Diplomatie mit Belarus - Nicht Reinheit der Gesinnung, sondern Ergebnisse zählen

Wegen ihres Telefonats mit Lukaschenko steht Merkel in der Kritik, vor allem vonseiten der Grünen: Sie habe damit dem belarussischen Machthaber Legitimität verschafft. Doch in der Außenpolitik kommt es nicht auf Gesinnungsethik, sondern vor allem auf Realismus und Pragmatismus an. Eine Erkenntnis, der sich auch eine künftige Ampel-Regierung nicht verschließen sollte.

Immer mehr Migranten verlassen das unmittelbare Grenzgebiet und ziehen in Notunterkünfte um. Ein Erfolg deutscher Außenpolitik? / picture alliance/dpa | Ulf Mauder
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Botschafter a.D. Rüdiger Lüdeking war während seiner Zeit im Auswärtigen Dienst (1980-2018) in verschiedenen Verwendungen, u.a. als stv. Beauftragter der Bundesregierung für Abrüstung und Rüstungskontrolle und Botschafter bei der OSZE, mit Fragen der Sicherheits- und Rüstungskontrollpolitik intensiv befasst.

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Die Telefonate von Bundeskanzlerin Merkel mit dem belarussischen Potentaten Lukaschenko in dieser Woche sind auf heftige Kritik nicht nur auf polnischer Seite sondern insbesondere auch von Bündnis 90/Die Grünen gestoßen. Deren einflussreicher Außenpolitiker Omid Nouripour sah sie als verheerendes Signal, das einen Beitrag zur Anerkennung Lukaschenkos als legitimer Präsident von Belarus geleistet und damit die europäische Politik konterkariert habe.

Ja es stimmt: Die EU hat wie die USA und andere westliche Staaten nach den gefälschten Wahlen im August 2020 Lukaschenko jegliche demokratische Legitimität abgesprochen. Ist dies jedoch Grund genug, nicht mit ihm zu sprechen?

Gesten der Anerkennung vermieden

Lukaschenko ist zwar nicht anerkannt, und sein Erpressungsversuch durch die Entsendung der Migranten an die belarussische Westgrenze ist verwerflich und verbrecherisch. Jedoch ist er faktisch derjenige in Belarus, der in der jetzigen Krise über die notwendige Gestaltungsmacht verfügt, um etwas an dem Los der an den Grenzen zu Polen und Litauen Gestrandeten zu ändern. Und die Bundeskanzlerin hat offenbar sorgsam Gesten der Anerkennung oder Legitimierung Lukaschenkos vermieden und ist entgegen zunächst anderslautenden Spekulationen nicht auf den belarussischen Vorschlag eingegangen, einen „humanitären Korridor“ einzurichten und 2000 Migranten eine Aufnahme in Deutschland zu gewähren. Ihr ging es nach offizieller Information der Bundesregierung zum zweiten Telefonat lediglich darum, gegenüber Lukaschenko dafür zu werben, „mit Unterstützung von UNHCR und IOM und in Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission für die humanitäre Versorgung und Rückkehrmöglichkeiten der betroffenen Menschen zu sorgen“. Zudem seien die Telefonate mit der EU-Kommission abgestimmt gewesen.

Inzwischen könnte sich durch die jetzt begonnene Räumung von Lagern an der Grenze und die Rückführung von Migranten aus Belarus in die Heimatländer eine Lösung der Krise abzeichnen. Man könnte meinen, dass vielleicht damit wieder zur Tagesordnung übergegangen und die Kritik Nouripours abgehakt werden könnte. Aber der Fall – und das macht ihn interessant – wirft nicht nur ein Schlaglicht auf ein zentrales Problem in der außenpolitischen Haltung des Westens; er könnte auch ein Hinweis sein, auf was wir uns in der Außenpolitik einer Ampel-Regierung einstellen müssen – zumal viele Beobachter davon ausgehen, dass die Grünen die Bundesaußenministerin stellen werden.

