EU in der Krise - Europa als Freilichtmuseum

Flüchtlingspolitik, Trump, Brexit: Der EU stehen große Herausforderungen bevor. Doch Europa wirkt nicht stark, sondern morsch, vom Zerfall bedroht. Das zeigt sich auch auf seinem Dach, in den Alpen

Gerade für Besucher aus dem Fernen Osten ist Europa nummehr ein Themenpark des vorigen Jahrhunderts / picture alliance
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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„Welche anderen Kunden?“, fragt Frau Wegmüller auf unsere Frage, ob andere Kunden schon warteten – in dieser Mischung aus Witz, herbem Charme und Fatalismus, die wir schon auf der Hinfahrt liebgewonnen hatten. Es ist Samstag, sieben Sonnentage in einer der überwältigendsten Gletscherlandschaften der Alpen gehen zu Ende. Wengen ist ausgestorben. Nach unserer Fuhre zum Bahnhof haben Frau Wegmüller und ihr betagter kleiner Transporter nichts mehr zu tun. Keine Gäste, keine Fahrten, so einfach ist das.

Willkommen im Themenpark Europa

Wengen im Ausverkauf: Fünf große Hotels stehen leer, warten auf einen neuen Besitzer. Plastikplanen von Immobilienfirmen vor charmanten alten Fassaden begrüßen den Ankömmling. Das Pittoreske des Ortes in grandioser Lage geht seit Jahren allmählich ins Morbide über. Wengen stürbe, wären da nicht die Besucher aus Pakistan, Indien, China, Korea, Japan und der arabischen Welt. Sie fahren mit der Zahnradbahn bis auf das Jungfraujoch. „Top of Europe“, der höchste Punkt Europas, den man auf Gleisen erreichen kann. 3466 Meter über Seehöhe eröffnet sich ein gigantischer Blick auf den breiten Strom des Aletschgletschers. An der Mittelstation, der Kleinen Scheidegg, stapfen die Gäste vom anderen Ende der Welt in ungeeigneten Schühchen durch den nassen Firn, lassen sich mit Skifahrern wie mit Marsmenschen fotografieren. Dann schnell weiter. Abends ist schon der Eiffelturm dran. Europa als Freilichtmuseum, als Streichelzoo, als Themenpark, als Zeitreise ins vorige Jahrhundert.

Die Zukunft findet woanders statt

Wengen, ein symbolischer Ort. Die Zukunft findet woanders statt, in Europa kann man sich die Vergangenheit anschauen. Politisch wird wenig gegen diese Tendenz getan. Im Gegenteil. Zur gleichen Zeit, in der in Wengen die letzten Wochengäste abfahren, attackiert der ungarische Premier Viktor Orban bei einem Kongress der europäischen Christdemokraten auf Malta die Migrationspolitik der deutschen Kanzlerin, die mit unnachahmlichen Flunsch und starrer Miene zuhört. Zur gleichen Zeit legt Großbritannien in Brüssel sein Austrittsgesuch aus der EU vor, wofür mit einer langen Rechnung von Rückforderungen gekontert wird.

Um den Felsen von Gibraltar streiten Briten und Spanier so heftig, dass ein ehemals hochrangiger britischer Tory-Politiker auf der Insel Parallelen zum Krieg um die Falkland-Inseln zieht. Und US-Präsident Trump soll Kanzlerin Merkel bei ihrem Besuch in Washington eine Nato-Kostennote im dreistelligen Milliardenbereich unter die Nase gehalten haben: „Da seht her, das schuldet ihr uns für all die Militäreinsätze der vergangenen Jahre, die wir für euch durchgezogen haben.“ Es wird neuerdings pingelig abgerechnet unter Partnern.

Schon wieder oder noch immer vom Zerfall bedroht?

Europa und der gesamte Westen stehen unter äußerem Druck wie nie. Statt sich in dieser Lage unterzuhaken, verfallen die Einzelteile des Systems in Egoismus. In ein „Wir gegen uns“. Das spüren auch die Menschen, die sich zu den „Pulse of Europe“-Demonstrationen zusammenfinden. Es wird ernst. Es ist schon ernst.     

„Könnte etwa unsere eigene Version der westlichen Zivilisation genauso plötzlich zusammenbrechen?“, fragte vor sieben Jahren der schottische Historiker Niall Ferguson mit Blick aufs alte Rom und kam zu dem Schluss, diese Angst erschiene „begründeter (...) denn je.“ Jahrzehnte zuvor formulierte ein anderer großer Geist unter Bezug auf sein Herkunftsland ähnlich: „Deutschland wird sich daher eines Morgens auf dem Niveau des europäischen Verfalls befinden, bevor es jemals auf dem Niveau der europäischen Emanzipation gestanden hat.“ So schrieb Karl Marx in seiner Kritik zur Hegelschen Rechtsphilosophie. Es lohnt sich, das Zitat nachzuschlagen und im Zusammenhang zu lesen. Und es gibt allen Anlass, für das europäische Projekt auf die Straße zu gehen. Damit für die Touristen aus aller Welt nicht der Refrain einer Band namens „Geier Sturzflug“ aus dem Jahr 1983 gilt, die sang, man solle sich mit einem Besuch Europas besser beeilen. 

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