Der Brexit und wir - Keine Lust auf Verantwortung

Die Deutschen nehmen die Abkehr Großbritanniens von der EU immer noch viel zu sehr auf die leichte Schulter. In Wahrheit stehen wir vor Herausforderungen, auf die die Bundesrepublik nicht vorbereitet ist

In der Nato ist Deutschland ein Land unter vielen / picture alliance
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Mit der Einführung von Theresa May in das Amt der britischen Premierministerin nimmt der Brexit nun Gestalt an. Es mag ein historischer Irrweg sein, aber die Signale stehen auf „Leave“. Wenn es noch eine Chance gegeben hätte, den Austritt Großbritanniens aus der EU aufzuhalten, dann hat die Labour-Partei sie vertan: Nur die Forderung nach Neuwahlen, verbunden mit der klaren Aussage, im Falle eines Wahlsiegs den Artikel 50 des Lissabon-Vertrags nicht in Anspruch zu nehmen, hätte eine Legitimität des Rückzugs vom Rückzug herstellen können. Zu spät. So haben auch die britischen Sozialdemokraten der Renationalisierung Europas nichts entgegensetzen können oder wollen. Sollte Labour daran zerbrechen, dann wäre das inzwischen kein großer Verlust mehr. Es werden sich neue Allianzen finden.

Deutschland hat den Brexit abgehakt

Erstaunlich ist allerdings die deutsche Sicht auf den Brexit. Sie scheint nach dem anfänglichen Schreck nunmehr von einer fatalistischen Abwicklungsmentalität geprägt zu sein, verortbar irgendwo zwischen „Mir doch egal“, „Dann lasst sie eben gehen“, „Gut, dass sie bald weg sind“ und „Wird schon nicht so schlimm kommen“. Dabei ist es ziemlich sicher, dass die Bundesrepublik mit den deutlich größten Kollateralschäden der britischen Absetzbewegung klarkommen muss. Der Brexit stellt Deutschland nämlich vor (geo-)politische und ökonomische Herausforderungen, denen es in seiner derzeitigen Verfassung kaum gerecht werden kann.

Das beginnt mit dem Dilemma der Scheidungsmodalitäten. Für das Vereinigte Königreich ist die Bundesrepublik noch vor den USA der wichtigste Handelspartner, umgekehrt ist Großbritannien für Deutschland der drittwichtigste Exportmarkt. Wenn also der freie Warenaustausch eingeschränkt würde, um andere potentielle EU-Austrittskandidaten abzuschrecken, dann nur um den Preis hoher Wohlstandsverluste. Und zwar auf beiden Seiten. Vor dem Hintergrund des möglichen Scheiterns von TTIP und der sanktionsbedingten Einbußen im Russland-Geschäft wird die deutsche Industrie alles daransetzen, die Briten auch künftig so eng wie möglich an Europa zu binden. Von einem Signal gegen Auflösungstendenzen bliebe dann nicht mehr viel übrig. Aus deutscher Perspektive heißt das: Der Brexit darf politisch kein Erfolgsmodell werden, aber er darf wirtschaftlich auch keinen Schaden anrichten. Ein klassisches Dilemma.

Die großen Herausforderungen kommen erst noch

Zum zweiten muss die Bundesrepublik sich damit abfinden, dass durch den Abgang der Briten ihr Gewicht innerhalb der EU weiter zunimmt. Für ein Land, das sich traditionell schwer damit tut, internationale Verantwortung zu übernehmen, ist das eine enorme Herausforderung – zumal es der deutschen Öffentlichkeit schwerfällt, geopolitische Notwendigkeiten zu erkennen und sich ihnen zu stellen. Deutschlands unglückliches und unkoordiniertes Agieren in der Migrationskrise, einer der größten geopolitischen Herausforderungen unserer Zeit, ist nur ein Beispiel dafür. Es ist auch der Grund, warum insbesondere die osteuropäischen EU-Länder alles andere als begeistert sind ob einer deutschen (wenn auch ungewollten) Suprematie. Von den südlichen Mitgliedstaaten ganz zu schweigen. Der Gewinn an Einfluss wird den Deutschen das Leben also alles andere als einfacher machen. Die Kosten dafür fallen trotzdem an, denn die britischen Beiträge zum EU-Budget in Höhe von sieben Milliarden Euro jährlich dürften kaum von Griechenland, Spanien oder Italien kompensiert werden.

In der EU hat Deutschland eine neue Rolle

Eine weitere Konfliktlinie tut sich im absehbar neuen Verhältnis zu den Vereinigten Staaten auf. Bisher waren es im Wesentlichen die Briten, welche die amerikanischen Interessen in Brüssel vertreten haben. Die Russland-Sanktionen wären ohne den britischen Transmissionsriemen zwischen den USA und der EU so kaum zustande gekommen. Künftig wird aber Berlin und nicht mehr London der wichtigste Ansprechpartner für Washington innerhalb der EU sein. Und die Bundesregierung kann es sich schlicht nicht leisten, diese Rolle auszuschlagen. Damit wird es für die Bundesrepublik noch schwieriger als bisher, einen Ausgleich zwischen europäisch-russischen Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen einerseits sowie zwischen der amerikanischen Russland-Strategie andererseits herzustellen. Von einer Uneinigkeit der westlichen Staatenwelt würde freilich zuallererst Putin profitieren.

Auch das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich dürfte durch den Brexit nicht harmonischer werden. Denn ohne das wirtschaftsliberale Korrektiv der Briten rückt die EU allemal in Richtung einer interventionistischen Wirtschaftspolitik nach französischem Muster. Frankreichs Präsident Hollande wird sich diese Chance kaum entgehen lassen, allein schon um im eigenen linken Lager zu punkten. „Deutschland konnte sich gemeinsam mit Frankreich für die politische Integration der EU einsetzen, weil es für die Vertiefung des Binnenmarktes einen britischen Verbündeten hatte. Dass ein deutsch-französisches Tête-à-Tête nach dem Brexit einen Integrationssprung schafft, ist insofern unwahrscheinlich“, so Claire Demesmay von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.

Großbritanniens Abkehr von der EU wird Deutschland noch lange und vor allem viel intensiver beschäftigen, als es heute den Anschein hat. Wir erleben eine Zeitenwende, auf die wir denkbar schlecht vorbereitet sind.

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