EU in der Coronakrise - Europäische Trugbilder

Wer Europa nicht den zornigen Nationalisten überlassen will, muss mit offenen Karten spielen. Doch in Deutschland werden die berechtigten Sorgen der Bürger hartnäckig ignoriert. Stattdessen stockt die EU ihr Anleihen-Programm um weitere 600 Milliarden Euro auf. Das schadet dem Friedensprojekt. 

Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bei einer Pressekonferenz zum Corona-Hilfspaket / dpa
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Autoreninfo

Wolfgang Bok war Chefredakteur und Ressortleiter in Stuttgart und Heilbronn sowie Direktor bei der Berliner Agentur Scholz & Friends. Der promovierte Politologe lehrt an der Hochschule Heilbronn Strategische Kommunikation.

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Die Deutschen sind vernarrt in das Narrativ. Nur groß muss die Erzählung sein. Wenn nicht die Welt (Klima, Flüchtlinge), so sollte zumindest Europa gerettet und gegen das Gift des Nationalismus mit viel Geld immunisiert werden. Wer da kleinlich rechnet und dezent darauf verweist, dass Länder wie die Schweiz oder nun Großbritannien gut ohne die Vorgaben aus Brüssel zurechtkommen; und es sogar EU-Länder gibt, die  ohne den Euro (Schweden, Dänemark) recht angenehm leben, wird unversehens in die rechte Ecke gedrängt. 

Vom Bundespräsidenten über die Bundeskanzlerin bis hin zu nahezu allen Medien, Kirchen und Verbänden herrscht Einigkeit: Für das Friedensprojekt Europa müssen die Deutschen eben solidarisch bis zur Schmerzgrenze sein. Frei nach Mario Draghi: „Whatever it takes“. Notfalls müssen eben die Steuern und Abgaben, die heute schon die höchsten unter den 36 OECD-Ländern sind, weiter erhöht werden, damit Rom oder Madrid dies ihren Landsleuten nicht zumuten müssen. Denn das würde im Süden nur weiteren Groll gegen Brüssel und Berlin schüren. Aber schon dieser Verweis gilt als anti-europäisch.

Entweder Vertiefung Europas oder nationale Souveränität

Zu dumm nur, dass ausgerechnet das Bundesverfassungsgericht daran erinnert, dass die deutsche Europa-Liebe auf Trugbildern baut: Den Bürgern wird erzählt, dass die Vertiefung vom Staatenbund zum Bundesstaat ohne Aufgabe der nationalen Souveränität zu haben sei. Auf 138 Seiten haben die Hüter der deutschen Verfassung dargelegt, wie sehr Europäische Zentralbank (EZB), Europäischer Gerichtshof und EU-Kommission den vorgegebenen Rahmen einer Vertragsgemeinschaft sprengen.

Und wie leichtfertig sich das deutsche Parlament sein Königsrecht, nämlich die Etatfestsetzung, von diesen demokratisch nicht ausreichend legitimierten Institutionen beschneiden lässt. Denn wozu noch um Tausender-Beträge in Kommunen, Bezirken, Ländern und beim Bund ringen, wenn neben der EZB nun auch noch die EU die Märkte mit Abermilliarden flutet – und damit vor allem Deutschland als Hauptfinanzier gigantische Haftungsrisiken aufbürdet? Also letztlich die Etat-Hoheit ad absurdum führt.

Europäische Union heißt Schuldenunion 

Um diese berechtigte Frage erst gar nicht diskutieren zu müssen, hat Kanzlerin Merkel bereits 2010 die Kritiker der Griechenland-Rettung mit einem Totschlagargument zum Schweigen gebracht: „Scheitert der Euro, scheitert Europa!“ Also sei es alsbald vorbei mit der Friedensunion, von der Deutschland angeblich besonders profitiert. Kein Wort davon, dass die Bundesrepublik auch schon vor dem Euro Meister des Exports war und friedlich mit den Nachbarn lebte. Oder dass die Transferbezieher weit größeren Nutzen aus der Union ziehen als der ewige Nettozahler, der seine Verkäufe indirekt selbst mit finanzieren muss. Was wiederum den Zuspruch der Wirtschaft zu Wiederaufbauprogrammen erklärt.

