Deutsche Außenpolitik - Lokal denken, global scheitern

Die deutsche Außenpolitik ist auf die Herausforderungen der neuen Weltunordnung schlecht vorbereitet – auch weil es an international erfahrenem Nachwuchs mangelt

Erschienen in Ausgabe
„Ich muss diplomatischer werden“, gelobte Sigmar Gabriel  / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Markus Bickel ist freier Journalist. Er war jahrelang Nahostkorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

So erreichen Sie Markus Bickel:

Anzeige

Die Personalrochade mitten in der tiefsten transatlantischen Krise seit der amerikanischen Irakinvasion 2003 ist gewagt: Nicht Martin Schulz, der als Präsident des Europaparlaments über Jahre auf höchster Ebene internationale Kontakte pflegte, soll bis zur Bundestagswahl im Herbst für Kontinuität an der Spitze des Auswärtigen Amtes sorgen, sondern Sigmar Gabriel. Ausgerechnet der wankelmütige Heißsporn aus Goslar also. Immerhin nahm der Nachfolger Frank-Walter Steinmeiers Kritikern durch solide Auftritte auf seinen ersten Reisen nach Paris und Wa­shington ein wenig Wind aus den Segeln. Und bei der Verabschiedung seines beliebten Vorgängers vor der versammelten Diplomatenschar im Weltsaal des Ministeriums in Berlin hatte er die Lacher auf seiner Seite, als er sagte: „Seien Sie versichert: Ich bin nur halb so schlimm, wie es in den Zeitungen steht.“ Und abgesehen von der Drohung einer Einreisesperre durch die Revolutionsgarden in Teheran habe er auch auf keiner seiner Auslandsreisen für „einen Abbruch der bilateralen Beziehungen zu Deutschland“ gesorgt.

Mangelnde Führung und mangelnde Weltsicht

„Ich muss diplomatischer werden“, gelobte Gabriel – auch das ein Experiment mit ungewissem Ausgang angesichts des erratischen US-Präsidenten Donald Trump. Denn altgediente Außenpolitiker wie der frühere Koordinator für transatlantische Beziehungen der Bundesregierung, Karsten Voigt, fordern vielmehr, dass die deutsche Politik im strategischen Umgang mit der neuen Administration in Washington die eigenen Interessen künftig viel klarer als bislang definieren müsse: Neben dem Erhalt der multilateralen Strukturen von Nato und EU zähle dazu vor allem die Berücksichtigung der Schutzbedürfnisse von Russlands Nachbarn. In den Worten Jürgen Hardts freilich klingt der radikale Umbruch an der Spitze von Deutschlands weltweit wichtigstem Handelspartner weitaus weniger beunruhigend. „Ich setze darauf, dass Donald Trump sich sehr rasch der Bedeutung der transatlantischen Partnerschaft bewusst wird und sie als ein ganz wichtiges Instrument im Interesse der US-amerikanischen Außenpolitik zu nutzen weiß“, sagte der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und amtierende Koordinator für die transatlantische Zusammenarbeit im Auswärtigen Amt kurz nach dessen Wahlsieg. Kommentieren will Voigt die Arbeit seines Nachfolgers nicht. Doch dass das Prinzip Hoffnung in einer Welt aus den Fugen nur bedingt taugt, um nach vorne gewandte Strategien zu entwickeln, bestreiten selbst Unionsmitglieder nicht.

Die Kritik allerdings bleibt nicht auf den Ameri­kakoordinator Hardt beschränkt. Im Gegenteil: Mangelnde Führung, mangelnde Weitsicht, viele Worte und viel zu wenige Taten werfen Konservative wie Sozialdemokraten, die mittlerweile außer Dienst stehen, der deutschen Außenpolitik vor. Und das, obwohl völlig veränderte politische Rahmenbedingungen das internationale Gefüge gefährlich ins Wanken gebracht haben – nicht erst seit dem Wahlsieg von Trump, nicht erst seit dem Brexit. Scheiternde Staaten und der Aufstieg neuer Gewaltakteure prägen seit etlichen Jahren das Bild einer außer Rand und Band geratenen Weltordnung; allerorten sind autoritäre Politiker und Bewegungen auf die Bühne getreten, was begrenztere Spielräume für Zivilgesellschaften und die Missachtung von Menschenrechten zur Folge hat. Und eine Erschütterung der Grundlagen der transatlantisch-liberalen, pluralistischen Demokratie, wie wir sie kannten.

Frühzeitige Warnzeichen

Vorbereitet darauf ist weder die Bundesregierung noch die kleine Schar an Außenpolitikern im Bundestag. Beispiel Flüchtlingskrise: Obwohl die Vereinten Nationen wegen Unterfinanzierung ihrer Ernährungsprogramme schon 2013 Alarm geschlagen hatten und es auch an deutlichen Depeschen aus den deutschen Botschaften in Beirut und Amman nicht mangelte, schlug man in Berlin alle Warnsignale in den Wind. Dabei war klar, dass die weitere Reduzierung der ohnehin kargen Lebensmittelrationen Hunderttausende Syrer in den Flüchtlingslagern Jordaniens und des Libanon abermals zur Flucht zwingen würde – zunächst weiter in die Türkei. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis sie sich von dort nach Europa aufmachten, hieß es bereits vor vier Jahren.

