Flüchtlingspolitik der EU - Europa macht die Grenzen dicht

Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dürfen Flüchtlinge an der EU-Grenze abgeschoben werden. Das Urteil passt zu dem neuen Kurs, den die EU in der Flüchtlingspolitik eingeschlagen hat.

Geflüchtete, die über das Mittelmeer kommen, muss die EU auch künftig versorgen / picture alliance
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Eric Bonse berichtet seit 2004 aus Brüssel über Europapolitik. Er betreibt auch den EU-Watchblog „Lost in Europe“.

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Fünf Jahre nach der großen Krise 2015 will die EU-Kommission die Flüchtlingspolitik neu aufstellen. Europa müsse ein „Vorbild“ sein, „wie man Migration nachhaltig, mit humanem Ansatz, aber auch effektiv steuern kann“, sagte Behördenchefin Ursula von der Leyen nach einem Besuch bei Kanzlerin Angela Merkel. Schon in den nächsten Wochen will von der Leyen ihr Konzept vorlegen. 

Doch die „europäische Lösung“, die sich nun abzeichnet, hat so gar nichts mit offenen Grenzen und solidarischen Verteilungsschlüsseln zu tun. Sie ist ganz nach dem Geschmack von Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz, der Merkel schon Ende 2015 mit der Schließung der Balkanroute einen Strich durch die Rechnung gemacht hat.

Bröckelt die Festung Europa? 

Die Rede ist von zwei Entscheidungen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben – aber dazu führen könnten, dass die „Festung Europa“ noch undurchlässiger wird. Die erste Entscheidung fiel im Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, die zweite bei einem Treffen der Außenminister in Brüssel. Beide Vorgänge stellen die EU-Flüchtlingspolitik auf den Kopf.

Besonders deutlich ist das beim Urteil aus Straßburg. Das Gericht entschied, dass Spaniens Behörden rechtmäßig handelten, als sie 2014 zwei Migranten aus Mali und der Elfenbeinküste gleich nach dem Grenzübertritt abschoben. Zuvor waren die Männer über einen Grenzzaun an Spaniens nordafrikanischer Enklave Melilla geklettert. Eine Chance auf ein ordentliches Asylverfahren hatten sie nicht. 

Europäischer Gerichtshof genehmigt „Pushbacks“ 

Es war das erste Mal, dass der Gerichtshof für Menschenrechte einen so genannten „Pushback“ genehmigte – und das  könnte weitreichende Konsequenzen haben. Denn nicht nur Spanien dürfte sich nun ermutigt fühlen, seine Grenze in Nordafrika noch hermetischer abzuriegeln. Andere EU-Länder wie Ungarn oder Griechenland könnten das Urteil nutzen, um den Zugang zu Asyl weiter zu beschränken.

Die „Pushbacks“ finden zwar ohnehin schon statt – sogar in Kroatien, das derzeit den EU-Vorsitz innehat. Doch bisher sehen sich die Regierungen immerhin noch genötigt, kollektive Abschiebungen abzustreiten oder mit besonderen Umständen zu rechtfertigen. Das könnte sich nun ändern. „Das Urteil wird andere Staaten an Europas Außengrenzen ermutigen, Geflüchtete als rechtlos zu behandeln“, sagte der Jurist Wolfgang Kaleck dem Spiegel.

Aus für Marine-Mission „Sophia“

Gelassener zeigt sich Nora Markard von der Universität Münster. Das Urteil sei zwar „rechtlich und politisch eine Katastrophe“, so die Professorin für International Public Law and International Human Rights. Es habe für „Aufruhr in der Flüchtlingsrecht-Szene“ gesorgt. Das Gericht habe aber ausdrücklich seine frühere Rechtsprechung bekräftigt, wonach „Pushbacks“ auf offener See verboten sind. Für Flüchtlinge aus Libyen, die auf dem Mittelmeer gerettet werden, müsse die EU auch künftig sorgen.

