Europäische Union - Mehr Gespenst als Geist

Der EU-Gipfel in Bratislava hat gezeigt, wie zerstritten die 27 Mitgliedstaaten derzeit sind. Zwar soll die Zusammenarbeit verstärkt werden, doch über das Wie ist man sich nach wie vor uneinig. Die Interessen liegen derart weit auseinander, dass kein Kompromiss möglich erscheint

Die Staatschefs der europäischen Mitgliedstaaten bei ihrem Treffen im slowakischen Bratislava / picture alliance
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Autoreninfo

Thomas Jäger ist Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln. Er ist Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste.

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Da kam die krachende Niederlage in Berlin gerade recht, um die unterschiedlichen Bewertungen des vergangenen EU-Treffens in Bratislava zu übertönen. Während die Bundeskanzlerin in ihrer gewohnten Diktion bilanzierte: „Der Geist von Bratislava war ein Geist der Zusammenarbeit“, höhnte der italienische Premierminister: „In Bratislava hatten wir eine nette Schifffahrt auf der Donau“. Renzi war schon am Freitag nicht zusammen mit Bundeskanzlerin Merkel und dem französischen Präsidenten François Hollande aufgetreten. Er erkennt keinen Geist der Zusammenarbeit, sondern ein Gespenst der Abgestumpftheit, das die letzte Energie aus der EU zieht.

Hat Matteo Renzi nur für sich gesprochen? Wohl nicht. In der Vorbereitung des Gipfels hatten die südlichen EU-Staaten in Athen Griechenlands Ministerpräsident Alexis Tsipras vorgeschickt, ihre gemeinsame Position wortstark zu verkünden: mehr Solidarität, mehr soziale Gerechtigkeit und das Ende wirtschaftlichen Erfolgs auf Kosten der anderen. Das war ein herber Angriff gegen Deutschland. Von dem allerdings in der ersten gemeinsamen Runde ohne Großbritannien nichts übrig blieb, was man als Erfolg hätte verkaufen können. Entsprechend gespannt sind die Beziehungen und die Nerven. Denn in der EU geht es in den nächsten Monaten um Grundlegendes.

Integration vorantreiben

Da die Europäische Union nicht über Nacht zum Bundesstaat werden kann, bleiben ihr zwei Möglichkeiten, die tiefreichende Krise zu überwinden: Sie kann die Beziehung zwischen den Mitgliedstaaten intensivieren oder lockern. Mehr Verpflichtung und Solidarität oder mehr Eigenständigkeit und nationale Souveränität sind die Alternativen, vor denen die Entscheidungsträger (und die Wähler) gerade stehen. Nicht ob es die EU in fünf Jahren noch gibt, lautet die Frage, auch wenn das dramatischer klingt. Sondern, wie sie aussehen wird.

Es wurde deutlich, dass die Staats- und Regierungschefs vor allem drei Politikbereiche zu Prioritäten erklärt haben: die Sicherung der Außengrenze, militärische Zusammenarbeit und Investitionen für Wirtschaftswachstum. Mit sichtbarer und effektiver Zusammenarbeit auf diesen drei Gebieten möchten die Verantwortlichen demonstrieren, dass die EU weiterhin eine starke Integrationskraft hat.

Südliche Staaten wollen ans Kapital

Nachdem einigen Politikern die Schadensfreude über den Austritt Großbritanniens vergangen ist, stellen sie nun die richtigen Fragen, manövrieren sich aber gleichzeitig in politische Zwickmühlen. Sicherheit und Wirtschaft sind die richtigen Politikfelder. Die Außengrenzen sichern und Arbeitslosigkeit beseitigen sind (seit Jahren übrigens!) notwendige Aufgaben. Wenn es einfach wäre, wäre es schon geschehen. Es ist aber schwierig, weil die Mitgliedstaaten weit auseinanderstrebende Interessen haben.

Die südlichen Mitgliedstaaten, die gerade enorme wirtschaftliche Probleme haben, sind besonders daran interessiert, an Kapital zu kommen. Die Politik der Europäischen Zentralbank (EZB) hat hier wenig gefruchtet. In Frankreich wird gerade heftig gegen die geplanten strukturellen Reformen demonstriert. Wollen die Regierungen wiedergewählt werden, sollten sie lieber die Finger von weitreichenden Veränderungen lassen. Deshalb fordern sie mehr Integration, konkret: die Solidarität bei Investitionen und Schulden. Mehr Integration heißt gemeinsame Schulden.

Visegrad-Gruppe stellt sich quer

Das sieht die Visegrad-Gruppe (Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei) anders. Hier hat sich ein Block gebildet, der für weniger Integration steht. Aufgaben sollen auf die Nationalstaaten zurückverlagert werden. Schulden für andere? Nicht mit uns. Solidarität bei der Aufnahme von Flüchtlingen? Auf keinen Fall. Österreich und Slowenien könnten sich diesen Positionen anschließen. 

Die Interessen beider Gruppen widersprechen sich. Da gibt es keine Schnittmenge, die einen Kompromiss erlaubt. Bleibt noch die Lösung: Jeder kriegt, was er will, und akzeptiert etwas, das er ablehnt. Aber das funktioniert hier nicht, weil es ums Eingemachte geht. Auch bei den beiden anderen Fragen.

Militärische Zusammenarbeit schwierig

Es soll zweitens nämlich die militärische Zusammenarbeit intensiviert werden. Doch die Europäische Armee ist als Projekt zur Integration aller Mitgliedstaaten nicht geeignet. Die Befürchtungen in den östlichen Mitgliedstaaten, insbesondere in denen des Baltikums und in Polen, gegenüber Russland sind groß. Der Verlass auf die europäischen Partner ist minimal. Die USA hingegen werden als Sicherheitsgarant gesehen. So sitzt die amerikanische Regierung bei den Gesprächen über die militärische Integration im Geiste mit am Tisch.

Frankreich hat hierbei besondere Interessen, weil es als handlungsfähigste europäische Macht und VN-Veto-Macht meint, die wirtschaftliche Dominanz Deutschlands auf dem Gebiet der Sicherheit wenigstens ein wenig ausgleichen zu können.

Die Sicherung der Außengrenzen erfordert als drittes Projekt ein viel höheres Maß an Zusammenarbeit, als es die meist informellen bestehenden Kooperationsformate auf dem Gebiet der inneren Sicherheit hergeben. Soll Frontex als gemeinsame Gendarmerie an den Außengrenzen erwachsen? Da sind die Unterschiede der Rechtslagen und Traditionen viel zu groß, als ob dies in wenigen Monaten zu leisten wäre.

Machtverschiebungen durch den Brexit

Zu den Streitigkeiten über die Ausgestaltung der Politik kommt jetzt also noch der Machtkampf in der EU. Denn der Austritt der Briten wirft die feine Austarierung – Nord/Süd, Ost/West, Groß/Klein – über Bord. Die südlichen Staaten und die Visegrad-Gruppe haben sich organisiert.

Deutschland gehört keiner Fraktion an. Ob das daran liegt, dass die Bundesregierung der publizistisch verbreiteten, politisch aber völlig falschen Vorstellung aufsitzt, die Macht in der Mitte könne aus eigener Kraft alles zusammenhalten? Das wäre ein riskantes und kostspieliges Vorgehen, das am Ende in der Delegitimierung der deutschen Europapolitik mündet.

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