Coronakrise in Italien - Organisiertes Versagen

In keiner anderen Region der Welt sterben so viele Menschen am Coronavirus wie in der Lombardei. Obwohl die Krankheit bis heute über 9.000 Tote gefordert hat, gibt es keinen Plan zur Bekämpfung der Pandemie. Petra Reski über ein kaputtgespartes Gesundheitssystem und seine Folgen.

Letzte Station Krematorium: Nirgendwo fordert das Coronavirus so viele Tote wie in der Lombardei / picture alliance
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Petra Reski lebt in Venedig, schreibt über Italien und immer wieder über die Mafia. Zuletzt erschien ihr Roman „Bei aller Liebe“ (Hoffmann&Campe). Foto Paul Schirnhofer

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Ja, der Canal Grande liegt da wie ein Silbertablett. Und, ja, man kann in manchen Kanälen bis auf den Grund blicken, weil keine Boote mehr sind, die das Wasser mit ihren Motoren aufwühlen. Überall Enten und Kormorane und eine unheimliche Stille. Venedig in Zeiten des Coronavirus ist von gespenstischer Schönheit – wie viele Orte in Italien. 

Vor ein paar Wochen haben wir noch gefeiert, dass wir Venedig für uns hatten. Die Cafés am Markusplatz gaben allen Venezianern ein Getränk aus. Der Slogan hieß: „Piazza San Marco siete voi, l'aperitivo lo offriamo noi”, auf Deutsch: „Der Markusplatz, das seid Ihr, den Aperitiv schenken wir“. Die Initiative sollte bis Ende März dauern und dazu dienen, Venedigs Neuanfang zu preisen.  

Angst fressen Seele auf 

Wir in Venedig waren nicht die einzigen, die mit Aperitifs feierten, in Mailand hatte der Bürgermeister auf Instagram den Slogan „Mailand steht nicht still“ ausgegeben, Legachef Matteo Salvini forderte vollmundig, „alles zu öffnen, ja aufzureißen, und Nicola Zingaretti, Chef der demokratischen Partei und Regionalpräsident von Lazio, nahm in Mailand an Aperitifs „gegen die Angst“ teil. Und jetzt hat die Angst unsere Seelen aufgefressen. 

Nicola Zingaretti ist positiv auf den Coronavirus getestet worden. Mailands Bürgermeister Beppe Sala hat sich zur besten Sendezeit halbherzig für sein „Mailand steht nicht still“ entschuldigt. Matteo Salvini ist so verwirrt, dass er beim Bruttoinlandsprodukt drei Nullen weglässt und verbreitet, dass in Italien mehr Geld reinkommt als rausgeht, offenbar hat er noch nie etwas von Italiens Staatsverschuldung gehört. 

Italiens Gesundheitssystem wurde kaputtgespart 

Es sind vor allem die Menschen in seiner lombardischen Heimat, die mit dem Tod ringen. In der reichsten und produktivsten Region Italiens sterben so viele Menschen, dass die Krematorien mit dem Verbrennen der Leichen nicht mehr nachkommen. Hier sind 22 189 Menschen infiziert und 4.861 gestorben. Im Vergleich dazu das Veneto, das nach der Emilia immerhin an dritter Stelle der Coronavirus-Infektion steht: 6.140 Infizierte und 287 Tote. 

Das italienische Gesundheitssystem wird von den Regionen autonom verwaltet – und wurde jahrzehntelang kaputtgespart, um den Vorgaben der Maastrichter Verträge zu entsprechen. In der Lombardei, die nicht nur die bevölkerungsreichste Region Italiens ist, sondern auch die mit den meisten Alten – 2,65 Millionen über 65 Jahre – ging man schon früh dazu über, Kliniken zu privatisieren. Getreu dem Motto: „Der Markt wird es regeln“. Und er regelte es. Aber anders als erwartet. 

In der Lombardei leben 70.000 Chinesen

Vermutlich war die Lombardei die erste Brutstätte des Virus in Europa – und das seit Januar. Der berühmte „Patient Nummer 1“, der Manager der Unilever, kann sicher nicht als der „Infizierte Nummer 1“ gelten. In einer Klinik unweit von Piacenza soll es noch einen älteren Patienten gegeben haben, dem es schon am 10. Februar schlecht ging, während der „Patient Nummer 1“ aus Codogno erst am 20. Februar in die Klinik eingeliefert wurde.

Möglicherweise war der „Patient Nummer 1“ von einem „Patienten Nummer 0“ angesteckt worden, der aus Codogno zum chinesischen Neujahrsfest in seine Heimat in China gefahren war. Vielleicht von jemandem, der asymptomatisch war. Auf jeden Fall hat sich der Virus vermutlich schon lange vor dem sogenannten „Patienten Nummer 1“ in der Lombardei still verbreitet. Die Lombardei ist die Region, in der die meisten Chinesen in Italien leben – knapp 70.000 sind es offiziell. Die Dunkelziffer liegt weitaus höher. Auch die italienische Modeindustrie schätzt es, billig von chinesischen Subunternehmern produzieren zu lassen – die meist keinerlei Kontrollen unterworfen sind.

Das „Spiel Null“ und seine Folgen 

Codogno liegt im Herzen der Lombardei, unweit der Emilia, einem weiteren Hotspot, mit 8.850 Infizierten und 1.174 Toten auf dem zweiten Platz der Coronoavirus-Liste. Codogno befindet sich im Drehkreuz der italienischen Produktivität zwischen Piacenza, Cremona, Brescia, Bergamo, Mailand und Pavia. Städte mit großen Universitäten und großen Unternehmen, mit Flughäfen, Zügen – Städte voller Mobilität. In dieser Region fand auch das Fußballspiel zwischen Atalanta Bergamo und Valencia im Mailänder Stadion San Siro statt, das inzwischen als „Spiel Null“ bezeichnet wird: 45 000 Fußballfans feierten, 40 000 kamen aus Bergamo und feierten mit 2500 Fans aus Valencia – das heute zu den Brutstätten des Virus in Spanien gehört. 

