Coronavirus-Pandemie in Schweden - „Ich würde Skifahren gehen“

Schweden ist das einzige Land in Europa, das einen weniger rigorosen Umgang mit dem Coronavirus pflegt. Hinter der Strategie steht die schwedische Gesundheitsbehörde und ihr „Staatsepidemiologe“ Anders Tegnell. Ein Gespräch über Sinn und Unsinn von Maßnahmen gegen das Virus.

Bis vor kurzer Zeit waren auch in Deutschland noch Skipisten geöffnet / dpa
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Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Anders Tegnell, geboren 1956 im schwedischen Uppsala, ist Arzt und berät als Staatsepidemiologe die schwedische Regierung bei der Bekämpfung der Coronavirus-Epidemie.

Schweden reagiert auf die Corona-Krise anders als der Rest Europas: Nur Versammlungen von mehr als 500 Menschen sind verboten, Kindergärten und Schulen bis einschließlich der neunten Klasse sind weiter geöffnet, dasselbe gilt für Restaurants und sogar Skigebiete. Als Staatsepidemiologe der Gesundheitsbehörde gelten Sie als Mastermind der Strategie. Warum fährt Schweden eine andere Strategie?
Alle Länder haben dasselbe Ziel: Wir versuchen, die Verbreitung des Virus zu reduzieren. Gleichzeitig sind wir uns wohl alle einig: Es ist nicht mehr möglich, das Virus auszulöschen. Wir haben das Virus in allen europäischen Ländern, also müssen wir seinen Effekt minimieren, seine Verbreitung so stark wie möglich bremsen. Aber die Maßnahmen, die wir wählen, sind abhängig von der Gesetzeslage im jeweiligen Land, vom kulturellen Hintergrund und davon, was die Wissenschaft uns sagt.

Aber kommt die Wissenschaft in Schweden zu anderen Schlüssen als in Deutschland?
Nein. Das ist nicht der Eindruck, den ich aus Gesprächen mit meinen Kollegen in Deutschland habe. Wir sind uns einig, etwa darin, dass es zu diesem Zeitpunkt sinnlos ist, die Grenzen zu schließen. Wir sind uns auch einig darin, dass es nötig ist, soziale Kontakte zu minimieren. Wir sind uns aber auch darin einig, dass es sehr schwer abzusehen ist, was passiert, wenn man Schulen schließt. Viele Dinge passieren, wenn man das macht: Die Kinder sind davon betroffen, die Gesellschaft, besonders die Eltern. Darin unterscheidet sich Schweden von vielen Ländern: Hier arbeiten fast immer beide Elternteile. Und viele von ihnen arbeiten im Gesundheitssystem. Und wenn wir mit ihnen sprechen, sagen sie: Schließt die Schulen nicht. Das bedeutet, dass der Effekt dieser Maßnahme auf die öffentliche Gesundheit viel schlimmer sein wird als die Ausbreitung des Viruses in einer Schule.

In Deutschland hat man ja den Kompromiss gewählt, dass es für die Kinder von Krankenschwestern, Ärzten, Supermarkt-Verkäufern usw. weiterhin eine Notbetreuung gibt …
Das wäre in Schweden sehr schwierig, weil es bedeuten würde, dass sehr viel Kinder trotzdem in die Schule und in den Kindergarten gehen würden. Der Effekt wäre dann sehr, sehr klein. Manche Ökonomen haben errechnet, dass wir 25 Prozent unserer Arbeitskräfte verlieren würden, wenn wir die Schulen schließen würden. Im Gesundheitsbereich wären das noch mehr.

Sie sagen, dass die Wissenschaftler sich einig sind, dass es sinnlos ist, zu diesem Zeitpunkt die Grenzen zu schließen. Warum tun Politiker es trotzdem?
Wir leben jetzt in einer seltsamen Welt. Normalerweise müssen wir im Gesundheitswesen darum kämpfen, damit Dinge getan werden, zum Beispiel Impfkampagnen. Jetzt müssen wir darum kämpfen, dass Dinge NICHT getan werden. Wenn Sie Wissenschaftler in ganz Europa fragen, ob es zu einem Zeitpunkt, zu dem es in jedem Land eine bedeutende Zahl an Corona-Fällen gibt, Sinn macht, die Grenzen zu schließen, wird die Antwort sein: Nein. Es waren die Reisenden, die das Virus am Anfang ins Land gebracht haben, aber jetzt sind sie es nicht mehr. Und ganz abgesehen davon: Wir könnten ja nicht die Grenzen für unsere eigenen Staatsbürger schließen.