Doch sowohl Angela Merkel als auch der damalige Außenminister Steinmeier setzten noch im Frühjahr 2015 darauf, dass die Regierung Recep Tayyip Erdogans die Grenzen geschlossen halten würde – und machten sich damit zu Geiseln des türkischen Präsidenten. Weshalb der Bundeskanzlerin erst vergangenes Jahr einfiel, eine Flugverbotszone über Syrien zu fordern, um dem Morden aus der Luft endlich ein Ende zu bereiten, bleibt nicht nur Gegnern Baschar al Assads ein Rätsel, die dafür bereits kurz nach Beginn des Aufstands gegen den Diktator in Damaskus geworben hatten. Durch den russischen Kriegseintritt im Herbst 2015 ist auch diese Option vertan – alles, was der gemäßigten syrischen Opposition nun noch bleibt, ist die Kapitulation.

Kein Wille zum Vorausdenken

Konsequenzen daraus zieht man in Berlin allerdings nicht. Obwohl in der Abteilung für Friedens­operationen der Vereinten Nationen in New York längst Papiere zur Aufstellung einer Syrien-Stabilisierungstruppe in den Schubladen liegen, erweckt etwa das Verteidigungsministerium den Eindruck, der Konflikt in Syrien habe erst gestern begonnen, nicht vor bald sechs Jahren. Von einer Blauhelmmission sei man noch „ganz weit weg“, sagt der Parlamentarische Staatssekretär Ralf Brauksiepe, an einen dauerhaften Waffenstillstand sei vorerst nicht zu denken. Der Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Volker Perthes, hingegen, der als Unterhändler des UN-Syrien-Sondergesandten Staffan de Mistura die Bemühungen für ein Ende der Kampfhandlungen koordiniert, betont: „Wann immer die Kriegsparteien ermüden oder ermatten, wird sich ein Waffenstillstand nicht durchsetzen lassen ohne eine internationale Friedensmission – auch wenn das kein einfacher Einsatz würde, sondern einer, der ein robustes Mandat bräuchte.“

So weit vorausdenken will in Berlin jedoch niemand. Und zwar nicht zuletzt deshalb, weil es ein Eingeständnis des Scheiterns der eigenen Syrienpolitik bedeutete. „Diese Tragödie muss ein Ende haben“, klagte Steinmeier wenige Monate vor seinem Wechsel vom Werderschen Markt ins Schloss Bellevue hilflos, als der Fall Ostaleppos schon nicht mehr zu verhindern war. „Dafür tragen das Regime und seine Unterstützer, allen voran Russland und Iran, die größte Verantwortung“, beschrieb der Sozialdemokrat lediglich die Lage – ohne davon zu sprechen, dass die Rücksichtnahme auf die Interessen Moskaus das aggressive Vorgehen der syrischen Regierungstruppen überhaupt erst ermöglicht hatte. Selbstbewusste politische Forderungen lassen sich angesichts der Leisetreterei auch des neuen Außenministers Gabriel gegenüber Wladimir Putin kaum stellen, sondern allenfalls fromme Wünsche formulieren. Dazu passt, dass Steinmeier im vergangenen Sommer die Nato vor Säbelrasseln gegenüber Moskau gewarnt hatte – und nicht umgekehrt.

Dass der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz noch wenige Tage vor Gabriels Wechsel an die Spitze des Auswärtigen Amtes als einziger Nachfolger Steinmeiers gehandelt wurde, zeigt, wie ausgezehrt die deutsche Außenpolitik ist. Personell wie programmatisch. Zwar hat die SPD mit Niels Annen und Rolf Mützenich respektable Fachpolitiker, doch mussten diese den politischen Ambitionen Gabriels weichen. Die CDU, die innerhalb weniger Monate zwei ihrer profiliertesten Außenpolitiker, Andreas Schockenhoff sowie Philipp Mißfelder, durch Tod verlor, hat laut Koalitionsvertrag ohnehin kein Anrecht auf den Posten; Norbert Röttgen, der 2013 den erfahrenen Ruprecht Polenz als Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses ablöste, dürfte nach der Bundestagswahl auf ein anderes Ministeramt drängen.

