Ein Jahr nach Beginn des Ukraine-Kriegs - Deutschland auf der Couch

Seit genau einem Jahr findet in Deutschland eine schmerzhafte psychologische Transformation statt. Jahrzehntelang eingeübte pazifistische Reflexe kollidieren in unseren Köpfen mit dem Gefühl, den Ukrainern im Kampf gegen den Aggressor Russland helfen zu müssen.

Ukrainische Soldaten stehen im Februar vor einem selbstfahrenden Artilleriefahrzeug an der Front im Gebiet Donezk / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

So erreichen Sie Moritz Gathmann:

Anzeige

Zeitenwende. Dieses Wort, das Olaf Scholz wenige Tage nach Kriegsausbruch im Bundestag verwendet hat, ist ein sehr großes Wort. Es teilt unsere Gegenwart ein in ein vorher und nachher, das Ende einer Ära und den Beginn einer neuen Ära. 1933 und die Jahre danach markieren eine Zeitenwende. 1945. Und natürlich 1989, für uns Deutsche und für einen großen Teil Europas.

Um zu verstehen, was sich verändert hat, sollten wir noch einmal in die Zeit vor dem 24. Februar des vergangenen Jahres zurückblicken. In Deutschland schickte sich die neugewählte Ampelkoalition an, nach den zuletzt lähmend-zähen Jahren unter Angela Merkel mit einem neuen Politikstil in einer Mitte-Links-Regierung eine prosperierende Wirtschaft und die Energiewende unter einen Hut zu bringen.

Das Fundament bröckelt 

Im Berliner politischen Establishment galt bis dahin weitgehend der Grundsatz, mit dem Deutschland über Jahrzehnte gut gefahren war: Frieden schaffen ohne Waffen, nicht reinziehen lassen in Konflikte. Und wenn es sich gar nicht verhindern lässt – Stichwort Scheckbuchdiplomatie –, großzügig Milliarden für Brunnen- oder Wiederaufbau verteilen oder Flüchtlinge aufnehmen.

Man muss nur nachlesen, wie der damalige Grünen-Vorsitzende Robert Habeck im Mai 2021, also zu Beginn des Wahlkampfs, in die Kriegsgebiete in der Ukraine reiste, sich in einem Deutschlandfunk-Interview offen für Defensivwaffen äußerte – und danach von der gesamten politischen Elite – auch in seiner eigenen Partei – für verrückt erklärt wurde. Eine weitere Grundkonstante der deutschen Politik war im übrigen auch: Wer mehr Geld für die Bundeswehr forderte, konnte keinen Blumentopf gewinnen. Ihm wurde von der politischen Konkurrenz und in den meisten Medien stets geantwortet: Pflege, Bildung, Energiewende – da wäre das Geld besser investiert. Der Luxus, den Deutschland sich über Jahrzehnte leisten konnte, hat einen hübschen Namen: Friedensdividende.

Im Koalitionsvertrag kommt die Ukraine denn auch nur unter ferner liefen vor. Pflichtbewusst heißt es: „Wir werden die Ukraine weiter bei der Wiederherstellung voller territorialer Integrität und Souveränität unterstützen.“ Dann noch das Versprechen für eine Vertiefung der Energiepartnerschaft, Produktion von Grünem Wasserstoff etc. pp. Zum Krieg im Osten des Landes beruft man sich auf die vollständige Umsetzung der Minsker Vereinbarungen, fordert ein „unverzügliches Ende der Destabilisierungsversuche gegen die Ukraine, der Gewalt in der Ostukraine und der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim“.