Also tun Politiker das, weil der öffentliche Druck so groß ist?
Da müssen Sie die Politiker fragen. Ich weiß nicht, warum sie diese Dinge tun. Schweden unterscheidet sich in einem wichtigen Punkt von vielen anderen Ländern: Wir haben hier seit Jahrhunderten sehr starke Behörden. Ein Großteil des technischen Wissens liegt in diesen Behörden. Unsere Ministerien dagegen sind klein, sie unterstützen die Politiker bei den Entscheidungen, die diese treffen. Aber Politiker treffen in Schweden keine Entscheidungen in Detailfragen, sie geben nur die generelle Marschrichtung vor. Und die Behörden erarbeiten dann einen Plan, wie man vorgeht. Politiker treffen die Entscheidungen, aber diese basieren auf dem Wissen und der Erfahrung, die wir ihnen liefern.

Dennoch bekommen gerade Sie persönlich in der schwedischen Öffentlichkeit viel Gegenwind ...
Nein, zumindest nicht in der öffentlichen Meinung. Sie sollten mal die riesige Zahl an Unterstützerbriefen sehen, die wir täglich bekommen.

Der Großteil der Schweden unterstützt Sie momentan?
Definitiv. Es gab eine Reihe von Umfragen, zu unserer Behörde und zu mir persönlich. Das Ergebnis ist: Wir haben unglaublich große Unterstützung.

Aber die Kritiker sagen, dass Ihre Strategie innerhalb von Wochen zu Zuständen wie in Italien oder Spanien führt. Was antworten Sie?
Niemand weiß es. Wir haben entschieden, dass unsere Maßnahmen die sind, die wirken. Wir glauben weiterhin daran, und wir sehen nichts, was andere Entscheidungen erfordern könnte. Ich möchte auch daran erinnern, dass Italien sehr früh sogenannte harte Maßnahmen ergriffen hat: Sie stoppten Flüge nach China, sie kontrollierten ihre Grenze.

Warum ist die Epidemie in Italien dann so außer Kontrolle geraten?
Das werden wir erst nach einer Auswertung der ganzen Situation wissen. Und selbst dann wird es schwer sein, weil die Bedingungen in jedem Land sich unterscheiden. Einen großen Unterschied gibt es aber: Bevor die Lage in Italien eskalierte, dachte niemand, dass so etwas passieren könnte. Man dachte, dass das Virus doch auf China beschränkt bleiben würde. Viele Länder waren deshalb nicht besonders aufmerksam. Sie schlossen ihre Grenzen und dachten, dass ihnen das helfen wird. Es dauerte eine Weile, bis Italien verstand, was da bei ihnen wirklich passierte. In anderen Ländern kann das nicht mehr passieren, weil wir in höchster Alarmbereitschaft sind. Wir können heute Dinge sehr viel früher tun, als Italien je die Chance hatte.

Derzeit hat Schweden etwa 2500 nachgewiesene Corona-Erkrankungen. Werden Sie denn Ihre Strategie ändern, wenn es nicht gelingt, die Kurve der Neuinfektionen abzuflachen?
Das könnte passieren. Unsere Regierung sagt, dass sie bereit ist, alle Arten von Entscheidungen zu treffen, wenn es nötig ist. Aber bis jetzt gehen die Zahlen nicht nach oben.

Manche Kritiker sagen, Ihr wahres Ziel sei, möglichst schnell eine Herdenimmunität herzustellen …
Wir versuchen, die Verbreitung so stark wie möglich zu verlangsamen. Eines Tages werden wir vielleicht eine Herdenimmunität erreichen, wie im Fall von anderen Krankheiten. Aber das ist nicht unser Ziel, und es wird auch nicht alle Probleme lösen.