Karriereproblem mit System

Zugleich mangelt es an Nachwuchs. „Mir ist klar, dass es ein strukturelles Problem gibt, genügend qualifiziertes außenpolitisches Personal zu rekrutieren“, sagt Gernot Erler, der den Bundestag im Herbst nach drei Jahrzehnten aus Altersgründen verlässt – als für Außenpolitik zuständiger stellvertretender Fraktionschef war er in dieser Zeit tätig, als Staatsminister im Auswärtigen Amt sowie zuletzt als ­OSZE-Sonderbeauftragter der Bundesregierung. Weil sich mit der Tätigkeit im Auswärtigen Ausschuss anders als im Haushalts-, Wirtschafts- oder Verkehrsausschuss bei der Basis kaum punkten ließe, entschieden sich weniger junge Abgeordnete als früher für diesen Weg, sagt Erler. Außerdem seien hier „nicht so viele Posten zu vergeben“, was durchaus „karriererelevant“ sei. Hinzu kommt, dass lange Abwesenheiten in fernen Ländern im Wahlkreis verpönt sind, sodass immer weniger Bundestagsabgeordnete den Schritt auf außenpolitisches Terrain wagen. Ein Trend, der für alle Parteien gilt, obwohl der Bedarf, die gewaltigen Verschiebungen im internationalen System sowie die Krisen von der Ukraine über Syrien bis zum Südchinesischen Meer zu erklären, eher größer als kleiner geworden ist. Außerdem liegt die deutsche Außenpolitik fest in den Händen von Auswärtigem und Bundeskanzleramt, deren Stäbe über weitaus bessere Ressourcen verfügen als die Abgeordnetenbüros. Bei Befragungen der Staatssekretäre im Ausschuss, aber auch bei aktuellen Stunden im Bundestag sähen die Parlamentarier deshalb oft alt aus, räumt die Grünen-Außenpolitikerin Franziska Brantner selbstkritisch ein. „Wir machen es dem Auswärtigen Amt zu leicht“, moniert die junge Abgeordnete mangelnde strategische Auseinandersetzung mit fragiler Staatlichkeit oder den globalen Migrationsbewegungen. Viel zu oft werde von Mandat zu Mandat gedacht, ohne die langfristigen Folgen von Auslandseinsätzen zu überdenken. „Im Grunde findet die Debatte auf einem Niveau statt, das alle, die genügend Zeitung lesen, auch führen könnten.“

Eine Generation tritt ab

Ein vernichtendes Urteil, aber Besserung ist nicht in Sicht. So hat eine verdiente Fraktionskollegin Brantners gerade erst erleben müssen, dass länderspezifisches Fachwissen und Engagement für Menschenrechte selbst bei den einstigen Pazifisten der Weltverbesserungspartei nicht viel wert sind: Marieluise Beck, Grünen-Abgeordnete der ersten Stunde und prononcierte Russlandkritikerin, verzichtete im Sommer auf eine erneute Kandidatur für den Bundestag. Die linke Basis in ihrem Bremer Landesverband hatte Beck zuvor kalt abserviert und ihr klargemacht, dass sie sich auf einen aussichtsreichen Listenplatz keine Hoffnung zu machen brauche: Die Zeit für Jüngere sei gekommen, ihre internationale Expertise nicht länger gefragt. Dass damit in Jahrzehnten aufgebaute Kontakte und auf Dutzenden Reisen erworbener Sachverstand verloren gehen, interessierte die Delegierten ebenso wenig wie der Umstand, dass es um das deutsch-russische Verhältnis so schlecht bestellt ist wie seit Jahren nicht.

Trotz inhaltlicher Differenzen bedauert der langjährige außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Karsten Voigt, den Abschied Becks: Globales statt provinzielles Denken, das sich eben nicht in einer Legislaturperiode aneignen lasse, sei damit – ebenso wie durch den Rückzug Erlers – dahin. Der einstige Koordinator für transatlantische Beziehungen weiß, wovon er spricht: Als Vizepräsident der sozialistischen Jugendinternationale bereiste er Polen, Ungarn und die Sowjetunion schon in den frühen siebziger Jahren – und damit zu einer Zeit, als die junge Bundesrepublik noch nicht gefeit war vor einem Rückfall in finsterste Zeiten, wie sie durch den Aufstieg von Autokraten weltweit nun wieder drohen. Brücken bauen zur Jugend im Ostblock sollte er deshalb im Auftrag Willy Brandts und Herbert Wehners, Jahre bevor er zum Amerikafachmann seiner Fraktion wurde. Viele der Kontakte nach Osteuropa pflege er noch heute, sagt Voigt, der zwei Jahrzehnte lang zu den wichtigsten Außenpolitikern im Bundestag zählte. Dass er dadurch auf Posten verzichten musste, die sich SPD-Abgeordnete mit Engagement für Arbeits- und Sozialpolitik leichter erwerben können, habe er bewusst in Kauf genommen.

Gleiches gilt für Erler, der den Vater an der Ostfront verlor, den Mauerbau als Jugendlicher in Westberlin hautnah miterlebte und deshalb aus „lebensgeschichtlicher Erfahrung“ für „eine bessere Friedenspolitik und eine bessere Weltordnung“ eintrat – und zum Außenpolitiker wurde. Eine Generation tritt ab, und eine neue ist nicht in Sicht.

 

Dieser Text stammt aus der Märzausgabe des Cicero, die Sie in unserem Online-Shop erhalten.

 

 

 

 

 

Anzeige