Ukraine vor dem 24. Februar unter „ferner liefen“

Sicherheit in Europa nicht gegen, sondern nur mit Russland, ist eine weitere Grundkonstante dieser deutschen Politik. Noch Ende Januar 2022 kann deshalb Ex-Kanzler Schröder der Ukraine „Säbelrasseln“ vorwerfen und sagen, er „glaube nicht, dass die russische Führung ein Interesse daran haben kann und hat, in der Ukraine militärisch zu intervenieren“. Vielleicht haben es manche schon vergessen, aber Anfang 2022 war auch die Zeit, als Deutschland nur langsam aus der Corona-Krise herausfand: Die Omikron-Variante als Game Changer ließ das Land auf ein baldiges Ende der im Europavergleich strengen Schutzmaßnahmen hoffen, trotz eines Gesundheitsministers Karl Lauterbach, aber so richtig traute man dem Braten noch nicht. Kurzum: Man war mit der Ukraine eher am Rande beschäftigt.

Blicken wir auf Europa: Hier lässt sich die Zeit bis Februar 2022 als eine Phase der Verunsicherung und Entfremdung bezeichnen. Knackpunkt ist das Jahr 2015, die Flüchtlingskrise und die damit einhergehenden politischen Verwerfungen unter den EU-Mitgliedern. Gewisse Entfremdungstendenzen gab es auch schon vorher: Viktor Orbán ist seit 2010 Ministerpräsident Ungarns und stilisiert sich seitdem als Bewahrer der konservativen Werte. In Polen spielen die PiS und Präsident Andrzej Duda eine ähnliche Rolle. Heftige Konflikte zwischen Brüssel einerseits und Warschau und Budapest auf der anderen Seite sind die Folge. In Großbritannien formierte sich schon in den Jahren vor 2015 eine immer stärker werdende Brexit-Fraktion, 2016 stimmten die Briten dann für den Austritt aus der EU. Kurzum: Die EU erschien nach der letzten Erweiterung – 2013 trat Kroatien bei – erschöpft, beschäftigt mit Streit über den zukünftigen politischen Aufbau – Suprastaat oder Staatenbund, uneins in der Flüchtlingspolitik.

Immerhin: Die Wahl von Joe Biden zum amerikanischen Präsidenten Ende 2020 machte Hoffnung, dass nach Trumps erratischer Amtszeit zumindest die transatlantischen Beziehungen wieder belast- und planbar würden.

Brutales Erwachen

Dann schlugen am Morgen des 24. Februar russische Raketen in allen Landesteilen der Ukraine ein, Luftlandetruppen besetzten strategisch wichtige Positionen nahe Kiew, aus mehreren Himmelsrichtungen drangen russische Truppen tief auf ukrainisches Territorium vor. Was Putin eine „militärische Spezialoperation“ nennt, war ein großflächiger Einmarsch in ein souveränes europäisches Land mit dem Ziel, die demokratisch gewählte politische Führung des Landes auszuschalten und durch eine russlandloyale zu ersetzen.

Der 24. Februar ist ein Moment des brutalen Erwachens, es ist ein Moment, in dem Begriffe wieder an Klarheit gewinnen, die über die Jahre, im Alltag des politischen Geschäfts ausgehöhlt wurden, weil sie inflationär gebraucht wurden. Allen voran ist das der Begriff der Freiheit. Denn darum geht es ganz elementar in diesem Krieg: Es geht auf politischer Ebene um die Freiheit der Ukrainer, über ihre Zukunft zu bestimmen: darüber, welche Beziehungen sie zu Russland oder der EU haben wollen, ob sie der Nato beitreten wollen oder nicht. Es geht auf der persönlichen Ebene um die Möglichkeit, seine Meinung äußern zu können, ohne im Gefängnis oder auf dem Friedhof zu landen.

Denn das ist seit dem 24. Februar 2022 wieder so klar wie es immer hätte sein müssen: Der Westen steht für diese Freiheit, in Europa steht Russland für das Gegenteil. Wo Russland ist, das hat zuletzt die brutale Niederschlagung der Demokratiebewegung 2020 in Belarus gezeigt, da herrschen staatliche Willkür und Unfreiheit. In der Ukraine mussten das nicht nur die Menschen in Butscha erfahren. Egal, wo ich während des vergangenen Jahrs hinkam in der Ukraine, überall gab es Orte, in denen die Menschen ähnliche Horrorgeschichten erzählten, wenn auch nicht in dieser Massiertheit: Folter, Mord, zuweilen aus Langeweile, ganz allgemein eine unglaubliche Verachtung für das individuelle Leben.

