Meistgelesene Artikel 2021: August - Im Weltreich der Illusionen

Der 20-jährige Einsatz in Afghanistan verlangte vielen Menschen enorme Leistungsbereitschaft und schwere Opfer ab. Nur die Bundesregierung hat sich in den zwei Jahrzehnten nie wirklich angestrengt. Die Verantwortlichen sind bloßgestellt, doch es schämt sich niemand.

Aktuelle Stunde zum Truppenrückzug aus Afghanistan mit Kanzlerin Merkel am 23. Juni im Bundestag / dpa
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Autoreninfo

Thomas Jäger ist Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln. Er ist Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste.

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In diesen Tagen gelangt an sein konsequentes Ende, was 20 Jahre lang ausgeführt wurde: planlos und ohne Chance auf ein realistisches Ergebnis einen Einsatz in einem Land zu führen, dessen Traditionen, Strukturen und Kulturen man nicht versteht. Der 20-jährige Einsatz in Afghanistan verlangte vielen Menschen enorme Leistungsbereitschaft und schwere Opfer ab. Nur die Bundesregierung strengte sich in den 20 Jahren niemals wirklich an. Möglich war das, weil die deutsche Öffentlichkeit die ganze Zeit mit anderem beschäftigt war und sich für den Konflikt nicht interessierte. Und weil die Verantwortlichen mit anderem beschäftigt waren und sich ebenfalls nicht dafür interessierten.

Das gilt es festzuhalten: Zu keinem Zeitpunkt in diesen 20 Jahren verfolgte die Bundesregierung mit dem Einsatz in Afghanistan politische Zwecke und militärische sowie zivile Ziele, für die ausreichend geeignete Mittel bereitstanden. Dass die zuletzt geführte Ausbildungsmission auf dem Papier köstlich klingt, in der Realität aber kontraproduktiv verlief, konnte jeder wissen, der es wissen wollte. Die Zerbröselung der afghanischen Sicherheitsorgane konnte nur die überraschen, die im Weltreich der Illusionen ihre Lager aufgeschlagen haben. Also in den Ministerien, wie wir erneut sehen, in den Führungsetagen. Ein Luftschloss war es auch, anzunehmen, dass sich die Taliban nicht auf die Machtergreifung vorbereitet hatten. 20 Jahre hatten sie dazu Zeit; 20 Jahre voller Wut, Energie und Rekrutierungserfolgen.

Der Krieg wäre eskaliert

Zudem war jedem, der sich mit dem Konflikt befasst, klar, dass nach dem 1. Mai 2021 – das Datum hatte die Trump-Administration für den Abzug der amerikanischen Streitkräfte gesetzt – die Lage eine andere sein würde: Entweder ziehen die USA ihre Truppen ab, und das musste für alle anderen heißen „so schnell wie möglich weg“, denn dieselben Verantwortlichen, die in Afghanistan dilettiert haben, sorgten ja in den vergangenen zwei Jahrzehnten auch dafür, dass Deutschland nicht über einsatzfähige militärische Kräfte verfügt, die autonom agieren können. Oder aber es war, sollten die USA bleiben, ein erneutes heftiges Aufflammen der Kämpfe zu erwarten. Der Krieg wäre eskaliert. Auch darauf war die Bundeswehr nicht vorbereitet.

Die Konsequenzen sind derzeit offensichtlich: Der Westen, der den Konflikt nie militärisch gewinnen konnte, wurde politisch und moralisch niedergeworfen. „Wir erleben bittere Stunden“, wird die Bundeskanzlerin zitiert, die 16 Jahre eines unbedachten Einsatzes zu verantworten hat. Unbedacht, weil nie die Mittel bereitstanden, einen Einsatz erfolgreich abzuschließen. 2010 sagte Merkel über den Merksatz von Peter Struck, wonach Deutschlands Sicherheit am Hindukusch verteidigt werde: „Bis heute hat niemand klarer, präziser und treffender ausdrücken können, worum es in Afghanistan geht.“ Spätestens damit war es Merkels Krieg.

Zynischer Kanon

Beim Gedenken an gefallene Soldaten der Bundeswehr legte sie sich fest: „Dass afghanische Frauen heute mehr Rechte als früher haben, dass Mädchen zur Schule gehen dürfen, dass Straßen gebaut werden und dass vieles, vieles mehr geschafft wurde, ist das Ergebnis unseres Einsatzes in Afghanistan. Das lohnt sich, und das ist mancher Mühe wert.“ Nun scheint sich das nicht mehr zu lohnen und nicht mehr die Mühen (anderer!) wert zu sein. „Wir erleben bittere Stunden“ ist ein zynischer Kanon. Wer ist „wir“? Merkel, die Bundesregierung, die deutsche Gesellschaft sind es nicht, sie haben nicht zu leiden. Die Kanzlerin akzeptiert, dass diejenigen in Afghanistan, die sich auf ihr Wort verlassen haben, vor den Trümmern ihres Lebens stehen und viele dem Tod ins Auge schauen.

Ebenso zynisch sind die Begleitaussagen. Sei es, wenn der Bundesaußenminister sagt, „wir sind für alle Szenarien vorbereitet“. Oder Ministerpräsident Laschet jetzt einen Afghanistanplan vorlegt. Denn Deutschland ist blank, wenn es darum geht, den „Bürgermeisterinnen, Lehrerinnen, Ärztinnen, Beamtinnen, Journalistinnen, Menschenrechtsaktivistinnen, Abgeordneten und Unternehmerinnen“ (Laschet) zu helfen. Gut, dass er da gleich nach dem „Schutz der Weltgemeinschaft“ ruft, denn das war schon immer der direkte Weg zu rascher und konkreter Hilfe.

Realität, keine Satire

Direkt hätte die Bundesregierung den Ortskräften aus Afghanistan helfen können. Inzwischen sollen gerade einmal 2.000 von ihnen in Deutschland sein. Viele sind noch in Afghanistan, was aus der Bundeswehr kritisiert wird. Sie müssen um ihr Leben fürchten. Die Bundesministerin der Verteidigung weiß jedoch, woran das liegt: Die afghanischen Behörden stellen die Reisepässe nicht aus. Nein, nein: Das hat sie wirklich gesagt, ich gleite hier nicht in Satire ab. Dann aber kam die Wende, am Donnerstag vor dem Fall Kabuls. Viel zu spät. Dies betrifft übrigens auch die Mitarbeiter deutscher Entwicklungsprojekte.

Da kommt gerade viel zusammen: das desaströse Krisenmanagement in der Pandemie, das Versagen der Politik beim Hochwasser, die politische und moralische Niederlage nach 20 Jahren Krieg. Die Verantwortlichen sind bloßgestellt. Doch es schämt sich niemand.

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