Offenbar wurde die Lombardei – wie ganz Italien zum größten Teil – vom Virus überrascht. Keinerlei Vorbereitung auf die Pandemie, im Gegenteil. Noch im Februar verkündeten renommierte Virologen, dass für Italien keine Gefahr bestünde. Der letzte Virus-Plan der Region Lombardei stammt aus dem Jahr 2009 und richtet sich gegen den Influenza-A-Virus H1N1. Es gibt für die Region Lombardei kein Pandemie-Protokoll, weder für die Notaufnahmen der Krankenhäuser noch für die niedergelassenen Ärzte. So wurden die Orte, an denen die Menschen Hilfe erwarteten, zu tödlichen Fallen. 

Menschenleben wurden dem Profit geopfert 

In keiner anderen Region Italiens gibt es mehr infizierte Ärzte: 13 Prozent der lombardischen Ärzte sind infiziert, gegenüber dem nationalen Durchschnitt von 9 Prozent. Und seitdem das Pflegepersonal, also die Gruppe, die mehr als alle anderen dem Risiko einer Infektion ausgesetzt ist, negativ getestet wurde, ließ die Aufmerksamkeit für diese Zunft nach, weshalb jetzt auch Menschen zur Arbeit geschickt werden, deren Temperatur über 37,5 Grad liegt – wohl weil, wie ein Arzt aus Bergamo vermutet, so viele Krankenpfleger positiv sind, dass viele Krankenhäuser ohne sie schließen müssten. 

Anders als Codogno, dem Ort, aus dem der „Patient Nummer 1“ stammt, wurde weder die Provinz Bergamo noch die vor Brescia zur roten Zone erklärt – wohl um die Interessen der angesiedelten Industrie nicht zu stören. In diesen beiden Provinzen ist die Zahl der Infizierten am höchsten: Es ist nahezu die Hälfte aller Infizierten in der Lombardei. Hier wurden Menschenleben dem Profit geopfert.

Haben die Kliniken die Infektionsrate pünktlich gemeldet? 

Den Rest besorgt das privatisierte Gesundheitssystem der Lombardei. Dafür haben sich nicht nur Silvio Berlusconi stark gemacht, sondern auch die diversen Regionalpräsidenten, nicht zuletzt der ehemalige Regionalpräsident der Lombardei, der Forza-Italia-Politiker Roberto Formigoni, der 2019 zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde, weil er sich von den Betreibern einiger Privatkrankenhäuser in Mailand und Pavia bestechen ließ – und sich ihnen mit 100 Millionen Euro an öffentlichen Geldern erkenntlich erwies. 

Das Ergebnis ist jetzt zu besichtigen: An Patienten, die am Coronavirus erkrankt sind, lässt sich nicht so viel verdienen wie mit teuren Operationen. Niemand weiß, wie viele private Kliniken die Infektionsrate pünktlich an das Gesundheitsamt gemeldet haben. Und wie viele alte Leute in privaten Kliniken gestorben sind, deren Familien nicht mehr erfahren, als dass sie einer „plötzlichen Infektion“ erlegen sind. 

Manchen Patienten wird geraten, sich ein Sauerstoffgerät zu kaufen 

Ähnlich verhält es sich mit den privaten Altenheimen. Allein im Altenheim von Mediglia starben 52 Menschen. Deren Angehörige sind möglicherweise selbst infiziert, aber nicht getestet. Was bedeutet, dass es möglicherweise viel mehr Coronatote in der Lombardei gibt, als die offiziellen Zahlen belegen. 

Wer zu Hause ist und Fieber und Husten hat, dem bleibt nichts anderes übrig, als sich dem Zufall anzuvertrauen, berichten immer wieder Betroffene aus der Lombardei: Wer sich an die Gesundheitsämter wendet, erfährt nicht mehr, als dass er seinen Hausarzt anrufen soll – der möglicherweise dazu rät, ein Aspirin einzunehmen. Manchen wird auch geraten, sich ein Sauerstoffgerät zu besorgen. Und so hat der Infizierte Gelegenheit, die ganze Familie anzustecken.  

Auf einen Infizierten kommen zehn nicht erfasste Fälle   

Das Schlimmste an der Coronakrise in der Lombardei ist, dass kein Plan besteht. Weder seitens des Regionalpräsidenten der Lombardei, dem Legapolitiker Attilio Fontana, der den meisten Italienern durch ein tragisch-komisches Video bekannt wurde, bei dem er schon daran scheiterte, sich eine Schutzmaske anzulegen. Noch durch seinen Regionalrat für Gesundheit, Giulio Gallera, der darauf hofft, Mailands nächster Bürgermeister zu werden und auf Facebook Wutausbrüche kriegt, wenn er kritisiert wird. 

Nach den Worten von Angelo Borelli, dem Zivilschutzbeauftragten der italienischen Regierung, ist die Annahme gerechtfertigt, dass auf einen offiziell als infiziert erklärten Kranken zehn Fälle kommen, die nicht erfasst wurden. Nach den heutigen Zahlen von 62.013 Covid-Positiven wären also in Italien ungefähr 600 000 Menschen mit dem Virus infiziert.

Keine guten Aussichten für uns. Auch wenn der Canal Grande wie ein Silbertablett daliegt. 

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