Der Teufel liegt bei dieser Dichotomie natürlich im Detail: In der Türkei, als Nato-Mitglied Teil des Westens, steht es um die politischen Freiheiten immer schlechter, wogegen ein Land wie Armenien, das de facto zum russischen Einflussgebiet gehört, eine trotz Krieg und Wirtschaftskrise funktionierende Demokratie ist.

Auf dem Spiel steht die Freiheit

In der Ukraine – und das verkennen unsere „Kompromissforderer“ von Sahra Wagenknecht bis Marius Müller-Westernhagen immer wieder – steht genau diese Freiheit auf dem Spiel: In Gebieten, die von russischen Truppen besetzt werden, findet in diesem Moment ein Systemwechsel statt. Vorher konntest du deine Meinung sagen und dich politisch in einer beliebigen Partei engagieren, nachher wirst du es nicht mehr können. Wenn du diesen Krieg überlebst, wirst du in einem System leben, in dem der Putin-Staat dir den Deal anbietet: Lebe dein Leben, züchte Tomaten, fahr im Urlaub in die Türkei, aber überlasse die Politik uns. Du kannst den Deal annehmen oder du verlässt das Land.

Vielleicht erinnern sich nicht alle daran, aber 2014 war Putin mit dem Versuch gescheitert, genau so ein System in der Ukraine zu etablieren wie in Russland: Präsident Wiktor Janukowitsch, umgeben von loyalen Oligarchen und einer Partei namens „Partei der Regionen“ – Farbe blau wie beim russisches Vorbild „Einiges Russland“ – installierte überall im Land seine Getreuen, als Belohnung für ihre Loyalität durften sie Geld verdienen. Schließlich wurde Janukowitsch aus der Ukraine verjagt, nachdem er nicht nur im letzten Moment der Assoziierungsvereinbarung mit der EU eine Absage erteilt, sondern auch noch Proteste dagegen gewaltsam niedergeschlagen hatte. Die vom schon genannten „Putin-Deal“ (Ruhe im Privaten im Tausch für die Freiheit) eingelullten Russen lassen sich nach mehr als zwei Jahrzehnten alles bieten. In der Ukraine hingegen traf der werdende Despot Janukowitsch auf den Widerstandsgeist und die Freiheitsliebe der Bürger.

Ost- und Westeuropa reagieren unterschiedlich schnell

Nach Kriegsbeginn am 24. Februar hat es in West- und Osteuropa unterschiedlich lange gedauert, bis die Zeitenwende in den Köpfen der Menschen angekommen ist. Während Finnland, das Baltikum oder Polen – Länder, die in ihrer Geschichte ähnliche Erfahrungen mit Russland gemacht haben wie die Ukrainer heute – sofort volle Solidarität mit der Ukraine forderten und auch übten, gab es in Deutschland noch über Wochen die Hoffnung, mit einem Kompromiss – der unterm Strich bedeutet hätte: die Ukrainer mögen verlieren oder sich freiwillig ergeben – in die alte Zeit zurückkehren zu können, in der man gut und gerne gelebt hatte: Man holt zwar den von Putin vergifteten Nawalny nach Deutschland, um ihn wieder aufzupäppeln, aber Nord Stream 2 wird weitergebaut. Man betont zwar die territoriale Integrität der Ukraine und fordert die Rückgabe der Krim, aber „Sicherheit gibt es nur mit, nicht gegen Russland“.

Doch der aufopfernde und opferreiche Kampf der Ukrainer gegen den scheinbar übermächtigen Gegner lässt keine Rückkehr in die alte Zeit zu.

