EU-Türkei-Deal - „Die wichtigste deutsche Außengrenze liegt in der Ägäis“

Auf dem Balkan und auf den griechischen Inseln steigt die Zahl der Flüchtlinge wieder an. Dabei hatte die EU 2016 ein Abkommen mit der Türkei geschlossen, um den Zustrom von Asylsuchenden zu regulieren. Kehrt die Flüchtlingskrise jetzt nach Europa zurück?

Auf der Flucht: Im bosnischen Lager Vucjak sind tausende Menschen auf dem Sprung nach Deutschland / picture alliance
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Gerald Knaus ist Migrationsforscher und Mitbegründer des Think Tanks European Stability Initiative (ESI). Als solcher hat er sich den Flüchtlingsdeal ausgedacht, den die EU im März 2016 mit der Türkei geschlossen hat. 

Herr Knaus, auf den griechischen Inseln sind die Flüchtlingscamps völlig überfüllt. Auf der Balkanroute rollt eine neue Flüchtlingswelle auf Mitteleuropa zu. Dabei hatte die EU Erdogan 2016 sechs Milliarden Euro dafür gezahlt, dass er die Flüchtlinge an der Weiterreise hindert. Ist der Deal gescheitert?
Nein. Die Türkei bekommt EU-Gelder für 3,6 Millionen syrische Flüchtlinge im Land. Von diesen sind auch dieses Jahr 99,6 Prozent in der Türkei geblieben. 2019 kamen bislang 50.000 Menschen auf den griechischen Inseln an. Das sind im ganzen Jahr weniger als vor der Einigung 2016 allein im Monat Februar kamen. 

Der Deal sah vor, dass Flüchtlinge aus Griechenland  in die Türkei zurückgebracht werden sollten. Für jeden dieser Flüchtlinge sollte die EU im Gegenzug einen Flüchtling aufnehmen. Griechenland brachte aber nur knapp 2.000 Flüchtlinge zurück, die EU nahm 24.348 Syrer auf. War das Ihr Plan?
Wir haben eine katastrophale humanitäre Situation auf den Inseln. Die Bearbeitung von Asylanträgen dauert dort derzeit Jahre. Das führt auch dazu, dass in diesem Jahr monatlich nur zwölf Menschen in die Türkei zurückgebracht wurden. Dass die EU der Türkei, dem Land mit den meisten Flüchtlingen weltweit, Syrer abnimmt, war davon unabhängig beschlossen worden. Es sind geringe Zahlen. Deutschland hat in 42 Monaten aus der Türkei 9.000 Flüchtlinge übernommen, 200 im Monat. 

Aber trotzdem wollen viele Syrer weiterhin nach Europa.
Ein Erfolg des Abkommens ist, dass sich seit März 2016 nur wenige Syrer aus der Türkei in Boote setzen. Sie dürfen nicht vergessen: In den zwölf Monaten vor der Einigung mit Ankara kamen eine Million Menschen aus der Türkei in die EU. Danach ist die Zahl dramatisch gefallen – und drei Jahre lang niedrig geblieben. 

Dabei sind die syrischen Flüchtlinge in der Türkei gar nicht mehr willkommen.
3,6 Millionen Flüchtlinge in der Türkei sind mehr Menschen, als viele EU-Länder Einwohner haben. In manchen Städten liegt der Flüchtlingsanteil bei 75 Prozent. Die Türkei hat mehr syrische Flüchtlinge aufgenommen als die gesamte EU. Und die Zahl wächst weiter, jedes Jahr kommen allein mehr als 140.000 Flüchtlingskinder in der Türkei auf die Welt. Dass solche Zahlen auch Spannungen erzeugen, überrascht nicht. 

Was hält die Flüchtlinge dort?
Viele Syrer arbeiten inoffiziell, es gibt Tausende neue Betriebe von Syrern, auch gehen mehr als 600.000 syrische Kinder in türkische Schulen. Das wird von der EU mitfinanziert, ebenso die medizinische Versorgung und Sozialhilfe von 20 Euro monatlich für 1,7 Millionen Syrer.

Wie kann die EU kontrollieren, dass das Geld auch wirklich bei den Flüchtlingen ankommt?
Hilfen werden etwa vom Roten Kreuz oder vom Welternährungsprogramm umgesetzt. Syrer bekommen die Sozialhilfe direkt auf ihr Konto überwiesen. Aus diesen Gründen kommen auch nur noch wenige Syrer in die EU. Die Türkei ist nicht dafür verantwortlich, dass das Abkommen in Griechenland zu scheitern droht. Syrische Flüchtlinge sind auf den Inseln in der Minderheit.

