Taliban in Kabul - „Dieses Mal scheint ihnen ein geordneter Übergang wichtig zu sein“

Die Taliban haben jüngst das Präsidentenhaus in Kabul übernommen, nachdem Präsident Ashraf Ghani nach Tadschikistan geflohen und die Regierung kollabiert ist. Reporter Jan Jessen berichtet vor Ort von Plünderern und von Massenpanik an Flughäfen.

Taliban-Kämpfer stehen am Haupttor zum Präsidentenpalast Wache / dpa
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Charlotte Jost studiert Political- and Social Studies an der Julius-Maximilians Universität in Würzburg und ist Hospitantin in der Cicero Online-Redaktion.

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Jan Jessen, Reporter der Neuen Ruhr Zeitung, ist seit vergangener Woche in Kabul. Im Interview berichtet er über die Lage vor Ort – und über die Reaktion der Afghanen auf die Machtübernahme durch die Taliban.

Herr Jessen, wo sind Sie gerade?

Ich bin mit zwei Mitarbeiterinnen der Hilfsorganisation „Friedensdorf International“, deren Arbeit ich hier journalistisch begleitet habe, auf gesichertem Gelände.

Wie ist die Lage – gibt es Kämpfe in der Stadt?

Nein, die Situation in der Stadt ist ruhig. Die Stadt wurde ja kampflos übergeben, ganz anders als bei der ersten Machtübernahme durch die Taliban 1996. Man hört allerdings in der Nacht vereinzelt Schüsse, auch in der Nähe unseres Grundstücks. Das Problem sind aber nicht die Taliban, sondern die Plünderer, die nun das Machtvakuum nutzen. Auf dem Hügel hinter unserem Gelände liegt eine afghanische Militärbasis, die verlassen wurde. Da konnten wir die Plünderungen verfolgen – und es besteht natürlich die Angst, dass die Menschen da an noch mehr Waffen geraten.

Haben diese Plünderer nichts mit den Taliban zu tun? Zu lesen war, dass die Taliban in mehreren Städten die Gefängnisse geöffnet haben.

Den Taliban ging es darum, die eigenen Leute aus den Gefängnissen zu holen. Aber die Plünderer sind Kriminelle, die mit den Taliban nichts zu tun haben. Einer von ihnen hat sich mit Perücke als Mitglied der Taliban ausgegeben, um von Geschäftsleuten Geld zu erpressen.

Wie reagieren die Taliban auf solche Situationen?

Die Taliban haben extra für Plünderer ein Gefängnis eingerichtet, um die Lage unter Kontrolle zu bringen. Bisher sind da etwa 200 Leute inhaftiert. Die Taliban werden dann laut den Scharia-Gesetzen über sie urteilen, bei Diebstahl etwa bedeutet das, dass Gliedmaßen abgehackt werden. Insgesamt ist auffällig, dass die Taliban diesmal kein Tabula Rasa machen: Offenbar werden in den Verwaltungen die meisten Leute übernommen. Dieses Mal scheint ihnen ein geordneter Übergang wichtig zu sein.

Jan Jessen

Geht die Machtübernahme durch die Taliban also relativ friedlich vonstatten?

So kann man das sagen. Viele Menschen hier sehen das pragmatisch, insbesondere diejenigen, die in Erinnerung haben, wie die Machtübernahme 1996 ablief. Die Taliban versuchen, den Alltag in den Städten beizubehalten, sie fordern die Menschen auf, Restaurants und Läden wieder zu eröffnen und ihrem Alltag nachzugehen. Nur so ein Beispiel: Am Samstag, kurz vor der Einnahme der Stadt durch die Taliban, habe ich hier noch eine Hochzeitsgesellschaft beobachtet, die laut hupend durch die Stadt fuhr.

Trotzdem versuchen gerade viele Menschen, das Land fluchtartig zu verlassen. Vom Flughafen werden dramatische Szenen geschildert.

Natürlich ist die Lage für Journalisten, Mitarbeiter von NGOs oder Helfer der Bundeswehr dramatisch. Rund um den Flughafen herrscht völliges Chaos, man kommt nicht mehr durch. Offenbar haben die amerikanischen Soldaten dort schon mehrere Menschen erschossen. Die Menschen haben sich in zivile Flugzeuge gedrängt, was absurd ist, weil es ja keine Piloten gibt. Es gibt auch Berichte und Videos von Menschen, die sich an die Tragflächen der Flugzeuge gehängt haben und dann aus großer Höhe in den Tod gestürzt sind.

Versuchen die Taliban, den Flughafen unter ihre Kontrolle zu bekommen?

Die Taliban werden sich hüten, die amerikanischen Soldaten dort zu attackieren. Die Reaktion darauf wird sehr hart für sie ausfallen. Sie scheinen an einem konfliktlosen Übergang interessiert zu sein.

Der Talibansprecher Suhail Shaheen hat angekündigt, es werde ein „Afghan inclusive Islamic government“ geben, das heißt, jeder afghanische Bürger, der sich den Taliban anschließen möchte, wird aufgenommen. Wie ist das zu beurteilen?

Die Taliban gehen anders vor als 1996. Auffällig ist die überraschend schnelle, praktisch kampflose Übernahme vieler Gebiete, insbesondere Kabuls. Die Hauptstadt wurde ja praktisch innerhalb von Stunden übernommen. Die Menschen sind eher verwundert als verängstigt. Viele fragen sich, wie die Machtübernahme so schnell passieren konnte. Den Menschen auf dem Land ist es praktisch gleichgültig, wer an der Macht ist oder wer welches Territorium übernimmt. Viele sind sogar froh, dass es so schnell passiert ist und sie zum  Alltag zurückkehren können.

Werden Sie versuchen, so schnell wie möglich das Land zu verlassen?

Ich stehe im Austausch mit der Botschaft. Momentan ist die Lage um den Flughafen sehr unübersichtlich und gefährlich. Ich werde also ein paar Tage warten müssen und dann ausreisen.

Die Fragen stellten Moritz Gathmann und Charlotte Jost.

 

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