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Würden Sie persönlich denn im Moment Skifahren gehen?
Ja.

Und wie würden Sie sich schützen?
Meine wichtigste Schutzmaßnahme wäre es, keine vielbesuchten Restaurants oder Bars zu besuchen, keine verschließbaren Skilifte oder Gondeln zu benutzen, in denen man zehn oder mehr Minuten mit anderen Menschen auf engstem Raum verbringt. Ansonsten gilt: Draußen zu sein und Sport zu treiben ist immer gut für die Gesundheit. Die Krankheit verbreitet sich nicht, während man Ski fährt. Was in den Alpen passiert ist, hatte eher mit den Après-Ski-Bars zu tun als damit, dass Leute Ski gefahren sind.

Sind denn die Bars in den Skigebieten geschlossen?
Inzwischen ja. Und wir haben mit den Betreibern der Skigebiete darüber gesprochen, dass sie keine verschließbaren Skilifte mehr einsetzen sollen. Außerdem tritt demnächst eine Regelung in Kraft, dass in Restaurants nur noch an Tischen bedient werden darf. Das soll die Bildung von Gruppen in den Restaurants einschränken. Das alles zusammen minimiert das Ansteckungsrisiko in den Skigebieten – und es wird dadurch nicht höher als in Stockholm.

Ganz allgemein gefragt: Ist das Coronavirus weniger gefährlich als sonstige Grippeviren?
Für die meisten Menschen ist das Coronavirus weniger gefährlich als die Grippe, die wir in den letzten Jahren hatten, weil der Krankheitsverlauf meistens sehr milde ist. Für ältere Menschen dagegen ist das Coronavirus weitaus gefährlicher. Aber der große Unterschied liegt eben darin, dass niemand bei uns eine Immunität gegenüber dem Coronavirus besitzt. Es wird also eine große Zahl an Ansteckungen geben. Gleichzeitig will ich darauf hinweisen, dass wir in Schweden in normalen Jahren etwa 1.500 Tote durch Grippeviren haben, am Coronavirus aber bislang etwa 60 Menschen gestorben sind. Ja, wir befinden uns erst am Anfang, und der nötige Respekt vor dieser Krankheit ist geboten. Aber man muss die Dinge im Verhältnis sehen.

In einem Interview sagten Sie vor kurzem, dass sich der Ausbruch der Epidemie im Mai beruhigen werde, aber im Herbst wiederkommen könnte. Warum?
Wir glauben, dass das aktuelle Coronavirus sich in Schweden wie viele andere Corona-Viren verhalten wird. Alle Viren, welche die Atemwege betreffen, verhalten sich gleich. Das bedeutet, dass die Ausbreitung im Sommer viel langsamer gehen wird. Das Virus mag keine Sonneneinstrahlung, und auch keine trockene Sommerluft. Hinzu kommt, dass wir in Schweden im Sommer viel mehr Zeit draußen verbringen. Was dann im Herbst passiert, hängt davon ab, wie viele Menschen während des Höhepunkts der Epidemie immun geworden sind. Wenn genug Menschen immun geworden sind, wird im Herbst womöglich nichts passieren. Wenn es nach dem Sommer noch viele gibt, die für das Virus empfänglich sind, wird es die nächste Welle geben.

Sie glauben also, dass jemand, der die Krankheit hatte, danach immun ist?
Das ist zu erwarten. Wenn wir mit den Experten für Corona-Viren in Schweden sprechen, erklären sie uns, dass es diese Immunität gibt. Die große Frage lautet: Wie lange hält sie an? Der Beobachtungszeitraum ist bislang recht kurz, aber die Erfahrung in China und Italien zeigt uns, dass es sehr wenige Fälle von Menschen gibt, die sich zweimal angesteckt haben.

