Europa in der Corona-Krise - Stillstand der Integration?

In der Corona-Krise ist das Thema der Integration aus der täglichen Diskussion verschwunden. Dabei sind eben in diesen Zeiten kulturelle Fixpunkte wichtiger denn je. In einem Gastbeitrag erörtert der Literaturwissenschaftler Jens Loescher, was das auch für Europa bedeutet.

Wie wichtig ist Deutschland die Integration? /dpa
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Autoreninfo

Jens Loescher ist habilitierter Germanist. Nach zwanzig Jahren Schreibtisch wechselte er ins lebhaftere Geschäft der Wissenschaftskoordination. Publizistisch (und auch sonst) interessiert ihn die digitale Wende und Integration.

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Öffentliche Aufmerksamkeit ist ein hart umkämpftes Gut. Man kann gegenwärtig beobachten, wie die Klima-Protagonisten auf den Corona-Zug aufspringen – mit atemberaubenden Volten. Umso gravierender ist die Marginalisierung der Integrationsdebatte. Nicht nur die Alten sind aus dem öffentlichen Raum verschwunden, auch die Flüchtlinge. Geübte social distancer ficht die Quarantäne nicht an. Was machen Geflüchtete, die ohne Kernfamilie und mit unguten Erinnerungen in den eigenen vier Wänden sitzen?

Momentan sollen digitale Welten alles richten: auch Integration? In den einschlägigen Handbüchern und Sachverständigenberichten ist ein Migrant integriert, wenn er oder sie den Lebensunterhalt verdient und Bürgerrechte wahrnimmt. Zugespitzt ausgedrückt, misst sich erfolgreiche Integration am Erwerb einer Eigentumswohnung oder an Wahlbeteiligung. Das ist einerseits der Datenlage geschuldet, andererseits aber auch einem Narrativ der Nachkriegsgesellschaft: Integration bedeutet Einpassung in den Arbeitsprozess, während das Privatleben in der Parallelgesellschaft stattfindet.

Eine Zwei-Welten-Lehre

Diese Zwei-Welten-Lehre ermöglichte es Deutschland, Integration (mehr oder weniger) erfolgreich zu gestalten, ohne ein Einwanderungsland zu sein. Dabei widerlief dieses Konzept de facto der Doktrin einer Milieu-übergreifenden Leitkultur. Ein Migrant ist nicht unbedingt integriert, wenn er oder sie wirtschaftlich erfolgreich ist. Deshalb plädiert die Forschung dafür, kulturelle Integration zu erheben, die sich an Parametern wie Zugehörigkeitsgefühl, Neugier, Wissenserwerb und Interaktion festmacht. Auch Einstellungen der Aufnahmegesellschaft gegenüber Migranten werden gemessen.

Da diese Integration ein zweigleisiger Prozess ist, der die Aufnahmegesellschaft ebenso betrifft wie Migranten, koexistieren kulturelle Skripte; weder sind sie maßgeblich noch müssen sie aufgegeben werden. Insbesondere geht man nicht mehr davon aus, dass Migranten aus homogenen Kulturen und Milieus kommen. Manche gehen so weit, einen verbindlichen Bestand an Werten und Normen auch für die Aufnahmegesellschaft in Frage zu stellen.

Das Problem heißt Relativismus

Allerdings: Das Problem derartiger transkultureller Theorien ist der Relativismus, der sich mit der „Gerichtetheit“ von Integration nicht verträgt. In welche Mehrheit integriert sich ein Flüchtling, wenn es nur noch Minderheiten gibt? Anhand welcher Parameter – außer den wirtschaftlichen – lassen sich Entwicklungen messen? Wie wichtig eine gemeinsame Hochkultur in Zeiten der krisenhaften Isolation ist, beweist ein Blick auf You-Tube: Hauskonzerte, Autorenlesungen, Kammer-Choreografien in Kompaniestärke. United we stream: und was macht der Flüchtling, der dieses kulturelle Skript nicht versteht? Oder gern seinen eigenen Beitrag zum digitalen Kuscheln der Mehrheitsgesellschaft leisten möchte? Warum enthält unser Wohlfühlmenü kein Video der „Datteltäter“ oder einen Livestream des Fastenbrechens?

In Corona-Zeiten zeigt sich zweierlei: Neben „konstitutionellen“ sind auch kulturelle Fixpunkte sozial kohäsiv und damit unverzichtbar. Und zweitens führt genau dies für alle anderen wieder in die zwei Welten. In vorviralen Zeiten gab es vielversprechende Initiativen: Im Berliner Museumsprojekt „Multaka“ (Treffpunkt) erklärten syrische und irakische Freiwillige ausgewählte Objekte, auf Deutsch oder Arabisch.

