Coronavirus in Italien - Wie kollektive Abwehrkräfte über die persönliche Freiheit siegen

Seit dem 9. März steht in Italien das Leben still – das ganze Land ist unter Quarantäne. Helen Hecker schildert in ihrem Erfahrungsbericht, wie sie die Situation unterschätzt hat und ihr nun ausgeliefert ist. Welche Lehren kann sie ziehen?

Das öffentliche Leben in Italien steht still – bald auch in Deutschland? / picture alliance
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Autoreninfo

Helen Hecker berichtet als freie Autorin und Fotografin für Online, Print und Rundfunk. Nach ihrem Studium der Sprach- und Politikwissenschaft in Bamberg zog es sie 2008 erstmals nach Sizilien. Dort spezialisierte sie sich in ihrer Auslandkorrespondenz auf Italien.

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Dass wir oftmals erst in schwierigen Situationen begreifen, was wirklich zählt, muss ich euch bestimmt nicht erklären. Doch wie bedeutsam plötzlich Dinge werden, die wir stets als selbstverständlich betrachten, das lehrt uns das Corona-Virus. Abends ein Bier mit Freunden in der Bar trinken, ins Kino gehen, im Bus oder der Bahn zur Arbeit fahren, im Büro sitzen, Geburtstag feiern, auf eine Demo gehen, Fußball spielen, einen Unbekannten nach einer Zigarette fragen, Geld berühren, sich räuspern, Hände schütteln, umarmen... Alles ganz natürlich. Oder?

Montag, 9. März: Die italienische Regierung verhängt eine eingeschränkte Ausgangssperre für das ganze Land. Wer nicht arbeiten gehen, Lebensmittel einkaufen oder aus gesundheitlichen Gründen das Haus verlassen muss, bleibt zu Hause. Das ist keine Bitte mehr. Je nach Größe der Supermärkte und Läden dürfen nur ein paar Leute auf einmal rein.

Kollektive Abwehrkräfte haben Vorrang

Im Sicherheitsabstand von einem Meter (der eigentlich auf vier Meter erweitert werden müsste) standen die Menschen heute das erste Mal auf den Bürgersteigen in der Schlange an, um einkaufen zu gehen. Ansonsten waren die Straßen gespenstisch leer. Außer ein paar wenige vorbeiratternde Vespas und Autos. Die Polizei machte Stichprobenkontrollen. Kollektive Abwehrkräfte haben Vorrang. Keine Parties, keine Konzerte, keine Sportveranstaltungen.

Alle Pubs, Theater, Museen, Kinosäle, Bibliotheken und Fitnessstudios geschlossen. Geschweige denn die Schulen, Universitäten und Kindergärten! Hochzeiten und Beerdigungen wurden verboten. Das Leben scheint still zu stehen, und gemeinsame Momente werden wieder kostbarer. Ein kleiner Schock, nicht nur für mich. Da saß man nun zu Hause und spürte plötzlich den Kloß im Hals. Kein Anzeichen einer bevorstehenden Grippe (bloß nicht!), sondern eher ein Gefühl von Beklemmung. Irgendwie seltsam.

Der Zusammenhalt als gemeinsamer Nenner

Nun war man nicht mehr Herr und Frau des eigenen Alltags und seiner sonst so banalen Freizeitpläne. Die hochgepriesene persönliche Freiheit und das Konsumglück schienen Stück für Stück zu bröckeln. Doch etwas war anders als sonst. Es schien okay zu sein! Alle waren bereit dazu, auch wenn dies oftmals einen enormen finanziellen Schaden bedeuten konnte. Plötzlich war etwas anderes entscheidender als je zuvor: Das Zusammenhalten!

Die Italiener gaben ein Stück ihrer persönlichen Freiheit auf, um gemeinsam etwas zu ändern. „Wenn alle zur gleichen Zeit die Pantoffeln anziehen, können wir die Verbreitung des Virus vielleicht eindämmen!“ Entscheidend war auf einmal das Kollektiv, selbst wenn dies bedeutete, isoliert in Quarantäne zu sein. Ein Widerspruch? Nein!

Ein Aufschrei nach „gemeinsamer Verantwortung“ ging durch Italien, den immer mehr Menschen verstanden und teilten. Auch ich. Zugegeben, das war nicht von Beginn an so. Anfangs war ich von all den Maßnahmen und Restriktionen nur wenig überzeugt. Ist die Welt nicht schon isoliert genug? Back in time.

Meine voreingenommenen Fehleinschätzungen

Dienstag, 3. März 2020: Ein kurzer Fieber-Scan am Flughafen von Catania, und ich war erneut auf meiner Insel. Nach grauen und verregneten Tagen in Berlin roch die Luft hier bereits nach Frühling. Als ich auf Sizilien landete, war die Lage in Norditalien bereits dramatisch.

