des Asylverfahrens, das dieses nicht nur beschleunigen soll, sondern abgewiesenen Asylbewerbern auch die Möglichkeit nimmt, gegen diese Entscheidung Einspruch einzulegen.

Flüchtlinge als Waffe

Als wirksam erwiesen sich all diese Maßnahmen bisher jedoch nicht. Erst Mitte der Woche vermeldete die litauische Grenzschutzbehörde mit 171 illegalen Grenzübertritten einen neuen Tagesrekord. Im gesamten vergangenen Jahr waren es 81 Menschen. Die Zahl der in diesem Jahr in Litauen aufgegriffenen Migranten stieg damit auf über 3.000, was für das kleine baltische Land mit seinen drei Millionen Einwohnern schon beim Thema Unterbringung eine enorme Herausforderung darstellt. Litauen ist auf solch eine Situation schlicht nicht vorbereitet. Was wenig erstaunlich ist. 2020 waren in Litauen gerade einmal 260 erstmalige Asylbewerber registriert

Doch so sehr sich Litauen durch Verschärfungen der Asylgesetze oder andere Maßnahmen bemühen mag, der Situation habhaft zu werden, es ist chancenlos. Denn die Lösung des Problems befindet sich nicht in Litauen, sondern in der belarussischen Hauptstadt Minsk. „Das ist keine Flüchtlingskrise, sondern hybride Kriegsführung“, erklärte diese Woche der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis in einem Interview und warf dem belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko vor, Flüchtlinge als Waffe gegen Litauen und die EU einzusetzen. 

Vorbild Erdogan

Landsbergis ist nicht der erste litauische Regierungspolitiker, der seit dem Anstieg der Flüchtlingszahlen solche Vorwürfe gegen Minsk erhebt. Und dass diese Vorwürfe nicht unbegründet sind, zeigen Lukaschenkos Aussagen. „Wir halten Drogen und Migranten auf, nun werdet ihr sie selbst einnehmen und fangen müssen“, sagte Lukaschenko Ende Mai bei einer Rede im Parlament. Vor drei Wochen wurde der seit 1994 „letzte Diktator Europas“ noch deutlicher und erklärte, dass Belarus „nicht zu einem Sammelbecken werde für Flüchtlinge“. „Wir werden keinen aufhalten, denn sie kommen nicht zu uns, sondern in das blühende, warme, gemütliche Europa“, so Lukaschenko, den die Europäische Union und die USA seit dem vergangenen Jahr nicht mehr als Präsident anerkennen. Wie die Ereignisse in Litauen zeigen, sind es Drohungen, die Lukaschenko in die Tat umsetzt. 

Damit griff Lukaschenko eine Methode auf, die bereits ein anderer bekannter Autokrat gegen die EU anwandte. Im Februar vergangenen Jahres öffnete der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan trotz eines 2016 mit der EU geschlossenen und für die Staatengemeinschaft teuren Abkommens die Grenzen und sorgte so für eine dramatische Lage in den griechischen Flüchtlingslagern, die auch die deutsche Politik beschäftigte. 

Schlepperdienst als Pauschalangebot?

Doch während Erdogan mit der Grenzöffnung von der EU neue Zugeständnisse erpressen wollte und auch konnte, rächt sich Lukaschenko gegen die von der EU beschlossenen Sanktionen gegen ihn und sein Regime. Diese wurden Ende Mai noch einmal verschärft, nachdem durch eine erzwungene Notlandung einer Ryan Air-Maschine in Minsk, der an Bord befindliche regimekritische und in Litauen lebende Journalist Roman Protasewitsch entführt wurde. So ist seitdem auch der EU-Luftraum für Fluggesellschaften aus Belarus gesperrt. „Da Belarus keine große wirtschaftliche Bedeutung für die EU hat, um mit spürbaren wirtschaftlichen Sanktionen zu reagieren, antwortet Lukaschenko mit der Öffnung der Grenze zu Litauen“, erklärt Olga Dryndova, Politologin der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen und Redakteurin der Belarus-Analysen, gegenüber Cicero

Und noch etwas unterscheidet die Autokraten aus Ankara und Minsk. Während in der Türkei bereits fast vier Millionen Flüchtlinge leben, musste Lukaschenko diese erst nach Belarus holen. Laut oppositionellen Medien wie dem Telegram-Kanal Nexta, den der im Mai entführte Protasewitsch mitbegründet hat, soll die staatliche Tourismusagentur „Zentrkurort“ dabei eine zentrale Rolle spielen. Auch litauische Behörden und Politiker werfen dem staatlichen Unternehmen vor, im Irak, woher die meisten der in Litauen ankommenden Flüchtlinge kommen, seine Schlepperdienste anzubieten. Litauens Außenminister Landsbergis sprach in dem schon erwähnten Interview von einem Pauschalpreis zwischen 7.000 und 8.000 Euro, den die Agentur verlange. 

Inwieweit diese Vorwürfe stimmen, lässt sich jedoch nicht sagen. „Es gibt diese Gerüchte, doch es fehlen die endgültigen Beweise“, mahnt die Belarus-Expertin Dryndova. „Fakt ist aber, dass Belarus als Reiseziel in dem arabischen Raum immer aktiver angeboten wird. Auch die Zahl der wöchentlichen Flüge von Bagdad nach Minsk hat sich in der letzten Zeit verdoppelt“, sagt die Politologin weiter. 

Herausforderung für die gesamte EU

Was nun dringend erforderlich ist, ist eine entschlossene Reaktion der gesamten EU. Ja, durch Litauens besondere Rolle für die belarussische Opposition waren die Beziehungen zwischen Vilnius und Minsk schon vor der Flüchtlingskrise angespannt. Wer sich aber nur durch diese Erklärung die aktuelle Flüchtlingskrise in dem baltischen Staat erklärt, der macht es sich zu einfach. 

Mit der 700 Kilometer langen und zum Teil ungesicherten Grenze zwischen Belarus und Litauen hat Lukaschenko einen Schwachpunkt erkannt, mit dem er die gesamte Europäische Union treffen kann. Und mit Polen könnte bald ein weiterer Brennpunkt an der östlichen Grenze der Gemeinschaft entstehen. Die Zahlen sind zwar noch lange nicht so hoch wie in Litauen, aber auch Polen verzeichnet mittlerweile mehr Grenzverletzungen als im vergangenen Jahr. Es sind Menschen, die Litauen und Polen vorwiegend als Transitland sehen auf ihrem Weg in den Westen. 

 

Anzeige