Moralisches Pathos schafft Erpressbarkeit

Die Ampel-Koalition hat in ihrem Sondierungspapier postuliert, dass eine von ihr geführte Bundesregierung eine „wertebasierte“ Außenpolitik betreiben werde. Jede Regierung mit demokratisch-freiheitlichem Anspruch benötigt einen sie leitenden Wertekompass. Dieser darf jedoch nicht der Anerkennung der Realitäten und der Wahrung der eigenen Interessen im Wege stehen. Dementsprechend brauchen wir eine konsequente, nüchtern-pragmatische Politik, die ohne wohlfeiles moralisches Pathos daherkommt. Beschwichtigung, Erpressbarkeit und Empörung und davon abgeleitetes politisches Handeln dürfen sie nicht charakterisieren.

Lamentieren und Druck allein werden Diktatoren wie Lukaschenko nicht zum Einlenken bewegen (zumal dieser sich auch der Rückendeckung durch Putin erfreut). Dies legen auch die in den letzten Jahrzehnten gemachten Erfahrungen in anderen Feldern der Außenpolitik nahe. So ist es beispielsweise nicht gelungen, Russland durch eine einseitig auf Konfrontation und Ausgrenzung angelegte Politik in die Knie zu zwingen; vielmehr fühlte sich Präsident Putin dadurch herausgefordert, die Rolle Russlands als Großmacht zu behaupten und den Einflussbereich in Osteuropa auch unter Anwendung militärischer Mittel (Georgien 2008, Ukraine seit 2014) zu wahren. Auch im Falle Irans hatte beispielsweise die von Präsident Trump nach dem einseitigen amerikanischen Ausstieg aus dem Nuklearabkommen verfolgte Politik  „maximalen Drucks“ durch die Verhängung massiver Sanktionen keinen Erfolg; sie war im Gegenteil kontraproduktiv und führte dazu, dass Iran das Nuklearprogramm wiederaufnahm und in den letzten zwei Jahren wichtige Fortschritte bei dessen Fortentwicklung machte.

Lehren aus dem Kalten Krieg

Zur Lösung der Flüchtlingskrise an der Ostgrenze der EU führt kein Weg daran vorbei, mit Lukaschenko und Putin zu sprechen und die Möglichkeiten für eine diplomatische Lösung auszuloten. Nichts anderes hat Frau Merkel getan. Sie hat sich in Übereinstimmung mit unseren Grundwerten für die Versorgung der gestrandeten notleidenden Migranten eingesetzt, ohne sich jedoch auf den belarussischen Erpressungsversuch einzulassen, diese nach Europa einreisen zu lassen. Ein Eingehen hierauf – Herr Nouripour will sich einer Aufnahme der Migranten aus humanitären Gründen nicht verschließen – wäre ein Präzedenzfall, der auch künftig zu ähnlichen Erpressungsversuchen einladen würde.

Die außenpolitische Debatte in Deutschland ist vielfach durch verständliche Empörung und Entrüstung über teilweise als „unappetitlich“ empfundene Autokraten und korrupte Diktatoren geprägt. Allerdings führt eine emotional aufgeladene Politik nicht weiter. Wir sollten uns vielmehr der realpolitischen Notwendigkeiten und der aus der Überwindung des Kalten Kriegs zu ziehenden Lehren erinnern. Egon Bahr hat dies einmal pointiert so auf den Punkt gebracht: „In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.“

Unser zentrales sicherheitspolitisches Interesse ist es, die Eskalation mit Belarus und vor allem Russland einzuhegen und nicht aus dem Ruder laufen zu lassen. Deshalb müssen wir uns hartnäckig auch um Dialog und diplomatische Lösungen bemühen, da ein ausschließliches Setzen auf Druck und Konfrontation nicht zum Erfolg führt. Bei allem moralischen Impetus, der zunehmend die außenpolitische Debatte nicht nur in Deutschland zu bestimmen scheint, muss das außenpolitische Handeln vom Ende her, von den erfahrungsgemäß zu erwartenden Folgen gedacht werden. Das bedeutet, dass Außenpolitik nicht spontan-leidenschaftlich gesinnungsethisch sondern nüchtern-kalkulierend verantwortungsethisch sein muss. So lässt sich der Grundansatz einer ergebnisorientierten Realpolitik charakterisieren, der sich auch eine neue Bundesregierung verschreiben sollte.

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