Die EU zeigt sich seit dem 24. Februar geschlossen wie nie, trotz aller Unterschiede. Der Hauptstörenfried Viktor Orbán, der immer eine Sonderbeziehung zu Putin pflegte, wurde eingehegt. Regierungen, egal wie rechts oder links sie sind, egal wie erbittert sie sich sonst um Atomkraft oder Migrationspolitik streiten, stehen in Fragen der finanziellen und militärischen Solidarität Schulter an Schulter mit der Ukraine. Vielleicht nicht in dem Tempo, das sich mancher wünschen würde, und auch in unterschiedlichem Ausmaß, aber mit der nötigen Ausdauer. Eine gerade veröffentlichte Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung hat übrigens gezeigt, dass Polen, Deutsche, Franzosen und Letten in der Frage der Waffenlieferungen in ähnlicher Weise gespalten sind.

Graben zwischen Deutschland und Polen?

Das politische Zentrum der EU hat sich nach Osten verschoben: Polen, das Baltikum, auch Rumänien haben plötzlich eine Relevanz, die sie zuvor nie hatten. Und mit der nun konkret gewordenen Perspektive eines ukrainischen EU-Beitritts hat sich das Zentrum der Union de facto Richtung Osten verschoben. Bemerkenswert ist allerdings in diesem Zusammenhang, dass es bei der Münchner Sicherheitskonferenz keinen prominenten Auftritt eines polnischen Politikers gab. Das ist ein Hinweis darauf, dass eben trotz der Geschlossenheit im Angesicht des Aggressors Russland die Beziehungen, etwa zwischen Polen und Deutschland, doch nachhaltig gestört sind. Die Reparationsforderungen der PiS-Regierung aus dem vorigen Jahr über 1,3 Billionen Euro erinnern uns daran. Klare Unterschiede gibt es übrigens auch in den Antworten auf die Frage, ob die Ukraine EU- oder Nato-Mitglied werden soll.

In Deutschland hat sich in den Monaten nach Beginn des Kriegs politisch die Spreu vom Weizen getrennt, inzwischen herrscht Klarheit: Wenn es darauf ankommt, kann Deutschland weder auf die AfD noch auf die Linke zählen. Die ersteren pflegen weiter ihr an nationalkonservative Zeiten erinnerndes Russland-Bild und ignorieren vollkommen die Subjekthaftigkeit der Ukraine. Mit großen Teilen der Linken teilen sie den Antiamerikanismus: Hinter dem Krieg stünden Interessen der Amerikaner, die Ukrainer seien nur Spielball, es gehe in Wirklichkeit um die Kontrolle über die russischen Rohstoffe. Wir kennen das alles zur Genüge, aus den Mündern von Gysi, Wagenknecht und Chrupalla.

Im europäischen Vergleich erleben die Deutschen wohl die härteste psychologische Transformation – die Bevölkerungen anderer Länder sind daran gewöhnt, auch an Kriegen beteiligt zu sein. Und wie wir an den aktuellen Diskussionen mit Guérot, Wagenknecht und Schwarzer sehen, ist es ein Prozess, der noch lange nicht abgeschlossen ist. Die Geister der Vergangenheit sind überall zu erkennen, in Talkshows, in den Äußerungen Intellektueller, in den sozialen Netzwerken.

Instrumentalisierung der Geschichte

Es fällt sehr schwer, uns von liebgewonnenen Leitlinien zu verabschieden. Dazu gehört ganz zentral: ein sehr unterschiedlich interpretiertes „Nie wieder Krieg“. Mit Ausnahme des Kosovo – und Afghanistans, wo wir uns allerdings tüchtig in die Tasche gelogen und den Kampfeinsatz-Charakter kleingeredet haben – hätten diesen Grundsatz bis zuletzt wohl die allermeisten unterschrieben: Nie wieder Teilnahme an Kriegen, weil wir in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts so viel Leid über Europa gebracht haben.