Woher kommen die Menschen dann?
Der Großteil aus Afghanistan, dazu kommen Menschen aus dem Kongo oder dem Irak.

Warum zieht sich die Bearbeitung ihrer Asylanträge auf den Inseln inzwischen so lange hin, dass einige dort jahrelang warten müssen?
Es fehlt an Asylbeamten, an Übersetzern, an Ärzten, an Personal für Berufungen. Und an Organisation. Die Lebensbedingungen für Asylsuchende sind unerträglich. Dabei kamen 2019 im Durchschnitt pro Tag weniger als 200 Personen an, und es müsste möglich sein, bei diesen Zahlen und einer gemeinsamen Anstrengung einiger EU-Staaten innerhalb von Wochen zu entscheiden, wer Schutz in der EU braucht und wer nicht. Doch dies scheitert seit 2016.

Gerald Knaus 

Das heißt, neben einem Türkei-Deal bräuchte die EU eigentlich auch einen Griechenland-Deal?
Es fehlt nicht an Geld. Für die Versorgung Asylsuchender in Griechenland hat die EU in den vergangenen Jahren zwei Milliarden Euro bereitgestellt. Es fehlt an Organisation und an einer Strategie, wie andere Länder Griechenland effizient helfen könnten. 

Woran ist es gescheitert?
Die Zahl der aus der Türkei Kommenden ist nach dem März 2016 so schnell gefallen, dass viele Regierungen wohl dachten, das Problem sei gelöst. Doch auf den Inseln war es das nie. Es geht jetzt darum, dass sich einige EU-Staaten so schnell wie möglich mit der neuen Regierung in Athen zusammensetzen und einen konkreten Plan machen, bevor Anfang 2020 in Griechenland und auf dem Balkan alles zusammenbricht. 

Was würde passieren, wenn das nicht gelingt?
Dann werden spätestens im Frühjahr wieder viel mehr Menschen kommen. Und ohne schnelle Verbesserungen wird es im Winter Tote geben, auf den Inseln, am Festland oder auf der Balkanroute.

Wie sieht die Lage in den Camps aus?
Ich war 2016 auf Lesbos – und im letzten Winter erneut. Es war schlimm: Es gab einen griechischen Arzt für Tausende, keine Sicherheit, Menschen lebten in Zelten. Seitdem hat sich die Zahl der Menschen dort und auf anderen Inseln mehr als verdoppelt. 

Die Lage ist schon gekippt?
Noch wäre die Lage mit der richtigen Politik beherrschbar. Anfang 2016 kamen noch 2.000 täglich auf den Inseln an, das Zehnfache von heute. Sollten die schlimmen Zustände jedoch bleiben, in der Hoffnung, der Abschreckung zu dienen, wäre dies nicht nur zynisch und im Widerspruch zum EU Recht. Es klappt auch nicht.

Offenbar ja doch. Warum kommen die Menschen trotzdem?
Weil alle mittlerweile wissen: Nach einigen Monaten werden sie aufs griechische Festland gebracht. Wer dort ist, schlägt sich dann weiter durch zum Balkan. Das sehen wir gerade an der bosnisch-kroatischen Grenze. 

Erdogan benutzt die Flüchtlinge aber auch als Druckmittel. Im September hat er damit gedroht, die Grenzen aufzumachen und Europa „mit Flüchtlingen zu fluten“, wenn ihm die EU nicht mehr Geld zahlt  Haben sich Deutschland und die EU mit dem Deal erpressbar gemacht?
Nein, die EU und die Türkei waren schon vor dem Abkommen voneinander abhängig, weil sie eine Land- und Seegrenze teilen. Gäbe es kein Abkommen, würde sich daran nichts ändern. , 

Die EU gerät wegen dieses Deals zunehmend in die Kritik. Gab es nie Überlegungen, ihn wieder zu kündigen?
Nein, und dass dies bis heute keine EU-Regierung vorschlägt, hat einen guten Grund. Zwischen der Türkei und Griechenland gibt es keine internationalen Gewässer. Es wäre illegal und auch praktisch unmöglich für Griechen oder Frontex, Flüchtlingsboote dort zu stoppen. Auf dem Wasser kann man keinen Zaun bauen. 

