Coronavirus in Mexiko - Tod einer Stadt

In Mexiko richtet das Coronavirus schwere wirtschaftliche Schäden an. An der Karibikküste werden die ersten Städte unruhig. Das Land steht vor einer humanitären Katastrophe.

Kommen alle Maßnahmen, das Virus in Mexiko einzudämmen, zu spät? /picture alliance
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Jannik Wilk ist freier Journalist in Hamburg. 

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Vor der Dirty Martini Lounge klimpert einsam eine Harfe. Ein Mexikaner sitzt dahinter, dunkler Schnauzer, Hemd und Hose aus strahlend weißem Leinen. Verträumt spielt er seine Melodien in die heiße Mittagsluft. Neben ihm seine Kumpanen, gleiches Outfit, in ihren Händen kleine Gitarren. Es ist eine dieser mexikanischen Altherrenbands, wie sie in den Touristenstädten der Karibikküste vielerorts für die Gringos spielen.

Diese Señores aber spielen nicht. Sie vertreiben sich im Schatten der Seitenstraße die Zeit. Viel mehr ist nicht zu tun. Denn hierher, nach Playa del Carmen, kommen keine Gringos mehr. Auf der Quinta Avenida, der dünnen Lebensader der Stadt, fischen Einheimische nach den letzten Urlaubern. Wer diese Straße entlangflaniert, kommt schon in gewöhnlichen Zeiten nicht zur Ruhe. Wer es heute versucht, den muss der Teufel reiten: Nach jedem Schritt versucht ein anderer Mexikaner, bunten Plunder zu verhökern, Inseltouren anzudrehen, in ein Restaurant oder eine Touristenbar zu locken. Selbstbewusst preschen sie vor: „My friend, amigo!“ oder bieten, im Flüsterton, Gras, Kokain, Prostituierte.

Bare Angst

Durch die Quinta Avenida fließt in normalen Zeiten ein dicker Strom an Touristen, aus dem sich die anliegenden Läden bedienen. Irgendjemand bleibt immer hängen. Zu Zeiten des Coronavirus wird sie für den Urlauber zum Pyranhabecken. Der Kampf um den letzten zahlenden Urlauber, hier wird er ausgefochten. Hinter den aufdringlichen Verkaufsgesprächen versteckt sich bare Angst.

Playa del Carmen ist eine Touristenstadt. Der zahlungswillige Reisende ist ihr Herzschrittmacher. Ihre Einwohner haben Familien zu ernähren, Kinder und Enkel. Bleibt der Peso weg, wird es eng, hört das Herz auf zu schlagen. Die Angst vor dem ist Virus ist in Playa del Carmen schwächer als die Furcht vor der Armut. Das liegt an den Umständen. Und an Andrés Manuel López Obrador, dem Präsidenten Mexikos.

Präsident, der Leben kostet

Obrador ist jemand, der momentan Haarsträubendes von sich gibt. Am 22. März noch wandte er sich in einem Video an sein Volk, aufgenommen an einem sonnigen Tag auf der Terrasse eines gehobenen Restaurants in Oaxaca: „Die Mexikaner sind, wegen unserer Kultur, sehr widerstandsfähig“, sagt er. „Hören Sie nicht auf, rauszugehen. Wir sind immer noch in Phase eins.“ Das Volk soll weiter auf die Straße. Shoppen, Essen gehen. Das stärke die Wirtschaft, so Obrador. Der Präsident hielt bis noch vor wenigen Tagen politische Veranstaltungen ab, küsste und umarmte seine Fans. Ein Landesvater, der verharmlost, sein Volk ermutigt, hinauszugehen und sich einer potenziellen Infektion auszusetzen, ist angesichts dessen, was zu geschehen droht, eine Gefahr.

Man könnte sagen: Ein Totengräber. Mexikos offizielle Fälle von COVID-19 halten sich zahlenmäßig noch in Grenzen. Momentan sind es rund 1.500, bei rund 50 offiziellen Toten durch das Virus, nach Daten der Website Worldometer. Das Land testet allerdings auch kaum. Zum Vergleich: Mexiko führte 65 Tests pro einer Million Einwohner durch – die USA hingegen führten 2.250 Tests pro einer Million Einwohner durch. Wer nicht testet, der meldet auch keine Fälle. Wer nicht testet, der kann Tote nicht mit dem Coronavirus in Verbindung bringen. Die Dunkelziffer dürfte, wie in vielen anderen Ländern, deutlich über den offiziellen Zahlen liegen, sechs bis zehn Mal so hoch, fürchten Wissenschaftler.

Politisches Kalkül

Präsident Obrador sagt all das nicht aus Unwissenheit. Es ist politisches Kalkül. Natürlich weiß er um die Tödlichkeit des Virus. Selbstverständlich unterrichtet man ihn, was Mexiko bevorstehen könnte. Seine Priorität gilt der Wirtschaft. Obrador schätzt den mexikanischen Peso offenbar höher als die Leben seiner Bürger. Waren seine Zustimmungswerte im Januar noch großartig, war er stets beliebt für seine Anti-Korruptionskampagnen, so üben sich die Mexikaner inzwischen in blankem Zynismus, wenn es um ihn und seine Einstellung zur Pandemie geht.

Sie wissen es besser, tragen Schutzmasken, bleiben in cuarentena voluntaria, in freiwilliger Quarantäne. Bis letzte Woche hatte die mexikanische Regierung keine weitreichenden Maßnahmen getroffen. Während andere lateinamerikanische Staaten den Notstand ausriefen, sich abriegelten und ihre Bürger drangen, zuhause zu bleiben, reagierten die Mexikaner erst vor wenigen Tagen mit der Schließung von Schulen, Flughäfen, oder Regierungsbüros. Die Maßnahmen, vorerst bestehend bis zum 30. April, kommen spät. Viele meinen: zu spät. Was kommt da auf Mexiko zu?

