Europa in der Coronakrise - „Dann wird auf den Ruinen der EU etwas Neues entstehen“

Der polnische Europaparlamentarier Zdzisław Krasnodębski glaubt, dass die Europäische Union an der Coronakrise zerbrechen wird. Im Interview spricht er über zerstörte Illusionen, falsche Hoffnungen und einen Realitätsschock, der vielleicht sogar heilsam sein könnte.

Stürmische Zeiten - die EU-Flagge vor dem Parlament in Straßburg / picture alliance
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Herr Krasnodębski, wir trafen uns zum letzten Mal vor gut einem Jahr, als ich eine Reportage über die bevorstehenden Europawahlen schrieb. Damals kritisierten Sie, die Institutionen der EU würden sich zu viele Kompetenzen anmaßen. In der Corona-Krise erleben wir heute, dass die einzelnen EU-Staaten nur sich selbst zu vertrauen scheinen. Wie bewährt sich die Europäische Union in der aktuellen Krise?
Ich habe zwei Videokonferenzen mit EU-Kommissaren erlebt und muss sagen: Sie tun, was sie können. Aber natürlich sehen wir in dieser aktuellen Situation der Bedrohung, dass die EU keine Kompetenzen hat, um angemessen darauf zu reagieren.  Im Prinzip war ja schon seit Dezember klar, was da auf uns zurollt. Trotzdem wurden keine gemeinsamen Vorkehrungen getroffen. Die EU kann jetzt nur koordinieren und an der einen oder anderen Stelle unterstützen und Geld verteilen. Deswegen wird ja derzeit auch allenthalben Kritik geübt an der EU, nicht zuletzt in Polen. Aber diese Kritik geht irrtümlich davon aus, die EU könne mehr leisten. Doch das ist eben nicht der Fall. Im Prinzip führt uns diese Krise auf den Boden der Realitäten zurück.

In Europa sind Grenzen geschlossen worden zwischen den einzelnen Staaten, jetzt fehlt es zu Beginn der Spargelsaison an Erntehelfern – unter anderem auch aus Polen. Halten Sie solche Aktionen trotzdem für sinnvoll?
Wenn wir in dieser Situation vernünftigerweise dem Rat der Epidemiologen folgen, dann kann die weitere Ausbreitung des Coronavirus nur durch eine Beschränkung der Mobilität und der sozialen Kontakte verhindert werden. Da stellt sich die Frage, ob die Spargelernte wichtiger ist als die Gesundheit von Menschen. Es ist ja auch nicht so, dass es derzeit in Deutschland an Arbeitskräften mangelt. Warum kann man zum Beispiel nicht jene, die jetzt in der Gastronomie nichts zu tun haben, darum bitten, sich als Erntehelfer zu betätigen? Es ist doch schon bemerkenswert, wie abhängig Deutschland in vielen vitalen Bereichen von ausländischen Arbeitskräften ist – sei es in der Landwirtschaft, in der Pflege, beim Bau. Sogar bei den Ärzten, die jeden Tag von Stettin nach Brandenburg fahren – und in Polen dann eben fehlen. Ich habe die grenzenlose Arbeitsmobilität in der EU jedenfalls nie als große Errungenschaft empfunden, sondern eher als ein Problem.

Zdzisław Krasnodębski, Jahrgang 1953, ist seit 2014 EU-Abgeordneter der nationalkonservativen PiS-Partei. Er lehrte als Professor für Soziologie an der Universität Bremen und war bis 2019 Vizepräsident der EU-Parlaments. 

Aber ohne Grenzen ist der Wohlstand insgesamt höher.
Natürlich haben Grenzschließungen negative Auswirkungen auf die Wirtschaft. Aber derzeit geht es ums Überleben – und das ist eine Situation, die besonders für die jüngere Generation in Westeuropa völlig neu sein dürfte. Menschen meines Alters, ich bin 66, die aus Ost- und Mitteleuropa stammen, haben noch am eigenen Leib erfahren, was Entbehrungen bedeuten. Mich persönlich erinnert die heutige Lage ein bisschen an den Kriegszustand in Polen Anfang der 1980er Jahre. Wir erleben derzeit das Ende einer Utopie, nämlich der Utopie einer Welt ohne Grenzen, einer Welt der unbeschränkten Mobilität, des Massentourismus, der individuellen Freiheit um jeden Preis.

Aber müsste es angesichts der Krise nicht gerade mehr grenzüberschreitende Hilfsmaßnahmen geben? Warum werden nicht viel mehr Corona-Patienten aus Italien oder Spanien in Länder verlegt, die über entsprechende medizinische Kapazitäten verfügen?
Natürlich wäre das wünschenswert. Ich fürchte aber, daran zeigt sich, dass es mit der vielbeschworenen Gemeinschaft aller Europäer nicht besonders weit her ist. Wir erleben, dass in der Not die einzelnen Staaten sich selbst am nächsten sind. Das ist nicht einmal unmoralisch, weil es zeigt, dass wir zunächst eine Verpflichtung gegenüber dem Nächsten haben. Selbstverständlich ist es absolut begrüßenswert, wenn etwa Deutschland einige schwere Corona-Fälle aus Frankreich oder Italien übernimmt. Polen schickte auch ein Notärzte-Team nach Italien. Aber das ist eben alles nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Auch das ist eine harte Konfrontation mit der Realität.

Wenn es also mit der Solidarität der Europäer schon bei konkreter medizinischer Hilfeleistung nicht weit her sein sollte, dürfte es bei einer gemeinsamen Bewältigung der wirtschaftlichen Schäden durch die Krise erst recht schwierig werden. Halten Sie gemeinschaftliche Schuldverschreibungen wie Corona-Bonds in der EU für möglich?
Ich denke, um die Folgeschäden zu überwinden, bräuchte es tatsächlich so etwas wie einen gemeinsamen EU-Fonds, auf den alle Staaten je nach Bedarf Zugriff haben. Ich glaube aber nicht, dass es dazu kommen wird. Sollte am Ende jeder einzelne Mitgliedsstaat allein mit den Schäden fertig werden müssen, bedeutet das meines Erachtens allerdings das Ende der EU als politische Gemeinschaft. Dann wird auf den Ruinen der Europäischen Union eben etwas Neues entstehen, werden sich neue Kooperationen herausbilden. Womöglich tun sich die südeuropäischen Staaten zusammen oder die Visegrad-Länder mit Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn.

Der Europäische Gerichtshof hat soeben geurteilt, Polen, Ungarn und Tschechien hätten gegen EU-Recht verstoßen, indem sie es ablehnten, Griechenland oder Italien Asylbewerber abzunehmen. Wo war da die europäische Solidarität?
Die von Deutschland betriebene Migrations- und Flüchtlingspolitik des Jahres 2015 basierte auf einer geradezu absurden Ideologie, und deswegen hat es innerhalb der EU auch nie einen Konsens darüber gegeben. Heutzutage spricht nicht ohne Grund auch in Deutschland niemand mehr über Willkommenskultur – stattdessen werden Grenzen geschlossen. Aus polnischer Sicht hat es von Anfang an grundlegende Sicherheitsbedenken dagegen gegeben, Menschen ohne überprüfbare Identität aufzunehmen. Deutschland hat darunter bis heute zu leiden, Stichwort terroristische Gefährder. Übrigens frage ich mich, ob der EuGH nicht mit denselben Argumenten auch die aktuellen deutschen Grenzschließungen verurteilen müsste.

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