Europa - Wie Churchills Vision zu retten ist

Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat ein Buch mit dem trotzigen Titel „Europa ist die Lösung“ geschrieben. Er übt darin scharfe Kritik an der Kanzlerin, fordert aber wie sie die verstärkte Sicherung der EU-Außengrenzen

Der britische Premierminister Winston Churchill entwarf schon 1946 die Idee der „Vereinigten Staaten von Europa“ / picture alliance
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Wulf Schmiese leitet das „heute journal“ im ZDF. Zuvor hat er als Hauptstadtkorrespondent, jahrelang auch für die FAZ, über Parteien, Präsidenten, Kanzler und Minister berichtet.

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Ist die EU am Ende? Das sagt sich derzeit leicht wie nie. Es wird schon mit Rauswurf gedroht, oder mit Abschottung und Verweigerung. Ein verbales Hauen und Stechen – ausgerechnet 70 Jahre, nachdem die Europäische Union erstmals verblüffend konkret ausgerufen wurde.

Am 19. September 1946 ließ einer der Kriegssieger die Welt staunen. Der britische Premierminister Winston Churchill sprach über die „Vereinigten Staaten von Europa“, ja er forderte sie! Deutschland und Frankreich müssten Partner werden. Inmitten eines von Hass zerstörten Kontinents wagte Churchill einen Wunsch auszusprechen, der faktisch wahr wurde. Niemand hätte damals für möglich gehalten, dass bis aufs Blut verfeindete Nationalismen überwunden werden könnten. Weil Uneinsichtigkeit, Sturheit, Herrsch- und Rachsucht seit jeher die Geschichte geprägt hatten.

Frank-Walter Steinmeier hält das für ein „Wunder“. Deshalb hat er Churchill nun ein feines Denkmal gesetzt: „Europa ist die Lösung“. Trotzig klingt der Titel seines Buchs, das an diesem Donnerstag im Gedenken an „Churchills Vermächtnis“ erscheint. Die große Rede steht darin neu übersetzt, und sie beeindruckt im Rückblick umso mehr. Der Essay des deutschen Außenministers zu Churchills Europarede hat hohen Gehalt. Darin werden neue Gedanken formuliert; es ist eine tiefe und sprachlich exakt geschliffene Analyse darüber, wie geschehen konnte, was geschehen ist.

1946 und 2016 sind Wegscheiden für Europa

Die europäische Gegenwart beschreibt Steinmeier düster: „Die scheinbare Unumkehrbarkeit des europäischen Einigungsprozesses ist an ihr Ende gelangt. In keinem der sich überschlagenden Krisenmomente der jüngsten Vergangenheit wurde das so schmerzhaft deutlich wie im Paukenschlag des Brexit, des Votums der Briten, die Europäische Union zu verlassen.“ Und das sieben Jahrzehnte nachdem ausgerechnet ein britischer Staatsmann den Völkern Europas zurief, eine gemeinsame Zukunft zu entwerfen – auch wenn Churchill die Briten nie als Teil dieses vereinigten Europas sah.

Doch der Brexit ist nur ein Phänomen für die zerrissene EU. Steinmeier stellt die eigentliche Verbindung zur Churchill-Rede her: „1946 und 2016 sind Wegscheiden für Europa. Damals wie heute blicken viele in Europa mit Verunsicherung und Ungewissheit in die Zukunft. Doch die Verunsicherung kommt, bildlich gesprochen, aus entgegengesetzten Fahrtrichtungen: Wo Churchill 1946 auf den Trümmern Europas, am Tiefpunkt der Zersplitterung, eine Vision der Vereinigung entwarf, da treten 2016, am scheinbaren Höhepunkt der Vereinigung, wieder Risse und drohende Zersplitterung in Europa hervor.“

Eine Vision ohne konkretes Ziel

Aus Zersplitterung wurde Einheit wurde Zersplitterung. Wie konnte es dazu kommen? Zumal doch alles eintraf, was Churchill so kühn darstellte, als noch „eine ungeheure Menge gequälter, hungriger, abgehärmter und verzweifelter Menschen auf die Ruinen ihrer Städte und Behausungen“ starrte, wie er damals anschaulich machte. „Wenn Europa einmal einträchtig sein gemeinsames Erbe teilen würde, dann könnten seine drei- oder vierhundert Millionen Einwohner Glück, Wohlstand und Herrlichkeit in unbegrenztem Ausmaß genießen.“ Das konnten und können sie! Zumal im Vergleich zur Trümmerzeit.

Steinmeier erkennt den Grund der gegenwärtigen Lage bereits in Churchills Rede angelegt: Der Kriegspremier hatte kein Ziel genannt. Bundesstaat? Staatenbund? Europa der Vaterländer? Churchill habe in seiner Vision von 1946 „vieles, wenn nicht das meiste“ offengelassen, und zwar bewusst. Ein detailliertes Programm sollten die Europäer schon selbst entwerfen.

