Erdogan - Keine Aussicht auf Mäßigung

Der Streit um die Wahlkampfauftritte türkischer Politiker spitzt sich weiter zu. Der türkische Präsident Erdogan sucht vor dem Verfassungsreferendum jede Konfrontation mit dem Westen – und stellt die Nato vor eine Zerreißprobe

Das Verhältnis zwischen der Türkei und europäischen Staaten könnte nicht angespannter sein / picture alliance
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Die türkische Regierung ist offensichtlich zu allem bereit. Wer bis vor Kurzem noch darauf hoffte, Erdogan und seine Administration würden es bald gut sein lassen mit all diesen absurden Nazi-Vergleichen oder den Versuchen, türkische und türkischstämmige Bürger im Ausland gegen ihre Heimat- beziehungsweise Gastgeberstaaten aufzuwiegeln, wurde spätestens an diesem Wochenende eines Besseren belehrt. In Ankara setzt man weiter auf Eskalation – koste es, was es wolle. Und die Kosten sind hoch: für die Wirtschaft in der Türkei, für die innenpolitische Stabilität in den europäischen Ländern mit einem hohen Anteil an türkischstämmigen Migranten. Und nicht zuletzt auch für das geopolitisch ohnehin höchst brisante Spannungsfeld zwischen zerfallenen Staaten in Nahost, Flüchtlingsströmen, einem aufbegehrenden Russland, der geschwächten Europäischen Union – und dem westlichen Militärbündnis.

Erdogan zu allem bereit

Erdogan scheut kein Mittel der Provokation und wird weiterhin darauf bestehen, dass er und seine Leute auf fremdem Territorium für ein Verfassungsreferendum werben dürfen, das demokratische Leitplanken abräumen soll. Die Niederlande lassen sich das zwar nicht bieten. Aber es ist fraglich, ob sie genauso reagiert hätten, wenn dort am Mittwoch keine Wahlen wären, bei denen sich die Partei des Scharfmachers Geert Wilders als stärkste politische Kraft etablieren könnte. CDU und SPD dürften also sehr, sehr erleichtert darüber sein, dass in der Türkei schon im April über die neue Verfassung abgestimmt wird und danach der ganze Spuk hoffentlich erst einmal vorbei sein könnte. Denn es ist kaum vorstellbar, dass die Bundesregierung ähnlich langmütig reagiert hätte, wäre sie mit dem Wahltermin in einer ähnlich heiklen Situation wie unsere niederländischen Nachbarn.

Nun mag es tatsächlich vernünftig sein, sich von einem außer Rand und Band geratenen türkischen Staatspräsidenten nicht provozieren zu lassen. Aber die Frage ist natürlich: Wie geht es nach dem 16. April weiter? An diesem Tag stimmen die Türken über die Zukunft ihres Landes ab, und es wäre eine ziemliche Überraschung, sollte sich Erdogan mit seinen Plänen nicht durchsetzen. Schon jetzt hat er deutlich gemacht, dass er gewillt ist, seine im Ausland lebenden Landsleute zu agitieren und sie gewissermaßen als fünfte Kolonne seines neoosmanischen Reiches zu instrumentalisieren. Dass etliche davon bereit sind, ihm zu folgen, zeigt übrigens schlaglichtartig die Grenzen der Integrationsfähigkeit sowohl der Bundesrepublik wie auch bestimmter Einwanderermilieus auf. Aber das ist natürlich eine politisch unerwünschte Diskussion. Der türkische Staatspräsident jedenfalls dürfte schon aus purem Machtkalkül in Zukunft noch weniger Interesse denn je daran haben, dass das Zusammenleben zwischen türkischstämmigen und „autochtonen“ Bürgern auf deutschem Boden konfliktfrei verläuft.

Der vom „Westen“ verachtete Märtyrer

Das ist die eine Ebene. Die andere betrifft die Mitgliedschaft der Türkei in der Nato. Auch sie ist jetzt offensichtlich zu einem Faustpfand Erdogans geworden, und es wird sich schon bald zeigen, wie weit er damit gehen will. Angesichts der skrupellosen Machtspiele des designierten Alleinherrschers aus Ankara kann nicht einmal ausgeschlossen werden, dass er einen Bündnisfall nach Artikel 5 des Nato-Vertrages herbeiführt, um seine Nato-Partner in Verlegenheit und sich selbst einmal mehr in die Rolle des vom „Westen“ verachteten Märtyrers zu bringen. Die Lage im türkischen Nachbarstaat Syrien ist unübersichtlich genug, um einen solchen Fall heraufzubeschwören: Es reicht ein Angriff syrischer Milizionäre auf türkisches Territorium, und schon steht die Nato vor einer Zerreißprobe. Russland als einer der wichtigsten Akteure im syrischen Bürgerkrieg hätte zweifelsfrei die Möglichkeiten, bei der Inszenierung eines solchen Coups behilflich zu sein. Das russische Interesse, dem sich in einer massiven Legitimationskrise befindlichen Verteidigungsbündnis zu schaden, ist ohnehin größer denn je.

Es muss nicht so weit kommen. Aber Erdogan hat in den vergangenen Tagen deutlich gemacht, dass er die Konfrontation mit der EU sucht. Wer so vorgeht, der hält sich kaum noch einen Rückweg offen. Es mag aus deutscher Sicht klug sein, (vorerst) mit einer Beschwichtigungsstrategie auf die Provokationen der türkischen Regierung zu reagieren. Aber zu glauben, mit der Zeit und nach dem Referendum werde sich schon alles wieder einrenken, ist unrealistisch. Erdogans Feindbild ist der Westen. Ob die Nato unter solchen Umständen Bestand haben kann, erscheint mehr als zweifelhaft – zumal der neue amerikanische Präsident kaum zum glaubwürdigen Garanten für das atlantische Verteidigungsbündnis taugt. Europa braucht deshalb eine eigene Armee. Und zwar dringend.

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