Bis Ende Mai 2020, bis Kanzlerin Merkel zusammen mit dem französischen Präsidenten Macron ein 500-Milliarden-Paket schnürte und damit nicht nur eine 180-Grad-Wende zur Schuldenunion vollzog, wurde von Berlin auch ein zweites Trugbild gepflegt: Dass man die europäische Einigung weiter vertiefen kann, ohne erst in eine Haftungs- und dann in eine Schuldenunion zu schlittern. Dass also letztlich die ohnehin geschröpften deutschen Sparer und Steuerzahler nie und nimmer für die Banken der insgesamt gesehen wohlhabenderen Immobilienbesitzer in Italien oder Spanien einspringen müssen. Nur: Die gegenteilige Wahrheit zu sagen, traut man sich dann doch nicht. Stattdessen spricht man von Solidarität und Wiederaufbau, als habe nicht ein Pandemie die verkümmerten Gesundheitswesen bloßgelegt, sondern ein Bombengeschwader ganze Städte in Ruinenfelder verwandelt.

Die alten Fehler

EZB und EU-Kommission maskieren die Geldflutungen mit kruden angelsächsischen Kürzeln. Wer hinter diese Verschleierungen blickt, die einem Hütchenspieler zur Ehre gereichen, wie eben die Karlsruher Richter oder der renommierte Ökonom Hans-Werner Sinn (ehemals Ifo-Präsident), bekommt von Häme bis Hass die ganze Palette schmähender Ablehnung zu spüren. Berlin fällt sogar den „sparsamen Vier“ (Österreich, Niederlande, Dänemark, Schweden) in den Rücken, die man bislang als Verbündete einer soliden EU-Finanzpolitik gepflegt hat. 

Wieder werden die Fehler gemacht, die man schon in der Flüchtlingskrise oder der Zeit nach Fukushima gemacht hatte: Man behandelt das Volk, als halte man es für unmündig. Leicht verführbar von Verschwörungstheoretikern, zu denen schon zählt, wer die Lockdown-Politik für überzogen hält. Wer an der Sinnhaftigkeit der Energiewende zweifelt, ist ein Klimaleugner. Wer die Willkommenskultur kritisiert, ist Rechtspopulist oder gleich Rassist. Und wer die Geldflutung von EZB und EU für falsch hält, ist Anti-Europäer. Selbst CDU und CSU haben diesen hohen Ton der moralischen Selbstgerechtigkeit übernommen – entgegen allen bisherigen Parteitagsbeschlüssen. Sie stellen sich taub gegen das Grummeln im Volk und wollen nicht wahrhaben, dass diese Ignoranz aus EU-Skeptikern erst recht EU-Gegner macht. 

Europa der zornigen Nationalisten

Die AfD ist auch deshalb keine Alternative, weil ihre Verbündeten in Rom, Paris oder Warschau zu den eifrigsten Deutschland-Hassern zählen. Dieses Europa der zornigen Nationalisten wollen auch diejenigen nicht, die lediglich darauf verweisen, dass sich die europäische Institutionen an Verträge halten und die nationale Souveränität achten sollen. Das ist in jedem europäischen Land selbstverständlich. Nur in Deutschland überwiegen die Kräfte, die das Bekenntnis zur Nation bereits als üblen Nationalismus wähnen. Gegen diesen unerhörten Verdacht muss sich nun sogar das höchste deutsche Gericht verwahren. Offenbar soll die letzte gewichtige Stimme, die sich noch für die einheimischen Steuerzahler und Sparer einsetzt, mundtot gemacht werden. 

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