Der Erfolg wurde zum Pferdefuß

So sei Europa viele Umwege gegangen auf dem Weg seiner Einigung, schreibt Steinmeier. „Manches ist gewuchert, es ist auch Wildwuchs entstanden, der schwer zurückzuschneiden ist.“ Ohne klare Roadmap sei eben auch einiges planlos verlaufen. „Aber was auch getan wurde, es geschah stets im Bewusstsein, dass es weiter, tiefer, unumkehrbar mit der europäischen Einigung vorangehen muss.“

Allerdings hätten nicht die zahlreichen Entwicklungsfehler Europa in so schwieriges Fahrwasser geführt, sondern der enorme Erfolg der EU. „Als Teil des leuchtenden Westens war sie in den langen Jahren des Kalten Kriegs ein, wenn nicht sogar der Sehnsuchtsort. Europa – Ort des freien Austauschs untereinander, Garant eines gediegenen Maßes an Wohlstand für alle, Raum für ein Leben ohne Angst und Schrecken in einem politischen Rahmen, der Obrigkeit durch Recht, Gesetz und Institutionen zivilisiert.“

Die Reaktion auf die Kritik war falsch

Ein Magnet für Unfreie, ein Anziehungspunkt – genau dies habe das europäische Einigungswerk von Anbeginn sein wollen. So kam es: Nach dem Ende des Ostblocks kam die zügige Osterweiterung der EU. „So hat deren Erweiterung auch etwas an ihrem Wesen verändert“, schreibt Steinmeier. Das Prinzip der Einstimmigkeit habe bei sechs bis zwölf Mitgliedstaaten noch funktioniert. „Bei 28 oder mehr Mitgliedsstaaten ist es fast unmöglich, in wesentlichen Fragen immer alle unter einen Hut zu bringen.“

Das nervte die nationale Politik zunehmend, die EU taugt noch immer stets als Sündenbock. Aber zugleich sei der Umgang mit wachsender Kritik innerhalb der EU falsch gewesen. Hier schließt Steinmeier sich selbst generös ein, nennt sonst keine Namen, aber es wird klar, wen er meint: „Statt sich mit den Fragen und Zweifeln der Kritiker argumentativ, werbend, überzeugend auseinanderzusetzen, bekamen diese oft genug ein Alternativlos entgegengeblafft.“ An anderer Stelle heißt es: „In den heutigen europäischen Zusammenhängen soll ein laut dröhnendes Alternativlos hingegen oft genug die Mühen von Überzeugungsarbeit ersetzen.“

Schelte für Angela Merkel

Wir erlebten mit Bezug auf Europa jetzt, was wir im nationalstaatlichen Rahmen schon lange kennen würden: den selbstbewussten Bürger. „Gern werden seine Einlassungen als ‘wenig hilfreich’ abgetan“, schießt Steinmeier ein weiteres Mal gegen die Kanzlerin und gibt sich verständiger: „Ist es nicht vielmehr ausgesprochen hilfreich, wenn Politik gezwungen wird zur Klarheit im Denken und Reden und auch zu jenem Maß an Leidenschaft, ohne das es kein Überzeugen gibt?“

Das gelte auch in der Flüchtlingspolitik: „Der Umgang mit den Flüchtlingen, den Hunderttausenden, die aus den Krisenherden unserer Nachbarschaft nach Europa fliehen, hat gewaltige Spannungen innerhalb der Europäischen Union erzeugt.“ Die Ängstlichen müssten „ernst genommen werden, auch ihre Sorgen“. Die Kritik des Außenministers post festum an der Kanzlerin mag billig sein, zumal er sie so nie öffentlich anging. Er gibt sogar zu, dass unter den EU-Kritikern „wirre Geister oft genug gefährliche populistische Stimmungsmacher“ seien, die „auch die beste Argumentation nicht erreichen“ werde.

Außengrenzen sichern

Aus der in vermeintliche Selbstkritik verpackten Parteipolitik entwickelt sich jedoch Steinmeiers Lösungsansatz: „Die Menschen wollen nicht hören, sondern sie wollen in der Realität sehen, dass Europa die Lösung ihrer Probleme ist.“ Europa müsse zeigen, „dass es vereint sicherer ist“. Es gehe in der gemeinsamen Außenpolitik „am Ende auch um gemeinsame militärische Fähigkeiten“.

Für die innere Sicherheit der EU gelte: „Wir haben in der Flüchtlingskrise lernen müssen, dass wir die ursprüngliche Idee von Schengen nur zur Hälfte umgesetzt hatten: Der Wegfall der Binnengrenzen war die eine, der gemeinsame Schutz der Außengrenzen die andere Säule von Schengen, die wir vernachlässigt haben.“ Den Schengen-Raum durch sichere Außengrenzen zu erhalten, bedeute zugleich eine faire Flüchtlingsverteilung. „Deshalb ist ein stärkerer Grenzschutz untrennbar mit der Entwicklung eines gemeinsamen Asylsystems verbunden.“ Das ist fast O-Ton Merkel. Der Außenminister vertritt damit im Wesentlichen ihre Europapolitik.

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