Ostküstler über Mittelwestler - Die Ignoranz der Intellektuellen

Ostküsten-Intellektuelle geißeln ihre Landsleute im Mittleren Westen der USA gerne als Hinterwäldler und Dumpfbacken. Damit aber beweisen sie nur ihre eigene Ignoranz

(picture alliance) Die eigentlichen Unpolitischen wohnen inzwischen hier.
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Als ich 2003 von New York nach Berlin zog, war ich sicher, dass ich die Verbindung zu der Stadt, in der ich zehn Jahre meines Lebens verbracht hatte, und zu dem Land, in dem ich aufgewachsen war, verlieren würde. Doch meine Angst war unbegründet: Innerhalb von wenigen Jahren wurden das soziale Netzwerk Facebook und die Website der New York Times zu einem festen Bestandteil meines Alltags. Die Times-Liste der meistgelesenen Artikel wird alle fünf Minuten aktualisiert und verrät mir mehr über das, was den New Yorkern gerade wichtig ist, als ich je wüsste, wenn ich noch in der Stadt wäre. Und dank Facebook und den sogenannten Statusmeldungen, mit denen Facebook-Mitglieder ihren Freunden öffentlich mitteilen, was sie gerade tun oder denken, weiß ich sogar, was meine Jugendfreunde aus dem tiefsten amerikanischen Mittleren Westen tun oder denken. In den vergangenen Wochen scheinen meine New Yorker Freunde kaum Notiz genommen zu haben von der Occupy-Wall-Street-Bewegung – außer, dass sie sich darüber ausließen, welche Musicalstars bei den Demos auftreten könnten. Im Gegensatz zu den New Yorkern scheinen meine einstigen Schulfreunde über Politik nachzudenken.

Wäre ich in New York geblieben, hätte ich vielleicht mein restliches Leben dort verbracht, ohne jemals wieder einem Republikaner zu begegnen. Nun begegne ich ihnen ständig, wenn ich mich bei Facebook einlogge: in Gestalt meiner Jugendfreunde aus Ohio, die sich um die amerikanische Außenpolitik, die Steuern oder Präsident Obamas Geburtsurkunde Gedanken machen. Kurz nach der Katastrophe in Fukushima entbrannte zwischen meinen früheren Schulkameraden und meinem Jugendfreund Matt B., der heute Truckfahrer ist, eine hitzige Diskussion. Es ging um den Vorschlag, Japan solle amerikanische Schulden erlassen und dafür Hilfe bei der Bekämpfung der aus dem zerstörten Atomkraftwerk Fukushima austretenden Strahlung bekommen. Es folgten wütende Anti-Obama-Kommentare. Jason R.: „Wie wäre es, wenn wir zuerst unseren eigenen Leuten helfen würden? Hier gibt es immer noch Millionen Arbeits- und Obdachlose.“ Cindy T.: „Keiner spricht von Hilfe für unsere eigene Bevölkerung, immer geht es um irgendein anderes verdammtes Land.“ Matt B.: „Ich finde, Auslandshilfe sollte eine freiwillige Option für die Steuerzahler sein und kein Zwang.“

Die Diskussion endete mit einer rhetorischen Frage von Cindy T.: „Haben die Japaner denn uns geholfen, nachdem sie Pearl Harbor in Schutt und Asche gelegt haben?“

Zugegeben, die Diskussion wirkt ein wenig einseitig. Doch sie ist nur eine von vielen, die ich im vergangenen Jahr miterlebt habe. Die politischen Debatten meiner alten Freunde in Ohio sind zu einer Art Bezugspunkt für mich geworden: Auf einmal fühle ich mich wieder mit dem amerikanischen Landesinneren verbunden. Für New Yorker sind die Bewohner des Mittleren Westens so etwas wie ein Mythos, exotische Wesen, die gleichermaßen Abwehr wie Faszination auslösen. Viele von ihnen sind große Bewunderer von Sarah Palin und ihrer ultrakonservativen Tea-Party-Bewegung innerhalb der Republikanischen Partei. Auch für mich sind sie zum Mythos geworden in all den Jahren, die ich außerhalb meines Geburtsorts verbracht habe. Auch ich habe mich oft gefragt: „Was sind das eigentlich für Leute?“

Dank Facebook weiß ich es endlich. Sie heißen Joe S., Sarah T. und Matt B. – ich bin mit ihnen zur Schule gegangen. Plötzlich wirkt der Mittlere Westen beängstigend vertraut, eine Vertrautheit, die wenig Befremdliches hat. Jetzt, da ich mich regelmäßig in die Facebook-Unterhaltungen meiner alten Freunde einklinke, entdecke ich jenseits der populistischen Parolen überraschende philosophische und politische Einsichten. Meine Freunde aus Ohio sind mehr als ein bunter Haufen Konservativer, die vor allem der Hass auf Obama eint. Auf Facebook diskutieren sie lebhaft über Politik – eine Tugend, die meinen New Yorker Freunden irgendwie verloren gegangen zu sein scheint.