Was würde passieren, wenn die EU den Deal kündigen würde?
Deutschland und die syrischen Flüchtlinge in der Türkei wären die größten Verlierer. Die meisten der dann wieder wachsenden Zahl von Flüchtlingen würden nach Deutschland kommen. Derzeit hingegen zahlt die ganze EU solidarisch für die Verbesserung der Lage der Syrer in der Türkei. Doch für Erdogan ist das Abkommen genauso wichtig wie für die EU. 

Warum?
Die Türkei braucht das EU-Geld für die Versorgung der Syrer. Selbst wenn nächstes Jahr 150.000 Syrer in die EU aufbrechen würden, was unwahrscheinlich ist, Griechenland aber ins Chaos stürzen würde, blieben immer noch 3,6 Millionen in der Türkei. Für den sozialen Frieden dort ist die langfristige Unterstützung der EU extrem wichtig. Daher sollte sie im Interesse aller auch weitergehen. 

Völkerrechtswidrig hat Erdogan begonnen, Flüchtlinge in den Norden Syriens zurückzuschicken. Menschenrechtsorganisationen berichten von Plünderungen und Hinrichtungen. Machen sich die EU und Deutschland nicht mitschuldig an solchen Verbrechen, wenn sie ihn finanziell unterstützen?
Welchen Einfluss hätte die EU auf die türkische Flüchtlingspolitik, wenn sie die Türkei finanziell allein lassen würde? Die Idee, eine größere Zahl in Gebieten in Nordsyrien anzusiedeln, ist vollkommen unrealistisch. Sie wäre auch illegal. Ja, es gibt mehr Stimmen in der Türkei, auch von der Opposition, die fordern, Syrer zurückzuschicken. Doch umsetzbar ist das nicht. Deshalb ist auch Erdogan von dieser Idee in letzter Zeit wieder abgerückt. Dies zu fordern, war wohl kurzfristige politische Taktik.

Inwiefern?
Weil tatsächlich wahrscheinlicher ist, dass die Zahl der Flüchtlinge in der Türkei weiter steigen wird, etwa aus der umkämpften Provinz Idlib. Dort werden von Assad und russischen Truppen Spitäler beschossen, Millionen sind bedroht. Dazu kommt: Alein durch Geburten könnte die Zahl der Syrer in der Türkei in den nächsten 20 Jahren auf sechs Millionen wachsen. Das ist eine gewaltige Herausforderung. 

Der Deal ist kein Freibrief für Menschenrechtsverletzungen im eigenen Land?
Die EU kritisiert Menschenrechtsverletzungen in der Türkei – mehr als etwa die USA, und Deutschland tut es mehr als andere Europäer. Es gibt keinen Freibrief. 

Ist das nicht trotzdem ein ziemlich schmutziges Geschäft, auf das sich die EU da eingelassen hat: Sie gibt Erdgan Geld dafür, dass er ihnen die Flüchtlinge vom Hals hält?
Es ist nicht unmoralisch, Flüchtlingen in einem Drittland mit Sozialhilfe, Schulbildung und Gesundheitsversorgung zu helfen. Oder dafür zu sorgen, dass die Zahl der Menschen, die in der Ägäis ertranken, von 1.100 im Jahr vor der Einigung 2016 auf weniger als 100 im Jahr danach fiel. 

Aber dieses Drittland ist kein sicheres Drittland. Wie kann die EU einem Diktator Menschen anvertrauen, der auch die Menschenrechte der eigenen Bevölkerung mit Füßen tritt?
Soll man Flüchtlinge dafür bestrafen? Oder sind europäische Staaten bereit, drei Millionen Syrer aus der Türkei in die EU zu holen? Man muss anerkennen, was die Türkei hier seit Jahren leistet – und darf trotzdem Menschenrechtsverletzungen gegen türkische Journalisten, Aktivisten oder Politiker kritisieren. 

Woher kommen die Leute, die jetzt auf der Balkanroute nach Deutschland aufmachen?
Die allermeisten von ihnen kamen zuvor aus der Türkei nach Griechenland. Dort, auf dem Festland, wächst die Zahl der Flüchtlinge seit Sommer 2019 wieder. 

Woran liegt das?
Bis 2017 gab es ein EU-Umverteilungsprogramm in Griechenland. Da wurden mehr als 20.000 Menschen, die Schutz brauchten, vom Festland in verschiedene EU Länder gebracht. Wer heute ankommt, steckt in Griechenland fest, ohne Aussicht auf eine Asylentscheidung innerhalb der nächsten Jahre. Daher versuchen wieder mehr Menschen, mit dem Flugzeug oder über den Balkan nach Mitteleuropa zu kommen.

