Europa und die Türkei - „Wir dürfen den Flüchtlingsdeal nicht aufs Spiel setzen“

Die Türkei entwickelt sich immer mehr in eine Autokratie, ist aber weiterhin ein wichtiger Partner der EU in der Flüchtlingspolitik. Für den Erfinder des Flüchtlingsdeals, Gerald Knaus, ist es deshalb oberste Priorität, die Beziehungen nicht scheitern zu lassen

Flüchtlinge stehen auf der griechischen Insel Lesbos Schlange vor der Fähre nach Piräus / picture alliance
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Autoreninfo

Simon Marti hat in Bern Geschichte und Politikwissenschaft studiert und die Ringier Journalistenschule absolviert. Er arbeitet für die Blick-Gruppe in der Schweiz.

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Der österreichische Politikberater Gerald Knaus ist der Vordenker für den Flüchtlingsdeal mit der Türkei. Er leitet den Thinktank Europäische 
Stabilitätsinitiative (ESI).

Herr Knaus, ist der Flüchtlingsdeal mit der Türkei noch zu retten?
Ja. Er nützt beiden Parteien und wäre einfach umzusetzen. In der Ägäis hat die EU einen Plan, der funktioniert. Es ist unklug, das aufs Spiel zu setzen. Was passiert, wenn die EU keinen Plan hat, sieht man im Meer vor Libyen. Da ertrinken jede Woche Menschen und Schlepper machen Riesengeschäfte. Deshalb sollte die EU auch im eigenen Interesse der Türkei die Visaliberalisierung gewähren.

Der Widerstand gegen eine Visaerleichterung wird in Europa angesichts eines immer autoritärer agierenden Präsidenten Erdogan aber immer stärker.
Manche sehen es als eine Frage der politischen Moral, dass die EU an der Erfüllung aller ihrer 72 Bedingungen zur Gewährung der Liberalisierung festhält. Koste es, was es wolle. Vernünftig ist das nicht. 2008 gab es für Albanien genau 45 Bedingungen für die Visaliberalisierung, für Brasilien und Malaysia gar keine. Die EU entscheidet nach dem, was für sie Sinn ergibt. Sie sollte von der Türkei verlangen, dass diese ein sicheres Drittland ist für die Flüchtlinge, die aus Lesbos oder Chios zurückgeschickt werden. Dafür muss sich die Türkei anstrengen.

Andererseits können bereits jetzt alle türkischen Staatsangestellten und ihre Familien ohne Visum in die EU einreisen. Das sind mehr als zwei Millionen Menschen. Damit entscheidet heute Erdogan, wer einreisen darf und wer nicht. Und: Visafreiheit gilt nur für den neuen, teuren, biometrischen türkischen Pass, den nur wenige haben. Grenzkontrollen gibt es weiterhin.

Brüssel pocht auf die Anpassung der türkischen Anti-Terror-Gesetzgebung. Warum soll Europa in diesem Punkt nun plötzlich nachgeben?
Die Frage ist doch: Welche Bedingungen ergeben Sinn? Es gibt in der Türkei einen Ausnahmezustand, die Lage der Justiz ist dramatisch, 20 Prozent der Richter und Staatsanwälte wurden entlassen. Jetzt in einem Gesetz die Definition von Terror zu ändern, würde niemanden schützen. Das ist eine Symptomdiskussion. Es steht derzeit der ganze Rechtsstaat auf dem Spiel. In Ankara gibt es gleichzeitig ein enormes Misstrauen gegenüber Europa, nach dem gescheiterten Putschversuch noch mehr als davor.

Hat sich die EU verkalkuliert?
Die Lage hat sich geändert. Die Sorge um den Rechtsstaat in der Türkei ist mehr als berechtigt. Man sollte sich mit Kritik nicht zurückhalten. Aber jene, die sich heute in der Türkei für Menschenrechte einsetzen, sagen uns: Brecht die Beziehungen nicht ab! Ein diplomatisches Scheitern im Herbst würde darauf hinauslaufen.

Was würde passieren, wenn das Flüchtlingsabkommen scheitert?
Ein weiterer Kontrollverlust. Heute sitzen in Griechenland 55.000 Menschen fest, fast alle auf dem Festland. Man kann sich vorstellen, was es für die europäische Sicherheit bedeutet, wenn es wieder 300.000 wären, die dann auf Menschenhändler aus dem Balkan setzen. Ohne Kooperation mit der Türkei kann das passieren, denn der Krieg in Syrien und im Irak geht ja weiter. 

Wie ist die Lage auf den griechischen Inseln?
In den vergangenen fünf Monaten sind nur 9.000 Menschen gekommen. Allerdings sitzen manche seit Monaten auf den Inseln fest, ohne Perspektive, ohne jedes Verfahren. Die griechischen Behörden sind heillos überfordert. Die Lage in den Lagern ist sehr schwierig. 

Das bedeutet für uns aber auch, dass das Abkommen derzeit gut funktioniert.
Es kommen viel weniger Menschen und es ertrinken keine Kinder mehr in der Ägäis. Das ist wichtig. Und: es wurde bislang noch nicht eine Person, die in Griechenland einen Asylantrag stellen wollte, zurückgeschickt. Dafür muss die Türkei jedem, der zurückgeschickt werden soll, ein faires Asylverfahren garantieren. Es geht um einige Tausend Menschen, mit gutem Willen ist das machbar, doch es ist noch nicht passiert. Was die Flüchtlinge derzeit davon abhält, nach Europa zu kommen, ist die Aussicht, auf unbestimmte Zeit auf den Inseln festzusitzen.

Sollte Europa nicht bereit sein, der Türkei entgegenzukommen und deshalb der Deal platzen, was wären die Alternativen?
Plan B sieht so aus: Man setzt auf Albanien und Mazedonien statt auf die Türkei, man zündet eine Kerze für Bulgarien und Griechenland an und hofft, dass Hunderttausende, die noch fliehen könnten, einfach in diesen EU-Ländern stecken bleiben. Dort würden die Bedingungen dann so schlecht werden, dass irgendwann niemand mehr kommen will. Es ist eine Donald-Trump-Lösung: scheinbar einfach, teuer und auf Kosten anderer. Und riskant.

Das sieht düster aus. Wie wäre das Abkommen noch zu retten?
Wir brauchen kluge deutsche und europäische Diplomatie um den Merkel-Plan vollständig umzusetzen. Und das heißt: Es hängt auch wieder von Angela Merkel ab. 

Bild Gerald Knaus: ESI / Alan Grant, Jonathan Lewis

Das Interview führte Simon Marti

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