Nachdem ein Fernsehsender in Ohio auf Facebook meldete, Osama bin Laden sei getötet worden, hinterließen in den darauffolgenden Tagen 97 Leute einen Kommentar zu dieser Nachricht – hier eine Kostprobe: Tony S.: „Bin Laden starb am 1. Mai, am gleichen Tag wie Hitler. Zufall?“ Rochelle C.: „Auf jeden Fall gute Publicity für Obama. Ich will die Leiche sehen!“ Ryan L.: „Es war doch gar nicht Obama, es waren die Marines.“ Brian F.: „Ryan, Obama hatte am Ende einfach genügend Informationen, um die Operation durchzuführen. Werde erwachsen, Hitler!“ Mein Freund Matt B. griff ein: „Nennt niemals einen Amerikaner HITLER. Wir sind schließlich ein Team, und das ist respektlos und ziemlich unhöflich gegenüber allen, die hier leben.“

Ich bin mir ziemlich sicher, dass keiner von ihnen Philosophie studiert hat. Trotzdem spricht aus ihren Kommentaren ein breites Spektrum an philosophischen Grundhaltungen, vom skeptischen Empirismus über eine marxistische Klassensolidarität bis zu Kants kategorischem Imperativ. Das liest sich nicht immer besonders freundlich, geht aber weit über die hasserfüllte, einseitige Hetze hinaus, die den Bewohnern Ohios von den New Yorkern immer unterstellt wird. Für Letztere gibt es trotzdem ein paar gute Gründe, sich Sorgen zu machen: Ohio gilt als Musterstaat der amerikanischen Wahlpräferenzen. Seit den sechziger Jahren stimmte immer eine Mehrheit der Bewohner Ohios für den Präsidentschaftskandidaten, der die Wahl schließlich gewann.

Just zu einer Zeit, als auf der ganzen Welt der Reaktorunfall in Fukushima die Schlagzeilen bestimmte und die Occupy-Wall-Street-Proteste zu einer internationalen Cause célèbre geworden sind, zeigten meine New Yorker Freunde Schnappschüsse von Essen auf ihren Facebook-Profilen: Fotos von Restaurantspeisen, von selbst gebackenen Köstlichkeiten, von Snacks am Stand um die Ecke, Bildstrecken aus dem Urlaub. Wenn sie sich nicht gerad mit ihren kulinarischen Erlebnissen beschäftigten, dokumentierten meine New Yorker Freunde die Renovierung ihrer Häuser, ihre neuesten Antikmöbel, oder sie stellten die Musik ins Netz, die sie beim Joggen auf ihrem iPod hörten. Für mich, der Tausende Kilometer entfernt lebt, war das ein schockierender Gegensatz zu dem, was ich aus Ohio hörte. Während die Welt verrückt spielte, erlebten die New Yorker ihr ganz privates häusliches Glück à la Marie Antoinette im Petit Trianon.

Es waren nicht nur meine Facebook-Freunde, die mir den Eindruck vermittelten, das liberale Ostküsten-Amerika sei verweichlicht. Auch die New-York-Times-Liste der meistgelesenen Artikel verriet eine Fixierung auf Lifestylethemen zulasten von politischen Nachrichten. Am 17. April dieses Jahres beispielsweise lauteten die Überschriften der fünf meistgelesenen Artikel: „Wie viel Schlaf brauchen Sie?“, „Ist zu viel Sitzen tödlich?“, „Ist Zucker giftig?“ und „Was ist das beste Workout?“ Der Times-Kolumnist John Tierney dichtete daraufhin eine Überschrift, mit der er es bis an die Spitze der „Meistgelesen“-Hitliste schaffen wollte: „Warum die Ernährung Ihres Hundes Ihre Ehe gefährdet und George W. Bush daran schuld ist“. Doch er hatte sich verkalkuliert: Am 3. Mai, dem Tag nach bin Ladens Tötung, ging es im meistgelesenen Artikel des Tages um den Tilapia-Fisch.

Wie viele amerikanische Medien kämpft auch die New York Times um ihr Überleben. Sie versucht, sich neu zu erfinden und herauszubekommen, was ihre Leser wollen; vor allem aber schließt sie etliche ihrer teuren Auslandsbüros. Als im Frühling die Revolten in Nordafrika begannen, musste die Times Korrespondenten aus Berlin schicken, um die dünne personelle Besetzung in Ägypten und Libyen zu verstärken. Bezeichnenderweise ist gleichzeitig der Ernährungsjournalist Mark Bittman, dessen Food-Tipps und Rezepte regelmäßig die „Meistgelesen“-Liste anführen, in die Herausgeberschaft der Zeitung aufgestiegen mit dem Auftrag, über ernährungspolitische Themen zu berichten. In einem Land, in dem Übergewicht eine Epidemie ist und dessen Lebensmittelindustrie von energieintensiver Massentierhaltung abhängig ist, sind das natürlich zentrale gesellschaftliche Probleme. Und Bittman ist zweifellos ein engagierter, leidenschaftlicher Journalist, ob er nun über Suppen oder über die Risiken der Massentierhaltung schreibt. Doch die Tatsache, dass ein Ernährungsjournalist in die Führungsriege der Times befördert wird, während gleichzeitig das Nachrichtensegment schrumpft, spricht Bände. Amerikas wichtigste meinungsbildende Nachrichtenzeitung steht plötzlich als Lifestylemagazin da.