Hat die Kanzlerin im Herbst 2015 das falsche Signal gesetzt, als sie Tausende von Flüchtlingen über die deutsch-österreichische Grenze ließ?
Die Menschen, die damals über die österreichisch-deutsche Grenze kamen, hatten die Schengen-Grenze ja bereits zuvor in Ungarn überschritten. Das so darzustellen, als hätte Deutschland die Grenze geöffnet, war der erfolgreiche Bluff von Viktor Orban. Tatsächlich aber lag Ungarn an der EU Außengrenze. Orban suggerierte damals, man könne den Zustrom leicht kontrollieren. Dabei hat er ihn aber im Oktober 2015 nur nach Slowenien umgelenkt. 

Seit dem Sommer wird die Balkanroute wieder verstärkt genutzt. Wann, glauben Sie, kommen die ersten in Deutschland an?
Tatsächlich kommen schon seit März 2016 Menschen über die Balkanroute nach Deutschland, es sind heute aber viel weniger als zuvor, weil viel weniger nach Griechenland kamen. Wer es aber von Afghanistan oder Pakistan bis zur Grenze Kroatiens geschafft hat, lässt sich dort selbst mit menschenrechtswidrigen Methoden nicht lange aufhalten. Die wichtigste deutsche Außengrenze liegt aber in der Ägäis. Und die wichtigsten Partner zur Kontrolle dieser Grenze sitzen in Athen und Ankara. 

Die Fragen stellte Antje Hildebrandt. 

 

Im Nachgang des Interviews erreichte uns folgender Brief des ungarischen Botschafters in Deutschland:

Berlin, den 3. Dezember 2019

Sehr geehrter Herr Marguier,

Sehr geehrter Herr Schwennicke,

am 2. Dezember 2019 erschien auf der Webseite von Cicero ein Interview mit Gerald Knaus, in dem er sich – wie schon des Öfteren – zu der Migrationsfrage äußerte und – ebenfalls nicht ganz ohne Beispiel – Ungarn auch diesmal nicht vergaß zu erwähnen. Erlauben sie mir auf einige irreführende Behauptungen von Herrn Knaus bezüglich meiner Heimat zu reagieren.

In dem Interview weist Herr Knaus darauf hin, dass, „die Menschen, die damals über die österreichisch-deutsche Grenze kamen, die Schengen-Grenze ja bereits zuvor in Ungarn überschritten hatten”. Es bedarf keiner besonderen Erklärung, nur rudimentärer Geographiekenntnisse und die Liste der EU-Mitgliedsländer, um diese Behauptung in den richtigen Kontext zu stellen: denn die durch den Korridor ankommenden Migranten haben schon etwa 1000 Kilometer früher die Schengen- und die EU-Außengrenzen überschritten, lange bevor sie in Ungarn angekommen sind.

Ein anderer Punkt von Herrn Knaus, nachdem „Orban damals suggerierte, man könne den Zustrom leicht kontrollieren”, ist ebenso grundfalsch. Ungarn hat ständig behauptet, dass der Schutz der EU-Außengrenzen eine schwere Aufgabe ist, die aber bewältigt werden kann und bewältigt werden muß, auch weil es unsere Pflicht ist, sie zu bewältigen, wenn wir die Sicherheit der EU und ihrer Bürger, den von Schengen geschützten Binnenmarkt und das europäische Lebens-und Wirtschaftsmodell nicht gefährden wollen.

Herr Knaus behauptet zudem, dass der Zustrom umgelenkt wurde, was ebenfalls absurd ist. Der Zustrom wurde nicht umgelenkt, sondern es wurde ein Prozess in Gang gesetzt, infolge dessen eine zunehmende Anzahl von Mitgliedstaaten erkannten, dass die Außengrenzen geschützt werden können und müssen. Zwar hat die EU einiges an Zeit gebraucht im Bereich des Schutzes der EU-Aussengrenzen Fortschritte zu erzielen, vier Jahre nach der großen Welle scheint es zu bewiesen, dass wir Recht behielten.

Für die Kenntnisnahme der Richtigstellung danke ich im Voraus, und verbleibe

mit freundlichen Grüßen

Dr. Péter Györkös

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