Doch ich hatte immer noch die Euphorie der Berlinale in den Knochen und die gute deutsche „Nüchternheit“ im Blut. – Nur keine Panik bitte, oder gar italienische Hysterie! Am Ende ist Covid-19 ja fast wie eine Grippe, nur ein bisschen schlimmer. Wer weiß, vielleicht ist es hier in Süditalien eh sicherer. Und erst Recht auf der Insel. Sechs Fälle in Palermo. Einer in Catania. Das hält sich ja in Grenzen... Das dies oberflächliche und zudem voreingenommene Fehleinschätzungen waren, sollten mir die kommenden Tage beweisen.

„Die Welt war ok"

Freitag, 6. März 2020: Obwohl Sizilien bis dahin mit nur sehr wenigen bestätigten Fällen vom Coronavirus verschont geblieben zu sein schien, wurden alle öffentlichen Veranstaltungen und Konzerte abgesagt. Auch der langersehnte Gig einiger meiner Freunde. Als „real social animal“ war ich verärgert und protestierte: Damit mache man den Menschen nur noch mehr Angst! Kunst, Kultur und Musik seien wichtig, um das Gemeinschaftsgefühl zu stärken.

In dieser Welt fehle es eh bereits an sozialem Kontakt. Auf diese Weise treibe man alle noch mehr in die Isolierung sowie Abhängigkeit von den sozialen Medien, etc.. Trotz der abgesagten Events war ich voller positiver Energie. Es war Freitagabend und ich konnte es kaum erwarten gute Freunde wiederzusehen. Viele Küsschen, Umarmungen, Drinks und Stunden später, fiel ich glücklich in mein Bett. Die Welt war ok. Als mir die Luft wegblieb.

Als mir die Luft wegblieb

Samstag, 7. März 2020: Bereits beim Aufstehen überschlugen sich die Nachrichten. Jeden Tag wurde die Situation im Norden angespannter, und das wirkte sich auch auf die Atmosphäre hier im Süden aus. Was am Abend zuvor noch kaum spürbar war, schlich sich auf einmal unter den Türen der sizilianischen Wohnzimmer in alle Stuben: Bedenken, Zweifel, Unsicherheit.

Mit jeder Aktualisierung der Statistiken, mit jedem gestrichenen Flug, mit jeder weiteren Recherche, jedem gelesenem Interview, aber vor allem mit jeder weiteren Nachricht von befreundeten oder vertrauenswürdigen Ärzten wurde auch mir bald klar: Hier ging es um mehr. Es spielte kaum eine Rolle, ob ich mich nun anstecken würde oder nicht, wie gefährlich die Krankheit war oder wie hoch die Sterbequote – viel entscheidender wurde von Stunde zu Stunde: Wird das Land und vor allem das Gesundheitssystem dieser Belastung Stand halten?

Erschreckende Zustände in den Krankenhäusern

Wenn ich zu anfangs noch naiv annahm, dass nur ein verschwindend geringer Anteil der Covid-19-Patienten im Krankenhaus landete, wurde ich bald eines besseren belehrt. Diese Krankheit war nicht nur wie eine komplizierte Grippe. Von beinahe 5.000 Patienten allein in der Lombardei mussten über 3.000 stationär aufgenommen werden, und fast 500 waren in Intensivbehandlung. Steigende Zahlen täglich. Rechnet man sich das prozentuell aus, wird verständlich, welch dramatische Situation in den Krankenhäusern herrscht.

Nicht ohne Grund veranlasste die italienische Regierung in den vergangenen Tagen die sofortige Neubeschäftigung von über 20.000 medizinischen Fachkräften und die Bereitstellung von 7.500 zusätzlichen Betten auf Intensivstationen. Das ist eine Verdopplung der Kapazitäten und ohne Zweifel auch ein Appell an die Versäumnisse der Gesundheitspolitik der vergangenen Jahre.

Wenn Besonnenheit und Resilienz zur Tugend werden

Sonntag, 8. März 2020. Was am Abend vorher nur ein beklemmendes Gefühl war, sollte sich an diesem Tag zu einer neuen Wahrheit manifestieren. Die Gefahrenregionen im Norden wurden zur roten Zone erklärt und unter vollständige Quarantäne gestellt. Süditaliener, die bis dahin noch in Mailand, Venedig, Bologna und Co. ausharrten begannen die letzten Flüge Richtung Süden zu nehmen.