Leute wie Harald Welzer und Jakob Augstein haben dieses für Nicht-Deutsche meist sehr verquere Argument im ersten Halbjahr des Kriegs vorgebracht: Gerade weil unsere Großväter so Schlimmes verbrochen haben, haben wir eine besondere moralische Verantwortung – vielleicht sogar ein Recht? –, uns herauszuhalten. Dieser, und ich bin mir bewusst, dass dieses Wort vor allem von Rechten gebraucht wird, Schuldkult war zu lange eine billige Ausrede, um sich „herauszuhalten.“ Aber es wurde eben sehr lange eingeübt, es steckt ziemlich fest in uns drin.

Selenskyj appelliert an die Studenten

Es lohnt in diesem Zusammenhang, sich die Rede Selenskyjs vor Studenten der Viadrina und der Humboldt-Uni anzuschauen. Seine Worte klangen beinahe wie eine Beschwörung: „Habt keine Angst, alles zu verändern. Tragt nicht das Gewicht der Vergangenheit auf euren Schultern“, sagte er von Kiew aus am Bildschirm zu den Studenten. „Man muss nach vorn schreiten, Neues eröffnen, Fehler eingestehen, um führend zu bleiben.“

Selenskyj sprach dort auch die spezielle deutsche Sichtweise an, ihre Fixierung auf Moskau – und das lange andauernde Geringschätzen der Perspektiven der vielen Länder, die zwischen Russland und Deutschland liegen. Es hat ja erstmal fast ein halbes Jahrhundert gedauert, bis wir uns in Deutschland überhaupt ernsthaft mit unseren Schandtaten im Osten beschäftigt haben, und ganz langsam, über die letzten zehn Jahre vielleicht, dringt ins Bewusstsein, dass wir nicht nur gegen „die Russen“ gekämpft haben, sondern ab 1941 gerade Belarussen und Ukrainer die größten Opfer gebracht haben.

Es lohnt sich, einen besonderen Blick auf die Diskussion in Ostdeutschland zu werfen: Geradezu schützend scheinen sich da viele vor „ihre Russen“ zu stellen. In Umfragen insbesondere zu Waffenlieferungen sieht man einen sehr deutlichen Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland; eine Allensbach-Umfrage aus dem Januar zeigt, dass deutschlandweit eine klare Mehrheit (45 gegenüber 24 Prozent) dagegen plädiert, dass die Ukraine ihren Widerstand aufgeben soll. In Ostdeutschland sprechen sich jedoch 41 Prozent für eine Kapitulation aus, nur 25 dagegen.

Wer die Beziehungen zwischen DDR-Bürgern und den russischen „Freunden“ zu Ostzeiten kennt, der kann eigentlich seinen Augen nicht glauben. Die Auflösung dieses Widerspruchs hat der Historiker Sascha-Ilko Kowalczuk soeben in einem Interview mit der Super-Illu sehr schön formuliert: 

„Außerdem gibt es im Osten einen tief verinnerlichten Antiamerikanismus, der aus der Indoktrination vor 1989 herrührt. Das verführt leider zu der Einstellung: Ich mache mich gemein mit dem größten Feind meines Feindes. Und das ist Putin. Dabei gab es doch selten in der Weltgeschichte eine so klare Sachlage wie in diesem Fall. Warum demonstriert keiner vor der russischen Botschaft gegen den Aggressor? Weil es um Protest „gegen den Westen“ geht.“

Geteiltes Land?

Zugleich ist es mitnichten so, dass Deutschland in zwei Teile zerfällt: hier die großen (westdeutschen) Unterstützer der Ukraine, dort die ostdeutschen Putin-Freunde. Die Deutschen sind bis jetzt hin- und hergerissen „zwischen dem Wunsch, die Freiheit zu verteidigen, und ihren über Jahrzehnte hinweg eingeübten pazifistischen Reflexen“, wie der Allensbach-Meinungsforscher Thomas Petersen in der FAZ schreibt. Für eine sofortige Vereinbarung eines Waffenstillstands treten 62 Prozent der Bevölkerung insgesamt ein, 77 Prozent im Osten und 58 Prozent in Westdeutschland. Zugleich ist die Überzeugung, dass Deutschland seine Sicherheit durch die Mitgliedschaft in der Nato gewährleisten kann, mit 74 Prozent auf einem Höchststand seit zwei Jahrzehnten.