Doch nicht nur die Rechtsprechung hat sich geändert. Auch die Politik fährt einen härteren Kurs, wie die Entscheidung der EU-Außenminister zeigt, die Marinemission „Sophia“ vor der Küste Libyens zu beenden. „Sophia“-Schiffe hatten seit der Gründung der Mission 2015 rund 45.000 gerettete Flüchtlinge nach Italien gebracht. Damit soll nun Schluß sein, beschlossen die Außenminister, nachdem sich Österreich, Ungarn und Italien quer gelegt hatten.

Unerträgliche Zustände in Libyen als Fluchtursache 

Ein neuer EU-Einsatz soll das Waffenembargo gegen Libyen überwachen, ohne dabei Bootsflüchtlinge aufzunehmen. Mehr noch: Die Mission wird von vornherein so angelegt, dass Flüchtlinge kaum eine Chance haben, die Militärboote aus der EU zu erreichen – und wenn doch, dann soll der Einsatz abgebrochen werden. Nur so lasse sich der „Pull-Faktor“ ausschalten, begründet Österreichs konservativer Kanzler Sebastian Kurz seine harte Haltung.

Allerdings ist umstritten, ob dieser „Pull-Faktor“ vor der libyschen Küste überhaupt existiert. Experten der Internationalen Organisation für Migration konnten ihn jedenfalls nicht nachweisen. Man könne steigende oder sinkende Zahlen nicht einem einzigen bestimmten Faktor zuschreiben, so die Fachleute. Schließlich könne man in Libyen ja auch von einem „Push-Faktor“ sprechen – den unsäglichen Zuständen in den Flüchtlingslagern.

Der Bürgerkrieg in Libyen erhöht den Druck 

Unklar ist auch, ob sich die EU so leicht aus der Verantwortung stehlen kann. Dass die neue Marine-Mission 100 Kilometer vor der Küste Ost-Libyens stationiert wird, heißt ja noch nicht, dass den Europäern die Lage in den Lagern in Libyen von nun an gleichgültig sein könnte. Im Gegenteil: Vincent Cochetel, Sonderberichterstatter für das UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) in der Mittelmeerregion, hat an die EU appelliert, sich auch künftig an Rettungsaktionen zu beteiligen.

Das könnte auch dringend nötig werden, wenn der Bürgerkrieg in Libyen eskaliert und noch mehr Menschen zur Flucht über das Mittelmeer getrieben werden. Die EU hat zwar nach der großen Krise 2015 viel von Fluchtursachen-Bekämpfung gesprochen. Doch in Libyen zeigt sich nun, dass sie viel zu wenig dafür getan hat. Auch die neue Libyen-Politik dürfte daran nicht viel ändern. Selbst wenn es der EU gelingen sollte, das Waffenembargo zu überwachen, wäre der Bürgerkrieg längst nicht beendet.

Gesucht: Europäischer Konsens zur Lastenverteilung 

Was fehlt, ist immer noch eine Gesamtstrategie. Sie müsste die Bekämpfung der Fluchtursachen ebenso einschließen wie eine Steuerung von Push- und Pull-Faktoren. Dies wiederum kann jedoch nur gelingen, wenn sich die EU-Staaten endlich auf eine faire Lastenteilung bei den Flüchtlingen einigen. Andernfalls werden sich immer wieder Staaten finden, die auf noch mehr Härte dringen – und versuchen, die Verantwortung auszulagern.

Von der Leyen und ihre Kommission sind von einer solchen Gesamtstrategie noch weit entfernt. Bisher ist es nicht einmal gelungen, einen freiwilligen Verteilungs-Schlüssel zu etablieren, wie ihn Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) im Herbst auf Malta vorgeschlagen hatte. Immerhin 16 Staaten seien mit dem Mechanismus, der die Verteilung von geretteten Bootsflüchtlingen auf die EU-Länder regelt, im Grundsatz einverstanden, sagt der grüne Europaabgeordnete Erik Marquardt. Dass es trotzdem keinen Fortschritt in Brüssel gebe, sei unverständlich. Die öffentliche Debatte werde „auf einer populistischen Ebene“ geführt, die pragmatische Lösungen verhindert. 

 

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