In Deutschland wird als Alternative zu den jetzigen Maßnahmen diskutiert, ob man nicht alte Menschen und jene mit Vorerkrankungen isolieren könnte – und der Rest der Bevölkerung kehrt wieder zum normalen Leben zurück. Ist das das schwedische Modell?
Wir denken, dass es sehr wichtig ist, alte Menschen zu isolieren – so hart das auch klingen mag. Wenn das gelingt, hat man einen großen Teil des Problems gelöst. Andererseits ist es nicht möglich, sie komplett zu isolieren. Deshalb ist es nötig, die Ausbreitung der Krankheit in der restlichen Bevölkerung zu bremsen. Und deshalb sage ich allen, die sich morgens krank fühlen, dass sie zu Hause bleiben sollen.

Schweden hat am 11. März auch seine Test-Strategie grundlegend geändert: Seitdem werden nur noch alte Menschen, Schwerkranke und medizinisches Personal getestet. Warum?
Wir testen seitdem nicht weniger, sondern mit jeder Woche mehr – inzwischen etwa 1.500 Menschen pro Tag, was ziemlich viel ist für die schwedische Bevölkerung. Wir glauben, dass man dort testen muss, wo ein Test relevant ist. Wir wollen nicht, dass das Virus in unsere Krankenhäuser kommt, deshalb testen wir alle, die mit Atemwegs-Symptomen ankommen. Wir testen auch Pflegekräfte, die sich um alte Menschen kümmern – wenn sie Symptome zeigen. Jedes Land testet irgendeine Untergruppe – kein Land kann alle testen, die Grippesymptome zeigen.

Hat Südkorea das nicht getan?
Nein. Wir sprechen mit den Südkoreanern. Sie haben sehr viel in Risikogruppen getestet, aber in der allgemeinen Bevölkerung gab es recht wenige Tests.

Angenommen, ich wäre ein 28-jähriger Schwede und würde Symptome zeigen. Sollte ich einen Test machen?
Ich würde Ihnen sagen, dass sie zu Hause bleiben und wieder gesund werden sollen. Wenn Sie so starke Symptome zeigen, dass es nötig ist, zum Arzt zu gehen, sollten Sie das tun. Aber ein Test würde nichts ändern, er wäre zu diesem Zeitpunkt nur eine Verschwendung von Ressourcen.

Aber dann fließe ich nicht in die Statistik ein …
Aber das ist ja überall so. Kein Land weiß, wie viele Menschen sich mit dem Coronavirus infiziert haben. Es gibt sehr viele Menschen mit sehr milden Symptomen. Sehr viele Menschen – auch in Deutschland –  laufen durch die Gegend, ohne zu wissen, dass sie sich angesteckt haben. Wir können nur einen Trend sehen.

Ist denn die geographische Lage von Schweden auch ein Grund dafür, dass Sie eine andere Strategie gewählt haben als Deutschland?
Unsere geringe Bevölkerungsdichte spielt eine Rolle, außerdem die Tatsache, dass wir eine nach Altersgruppen aufgeteilte Gesellschaft sind. Damit meine ich, dass ältere Menschen in ihren eigenen Häusern leben und Menschen mit Kindern in anderen. Diese Altersgruppen treffen relativ wenig aufeinander. Wir sehen jetzt, dass es sehr wenige Infektionen unter den Älteren gibt. Das liegt daran, dass diejenigen, die das Virus nach Schweden gebracht haben, Reisende waren. Und die treffen offenbar nur Menschen aus ihrer Altersgruppe. In Schweden dauert es also viel länger, bis das Virus andere Altersgruppen erreicht.

Sind Sie der Meinung, dass die Politik in Europa sich zu sehr von Emotionen und zu wenig von Fakten leiten lässt?
Ich kommentiere Politik nicht auf diese Weise. Ich denke, dass wir auf diese Situation mit den besten Methoden reagieren müssen, aber diese Methoden unterscheiden sich von Land zu Land, je nachdem, wie unsere Systeme funktionieren, in welcher Kultur wir leben und wie die Bevölkerung aussieht. Wir in Schweden tun unser Bestes, um unsere Bevölkerung zu schützen und die öffentliche Gesundheit auf dem gleichen Niveau zu halten.

Das Interview führte Cicero-Politikressortleiter Moritz Gathmann.

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