Wie wichtig ist uns Integration?

Der dreißigjährige Krieg wurde so plötzlich zum Vorläufer religiöser Schismen und politischer Stellvertreterkriege in der islamischen Welt. Neue Erzählungen bereicherten den Bestand in Schauvitrinen und Sammlungen, scheinbar festgezurrte Lesarten gerieten in den Sog kultureller Überschreibung. So lernten beide Seiten. All das fällt jetzt weg. Gegenwärtig verhalten sich viele Flüchtlinge wie die statistischen Homunculi.

Sie arbeiten, oft in systemrelevanten Bereichen. Der genesene Boris Johnson dankte seinen ausländischen Pflegekräften. In den Pressekonferenzen diverser Corona-Gipfel fiel über die stillen Stützen der Konsolidierung, deren Wahrnehmbarkeit sich wieder auf den Vornamen beschränkt, kein Wort. Fünf Jahre konnten sie sich vor Aufmerksamkeit und Partizipationsangeboten kaum retten. Nun haben wir die Atempause, um unsere Rolle zu überdenken. Ist es möglich, dass uns die von Vorverschuldung und Missmanagement ungetrübte Bilanz wichtiger ist als gesellschaftliche – und europäische – Integration? Dass sich „moralstolze Alleingängelei“ (Ulf Poschardt) in genügsamer Selbstisolation wiederfindet?

EU der 28 Geschwindigkeiten

Solidarität im Jahr 2015 scheiterte ja nicht am Silvesterkater, sondern an der Erkenntnis, dass diese Migrantengeneration durch Fluchterfahrung und digitale Weltläufigkeit vergemeinschaftet worden ist. Sie lässt sich nicht als Arbeitsherde mit einklappbarer Identität, die nach Feierabend in ihre Parallelwelt verschwindet, einpassen. Und da Flüchtlinge über Corona-Europa verteilt sind, werden sie selbst ein gewichtiger Integrationsfaktor. In einer EU der 28 Geschwindigkeiten können sie eine gewichtige Rolle spielen.

Die Frage stellt sich, wie wir uns in dieses Europa integrieren wollen. Von Beginn der sogenannten Flüchtlingskrise an sollten Integration auf europäischer Ebene und Integration der Einwanderungswellen Hand in Hand gehen. Dafür nahm die Europäische Kommission viel Geld für Forschungsprojekte und Kulturprogramme in die Hand, insbesondere – strategisch unsinnig – bei der Entwicklung digitaler Werkzeuge.

Europas Zerfall?

Man könnte sagen, dass das Legitimationsdefizit des institutionellen Mischwesens EU durch ein Narrativ ersetzt werden sollte. Und dies wörtlich: Flüchtlinge erzählten dutzendfach ihre Geschichte; Heere von Sozialarbeitern, Bildungsverwaltern, Kulturinitiativen und Start-Ups fühlten den Puls. Heribert Prantl warnte schon früh davor, dass sich das Movens der Willkommens-Euphorie aus einer Verschiebung speist. Gerührt verfolgte die mediale Öffentlichkeit die Odyssee verlorener Söhne und Töchter in die Wiege Europas.

In den sozialen Netzwerken entspannen sich Empathie-Diskurse, bevor ein einziger Flüchtling Fuß auf das griechische Archipel setzte. Anders ausgedrückt: Die Angekommenen sollten die besseren Europäer sein; solidarisch, demokratisch, resilient. Während die meisten EU-Angehörigen ihr Handlungsdefizit hinter dem Monitum fehlender Partizipationsmöglichkeiten versteckten, hatten sich Flüchtlinge in einem beispiellosen Kraftakt zu Europäern befreit. Ihr Mythos wurde zum Mythos Europas. Wie schnell die europäische Gemeinschaft zerfallen kann, zeigen diese Tage.

Sogar das zweite große ordo der Märkte, die Globalisierung, steht zur Disposition. Die Krise fordert scheinbar den nationalstaatlichen Souverän, und in dessen Handlungsmuster passen „supranationale“ Europäer nicht hinein. Statt Bewegung verordnen wir uns Stillstand. Um nicht missverstanden zu werden: Ich bin ein klarer Gegner von Coronaexit-Orgien. Was mich irritiert, ist die Bereitwilligkeit, mit der wir den shut-down Europas akzeptieren und uns ins Private zurückziehen – in eine homogene Sozialstruktur und Kultur, die es nicht mehr gibt.

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