Zuweilen erscheint es, als wären manche Deutsche geradezu genervt von dieser Ukraine, die ihr Weltbild durcheinanderbringt: Symptomatisch dafür ist Marius Müller-Westernhagen, Jahrgang 1949, der Anfang Februar bei Maischberger sitzt und Sätze sagt wie: „Ehrlich gesagt, ich halte beide Seiten für verrückt. Ich finde, dass die Fehler, diesen Konflikt zu vermeiden, sehr viel früher passiert sind. Der Konflikt ist ja nicht neu, man weiß von diesem Problem Ukraine seit vielen Jahren.“ Die Ukraine wäre demnach kein Staat, der ums Überleben kämpft, sondern ein Problem.

Vulgär-Antiamerikanismus in der Mitte der Gesellschaft

Dabei hatte Westernhagen im März noch auf einer Großdemo für die Ukraine vor dem Brandenburger Tor ganz angefasst „Freiheit“ gesungen. Inzwischen, so sagt er bei Maischberger, sehe er die Sache aber differenzierter. Die „Kriegseuphorie“ in den Medien kotze ihn an, beide Seiten müssten Zugeständnisse machen, diese „Töterei“ müsse beendet werden. Und dann kommt er an den Punkt, auf den sich offenbar viele inzwischen einigen können, ganz links, ganz rechts, aber – siehe Westernhagen – auch viele in der Mitte: „Die Amerikaner haben nicht das Rieseninteresse daran, dass dieser Krieg schnell beendet wird. Erstens wird daran verdient, und zweitens haben die Amerikaner in dieser Situation wieder die Europäer an der Leine, weil sie die Amerikaner brauchen.“

Aus allen Poren dringt da dieser alte Kalte-Krieg-Blick der Deutschen: Die da oben veranstalten ihre Stellvertreterkriege, wir sind an der Leine der Amerikaner: keine Subjekte, sondern Schachfiguren. Es ist eine sehr gemütliche Position, deshalb nehmen wir sie so gerne ein. Und über Jahrzehnte war diese passive Äquidistanz ja auch gesellschaftlich anerkannt – und wir lebten gut damit.

Aber es ist eine verantwortungslose Position.

Wir müssen uns bemühen, „nicht hineingezogen zu werden“, hört man immer wieder aus diesem Lager. Als würden wir, wie sonst immer, nur Beobachter sein, fast Schweizer. Der Gedanke, dass wir hier einen Konflikt auszufechten haben, bei dem wir ganz klar Position beziehen müssen, weil es um die Zukunft des ganzen Kontinents geht, passt vielen nicht in ihre psychologische Konfiguration. Sie kommen dann mit Syrien, mit den Irakkriegen, manch einer zitiert sogar noch den Vietnamkrieg. Und daraus schließen sie, dass dieser jetzige Krieg genau so einer sei, gebaut auf Propagandalügen und in Wirklichkeit im Dienste amerikanischer Interessen.

Aber wir laufen nicht Gefahr, in diesen Konflikt „hineingezogen“ zu werden. Wir sind mittendrin, als Deutschland, als EU, als Nato, als der Westen. Weil Putin mit seinem Einmarsch eben nicht nur der Ukraine den Krieg erklärt hat. Sondern uns allen, die wir für die von Müller-Westernhagen besungene Freiheit stehen. Das ist ein sehr unangenehmer Gedanke, und besonders wir Deutschen tun uns sichtlich schwer damit, ihn zu akzeptieren.

Anzeige