Tod einer Touristenstadt

In Playa del Carmen spürt man es bereits. Cerrado, geschlossen, das liest man hier dieser Tage oft. Heruntergezogene Rollladen an jeder Ecke. Erst traf es die kleinen Hotels, dann die großen. Nun schließen auch Restaurants und Geschäfte. Viele Leute, mit denen Cicero sprach – der Großteil von ihnen arbeitet in der Hotelería, dem Hotelgewerbe – haben während der Recherchen zu diesem Artikel ihre Arbeit verloren. „Wenn du mich fragst, wird Playa del Carmen bald sterben“, erzählt einer, „die Leute werden panisch.“

Was geschieht mit einer Touristenstadt ohne Touristen? Eine Bekannte berichtet, sie fühle sich nachts nicht mehr sicher auf den Straßen. Es seien zwielichtige Gestalten unterwegs, die Stadt mache ihr Angst. Es könne bald zu Raubzügen kommen. Banden gäbe es in der Stadt, aus Angst vor ihnen schlössen die Leute freiwillig ihre Geschäfte. Sie selbst arbeite in einem Restaurant, in dem berühmten Freizeitpark Xcaret, ein paar Kilometer außerhalb der Stadt. Dort hätten sie viele Kollegen gefeuert. Sie dürfe vorerst weitermachen. Vorerst.

„Wir haben geöffnet, ja?“

Auch bei Pasta & Polpetta, einem italienischen Restaurant abseits der geschäftigen Straßen, hatte man während unserer Recherchen vor Ort noch geöffnet. „Der Präsident wirkt auf mich wie ein Komiker“, sagt der junge Mann, der das Essen bringt. Viele Italiener sind hier zu Gast. Beim Verlassen des Lokales ruft er von der Theke zu: „Kumpel! Wir haben geöffnet, ja?“. Einen Moment lang ist seine Besorgnis zu spüren. Es ist die Gewissheit, was kommen wird.

Der Ausfall der Touristen wird Mexiko in einigen Regionen hart treffen. An der Riviera Maya besonders, an der sich neben Playa del Carmen auch noch Cancún befindet, Sommerfrische der US-Amerikaner, oder das Hippieparadies Tulum, das mit seinen Maya-Ruinen Jahr für Jahr abertausende Besucher anlockt. Große, für Mexiko wichtige Städte. Die gesamte Halbinsel Yucatan, deren Wohlstand vom Geld der Urlauber abhängt, wird bluten. Das Land hat eine starke Wirtschaft, eine der größten in Lateinamerika. Allein die Hauptstadt Mexiko City hat eine Wirtschaftskraft etwa so groß wie die von Peru. Der industrielle Zweig ist gut ausgebaut. Das Land exportiert viel – die meisten Flachbildschirme der Welt.

Es gibt eine breit aufgestellte Landwirtschaft. Die meisten Bundesstaaten werden den Wegfall des Tourismus verkraften können, irgendwie. Was tatsächlich große Schäden hinterlassen könnte, wäre eine strikte Ausgangssperre. 60 Prozent der mexikanischen Arbeiterschaft arbeiten im informellen Sektor, „als Klempner, Gärtner, Tacoverkäufer“, wie die Washington Post kürzlich berichtete. Diese Arbeiter haben so gut wie keine Ersparnisse. Sperrte man sie Zuhause ein, wäre das dramatisch für die mexikanische Wirtschaft.

Die Katastrophe folgt erst noch

Worum sich Mexiko besonders sorgen sollte, sind die Menschen. Das Gesundheitssystem ist schlecht, die Krankenhäuser kaputtgespart und unvorbereitet. Es werden Beatmungsgeräte fehlen. Kommt der große Ausbruch, beginnt das Virus erstmal zu wüten, werden viele Mexikaner dem Tod durch Ersticken nicht entkommen. Experten fürchten, das Land könnte Zustände wie in Europa erfahren. „Das wird so schlimm wie in Italien oder schlimmer“, sagte der Mediziner Francisco Moreno Sánchez der New York Times neulich.

Falls es wirklich so weit kommt, bereitete Präsident Obrador selbst den Boden dafür. Zum einen durch seine Verharmlosungen. Zum anderen durch die unsoziale Politik: Letztes Jahr strich er den Krankenhäusern und medizinischen Zentren des Landes Millionen an Steuergeldern. Der gesundheitliche Sektor wurde um 44 Prozent heruntergefahren, 10.000 Mitarbeiter wurden entlassen. Mexiko hat zu wenige Ärzte und Intensivbetten, nicht genug Corona-Tests, unzureichendes medizinisches Gerät. Das Gesundheitssystem werde deutlich schneller überlastet sein als in anderen Ländern, prophezeite neulich ein ehemaliger stellvertretender Gesundheitsminister Mexikos, Eduardo Gonzáles-Pier.

Verwaiste Straßen – auch in Playa del Carmen. Vorerst aber hat die Stadt andere Sorgen. Inzwischen ist die Quinta Avenida verwaist, jedes Geschäft ist geschlossen, cerrado. Ein surreales Bild, das die Menschen hier nicht gewohnt sind. In den sozialen Medien kursieren Videos der blutleeren Lebensader. Das Herz der Stadt steht bald still. Die eine Bekannte, die aus dem Restaurant im Freizeitpark, schickte kurz vor Ende unserer Recherchen in Playa del Carmen noch eine Nachricht: „Sie schließen. Morgen ist mein letzter Tag.“

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