Belarus, der Migrationspakt und die Einstimmigkeit - Der beinahe irreparable Geburtsfehler der EU

Bei zwei großen Themen, dem Migrationspakt und dem Umgang mit dem Diktator Lukaschenko, droht die Europäische Union gerade doppelt an ihrem Einstimmigkeitsprinzip zu scheitern. Es gehört abgeschafft. Aber wie?  

Zankapfel Moria: Österreich und die Visegrad-Staaten sind gegen den EU-Migrationspakt / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

So erreichen Sie Christoph Schwennicke:

Anzeige

Demokratie ist, wenn eine Mehrheit sich auf etwas verständigt und diejenigen, die anderer Meinung sind, es akzeptieren und ertragen, dass die Entscheidung nicht in ihrem Sinne erfolgt ist. Beispiel: 2015 waren viele Menschen der Meinung, dass die Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin nicht in Ordnung war.

Dennoch hat Angela Merkel die folgende Bundestagswahl 2017 gewonnen oder jedenfalls nicht krachend verloren. Sie hängte sich in eine  weitere Amtszeit. Offenbar waren immer noch mehr Menschen der Meinung, dass das Land insgesamt gut mit ihr fährt. Also regiert die Bundeskanzlern weiter. So geht Demokratie. 

Hohe Ansprüche an die Reife eines Gemeinwesens

Dieses Prinzip der Mehrheit stellt hohe Ansprüche an die Reife eines Gemeinwesens und deren Mitglieder. Diese Reife hat sich die Europäische Union bei ihrer Gründung nicht getraut, zugrunde zu legen. Weil hier bei einem Mehrheitsprinzip nicht nur in die Persönlichkeitsrechte oder die Ansichten einzelner Wahlbürger eingegriffen werden würde, sondern in die Souveränität von Nationalstaaten, die sich diese Autonomie nicht generell nehmen lassen wollten. So kam das Einstimmigkeitsprinzip zustande. Praktisch in allen wichtigen Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik, der Sozialpolitik und der Finanzen müssen alle Mitgliedsstaaten zustimmen. Sonst kommt kein Beschluss zustande.

An zwei Ecken gleichzeitig erlebt die Europäische Union gerade, was sie sich damit für eine Fußfessel angelegt hat. Da ist zum einen die Frage, wie die Europäische Union den weißrussischen Machthaber Alexander Lukaschenko mit Sanktionen dazu bekommen könnte, dem Willen der Mehrheit seiner Bevölkerung zu entsprechen und die Macht endlich aus den diktatorischen Händen zu geben. 

Das Land Zypern aber steht einem solchen Beschluss mit einem Veto im Weg. Gar nicht etwa wegen Belarus und Lukaschenko. Sondern weil es zugleich Sanktionen gegen die Türkei durchsetzen möchte, die sich in der Region Erdgasvorkommen auf See auf robuste Weise zu Lasten anderer Mittelmeeranrainer sichern möchte. Die Mehrheit der EU-Mitgliedsländer möchte aber Zypern diesen Gefallen nicht tun, weil die Türkei ein wichtiger Faktor in der Frage ist, wie hoch der Migrationsdruck auf die Europäische Union ist. 
 

Die Blockade Osteuropas

Beim Migrationspakt, dessen erste debattenwürdige Vorschläge die Europäische Kommission vergangene Woche vorgelegt hat, zeichnet sich eine ebenso lähmende Veto-Situation ab. Obwohl die Vorschläge der Kommission beileibe nicht die Handschrift Deutschlands tragen, sondern restriktiver Natur sind, sträuben sich Österreich und die Visegrad-Staaten gegen jeden Ansatz einer einvernehmlichen Lösung, ganz so, als könne man sich die Migration wegwünschen, wenn man nur konsequent genug dagegen ist. 

Bei den Sanktionen gegen Belarus ist die Blockade schon da, der Gipfel der Staats- und Regierungschefs zum Migrationspakt ist verschoben worden – angeblich wegen eines Coronafalles, wahrscheinlicher ist jedoch, dass eine ähnlich vertrackte Situation auch bei diesem Thema allen vor Augen gestanden hätte.  

Eine Inventur steht an

Es wird daher gar nicht anders gehen. Die Einstimmigkeit im Rat muss weg, wenn die Europäische Union wieder ein wirklich handlungsfähiger Player im globalen Geschehen werden möchte. Nur: Wie soll das Prinzip gekippt werden? Es muss ja einstimmig gekippt werden. Die logische Konsequenz aus dieser Selbstfesselung kann nur sein, dass im Zuge eines Abschieds von der Einstimmigkeit das ein oder andere Land auch Abschied nimmt von der Gemeinschaft.

Das wäre hart und schmerzhaft, zumal sich eben erst mit Großbritannien ein großes Land erstmals aus dieser Gemeinschaft verabschiedet hat. Aber möglicherweise muss diese Inventur auch einfach sein. Bevor diese Laokoon-Gruppe so in sich selbst verschlungen bleibt, wäre ein klarer Schnitt erforderlich und das Verabschieden derjenigen, die nicht gewillt sind, mehr Demokratie in Europa zu wagen und zu tragen.    

So geht es jedenfalls nicht mehr weiter. 

Anzeige