Die tröstliche Gewissheit, Barack Obama im Weißen Haus zu haben, hat den Lesern der Times offenbar eine Art Freischein gegeben, politische Nachrichten nur noch als etwas sehr Abstraktes wahrzunehmen. Der Benzinpreis ist irrelevant, denn kaum jemand in Manhattan besitzt ein Auto. Die Immobilienblase und ihr Platzen sind an den meisten New Yorkern völlig vorbeigegangen, es gab und gibt dort keinen aufgeblähten Immobilienmarkt. Von den vielen Hektar Land mit leer stehenden Häusern, von den Geisterstädten im Westen der USA und in Florida fühlen sich die Menschen in New York nicht betroffen. Und was in Afghanistan oder Libyen geschieht, kommt ihnen noch verschwommener und abstrakter vor.

Für die Menschen in Ohio dagegen sind diese Nachrichten nicht abstrakt. Viele von ihnen haben gedient oder sind bei der Armee geblieben. Ihre Kinder, Cousins oder Freunde werden nach Afghanistan geschickt. Jede militärische Intervention irgendwo auf der Welt betrifft sie ganz unmittelbar. Das Gleiche gilt für die Innenpolitik: Wenn man bis zu 100 Kilo­meter am Tag zum Arbeitsplatz pendelt, ist der Spritpreis eine entscheidende Messgröße der Lebensqualität. Die hohe Arbeitslosigkeit, der Zusammenbruch des Immobilienmarkts: All das gehört zum ­semiländlichen Alltag im Bundesstaat Ohio, dessen Einwohner sich in öffentlichen Foren wie Facebook zu Wort melden.

Diese Wortmeldungen sind nicht immer angenehm zu lesen. Die Menschen beschimpfen einander, und es ist leicht, das Ganze wegen seines unzivilisierten Tons abzutun. Ich selbst habe eine Diskussion über Obama und bin Laden mit der Ankündigung kommentiert, ich wolle an einer so wütenden, aufgeladenen Auseinandersetzung im Internet nicht teilnehmen, zumindest nicht, solange es in diesem Onlinestreit an Respekt für die Würde der Teilnehmenden mangele. Mein alter Freund Matt B., Ex-Soldat und Truckfahrer, antwortete mir: „Wieso denn nicht? Sei einfach respektvoll und ehrlich. Und vielleicht gehst du mit dem Gefühl hier raus, etwas gelernt zu haben.“ Unser politischer Horizont könnte unterschiedlicher nicht sein, doch plötzlich fragte ich mich, ob ich nicht mein ganzes Leben lang das Urteilsvermögen der Leute unterschätzt hatte, mit denen ich aufgewachsen war – eine unschöne Folge von meinem Leben als Teil einer New Yorker „Elite“. Wenn ich in Manhattan geblieben wäre, hätte ich sicherlich nichts dazugelernt. Ich musste erst nach Deutschland kommen und mich bei Facebook anmelden, um zu erkennen, was ich alles verpasste.

In gewisser Weise ähneln diese Onlineforen den Graffiti im antiken Pompeji, die den römischen Herrschern verrieten, was ihre Bevölkerung dachte – beide sind für jedermann zugänglich. Meine New Yorker Bekannten ignorieren diese Quelle, zu ihrem Nachteil: Denn diese Facebook-Kommentare zeigen, dass im Herzen Amerikas noch heftige Meinungskriege ausgefochten und gewonnen oder verloren werden, mit politischen Auswirkungen für die ganze Welt. Im gleichen Maße wie Investmentbanker und Medienvertreter die Occupy-Wall-Street-Demonstranten nicht ernst nehmen, ignoriert das linke politische Establishment die Facebook-Einträge der Menschen aus dem Mittleren Westen – mit verheerenden Folgen. Die Eliten an den amerikanischen Küstenregionen drohen, sich mit ihrem monolithischen Politikverständnis und ihrer Fixierung auf Lifestylethemen in die Irrelevanz zu manövrieren. Dabei müssten sie sich einfach ansehen, was mit Marie Antoinette geschah, die sich in ihr häusliches Glück zurückgezogen hatte, während draußen der Mob tobte.

Ralph Martin ist ein amerikanischer Publizist. Er lebt und arbeitet als freier Journalist in Berlin. Soeben ist sein Buch „Papanoia“ erschienen. Übersetzung: Luisa Seeling

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