Rund 7.000 Sizilianer registrierten sich unter Zwangsanweisung als Heimkehrer und erklärten sich damit zur freiwilligen häuslichen Quarantäne bereit. Mit ihnen flog jedoch auch die Angst und das Unverständnis in den Süden. Viele der hier Ansässigen bezweifelten, dass die Heimkehrer das nötige Verantwortungsbewusstsein mitbrachten. Bis dahin gab es auf der Insel nur Patienten, die aus dem Norden kamen.

Gefahr des kollektiven Kollaps

Dies sollte sich in den kommenden Tagen ändern. Zudem wurden per Notstandsdekret nun in ganz Italien offiziell alle öffentlichen Plätze, Versammlungsorte und Veranstaltungen geschlossen. Die Vorboten der Ausgangssperre. Und plötzlich war alles klar. Hier ging es nicht um Panik oder übertriebene Vorsichtsmaßnahmen. Sondern das Sozialsystem des Landes war in Gefahr, und schlagartig wurde das jetzt allen bewusst.

Wenn die Regierung und die zuständigen Behörden solch drastische Entscheidungen treffen und einen wirtschaftlichen Zusammenbruch (vor allem für Süditalien) in Kauf nahmen, dann spielten wir hier tatsächlich mit dem Feuer, und das Risiko war real. Ein Risiko, das nicht nur jeden einzelnen mit einer Ansteckung betraf, sondern eine Gefahr des kollektiven Kollaps. Und genau das ist der Punkt. 

„Markt und Straßen stehn‘ verlassen, still erleuchtet jedes Haus, sinnend geh‘ ich durch die Gassen...“

23 Uhr, Montag, 9. März 2020: Stell dir vor, die Stadt hört nachts plötzlich auf zu atmen. Kein Lachen, kein Flüstern, kein Johlen, kein Jammern, keine Musik und keine Flaschen, die klappern oder kein verliebtes Paar. Nur Lichter und Schatten und ab und zu eine hellwache Streife auf Patrouille. Oder verirrte Scheinwerfer, die auf der Suche nach dem Leben sind. So wie du.

Ohne Leben auf den Straßen scheint die Stadt auf einmal unberechenbar zu sein. Mit dem gestrigen Tag war ab 18 Uhr alles dicht. Selbst die letzten Geschäfte, Supermärkte, Restaurants und Bars waren nun zu. Palermo, eine Geisterstadt. Ich habe so etwas zuvor noch nie erlebt, nur gelesen oder in Filmen gesehen. Plötzlich stellte ich mir den Nachtwächter vor, der mit seiner Laterne durch die Gassen läuft und wieder verkündet, welche Stunde die Uhr geschlagen hat.

Als schließlich ein Militärfahrzeug an mir vorbei rauschte (wahrscheinlich aufgrund der Gefängnisrevolte, die Palermo derzeit zusätzlich beschäftigt) wurde mir dennoch mulmig zu Mute. Plötzlich hatte ich das Gefühl mich auf dem Weg nach Hause verstecken zu müssen. Und dabei war es nur ein Abendessen mit der besten Freundin, um in diesen seltsamen Tagen zu mindestens ein wenig Gesellschaft mit den wichtigsten Menschen zu haben.

Die wichtigste Lektion: Gemeinschaft

Was wir von dem Virus lernen können? Menschlicher Kontakt! Gemeinschaft! Das ist es, was gerade wieder kostbar wird, neuen Wert gewinnt und lange nicht so selbstverständlich ist, wie wir oftmals denken. Wohl überlegt muss dies derzeit sein, und umso mehr genießt man es.

Für viele Menschen, insbesondere hier im Süden, ist diese Situation mit extremen wirtschaftlichen Einbußen verbunden, mit der Angst vor dem persönlichen Bankrott oder der Gefah, trotz Vorerkrankungen oder eines geschwächten Immunsystems zur Arbeit gehen zu müssen, weil keine finanziellen Rücklagen vorhanden sind.

Das Coronavirus stellt das System in Frage

Die Wahrheit ist leider, dass wir an einem Punkt angekommen sind, an dem nichts anderes bleibt, als alles was sonst so „normal“ war, in Frage zu stellen. Auch für mich als soziales Tier die wohl schwerste Hürde. Vieles schieben wir in unserer Gesellschaft seit langem vor uns hin. Kein Klimawandel, keine Millionen von Flüchtlingen haben bisher dieses System wirklich in Frage gestellt, Produktionsketten unterbrochen oder unsere Mobilität eingeschränkt.

Immer standen der Gewinn und das Konsumieren an erster Stelle. Doch wenn uns diese Erfahrung etwas lehren kann, dann ist es Resilienz und das Tempo herauszunehmen. Qualität statt Quantität. Die Besinnung auf das Essentielle. Denn für eine wirklich nachhaltige Zukunft, haben wir keine andere Wahl. Mit oder ohne Corona.

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