Lebenslänglich für Attentäter von Christchurch - „Es ist Ihnen nicht gelungen, die Muslime zu entfremden“

Der Oberste Gerichtshof in Christchurch hat den Attentäter Brenton Tarrant zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Für das Multi-Kulti-Land war der Anschlag ein Schock. Am Ende hat er die Nation aber zusammengeschweißt.

Menschen demonstrieren vor dem Gerichtsgebäude in Christchurch / dpa
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Autoreninfo

Selwyn Manning ist Gründer und Chefredakteur des neuseeländischen Evening Report. Er gilt als einer der renommiertesten Investigativ-Journalisten des Landes

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Wo fängt eine Gräueltat an? Ist es, wenn der erste Schuss abgegeben wird? Wenn das erste Opfer getötet wird? Wenn ein Mörder von Hass, Entfremdung oder Schuldgefühlen überwältigt wird? Oder fängt es an, wenn das Töten von denjenigen verteidigt wird, die man unterstützen, die man beeindrucken will? Wenn er die Hassideologie eines anderen übernimmt? Oder wenn das Schweigen jene Menschen um uns herum schützt, die von unmenschlichen Dingen sprechen?

„Ok Jungs, genug geredet, es ist Zeit zum Handeln.“ Mit diesen Worten erklärte Brenton Harrison Tarrant am 15. März 2019 seinen dunkelhäutigen Bekannten seinen Plan, so viele Menschen muslimischen Glaubens wie möglich zu ermorden.

Der Täter hatte die Moschee ausspioniert

Tarrant packte sechs Schusswaffen in sein Fahrzeug, darunter: zwei Sturmgewehre im Militärstil und halbautomatische Schrotflinten. Er steckte auch noch 7.000 Schuss Munition, ein bajonettähnliches Messer und vier IEDs (improvisierte Sprengkörper) ein. 

Bekleidet mit einer kugelsicheren Weste, stieg er vor einem gemieteten Hauses in Dunedin in sein Auto und fuhr 361 Kilometer nördlich nach Christchurch, Neuseelands größte Stadt auf der Südinsel. Zwei Monate zuvor hatte Tarrant Christchurch besucht und beobachtet, wie Hunderte von Menschen den Freitagsgebeten beiwohnten. Er entschied, dass die Al-Noor-Moschee der Ort sei, an dem er mit seinen Morden beginnen würde. Und der Freitag sollte der Wochentag sein, der ihm die Gelegenheit bot, an einem einzigen Nachmittag so viele Menschen wie möglich zu töten.

Morden vor einem Millionenpublikum

Am frühen Nachmittag kam Tarrant in der Al-Noor-Moschee an. Er parkte sein Fahrzeug in einer benachbarten Einfahrt. Etwa 190 Gläubige – Kinder, Frauen, Männer – waren bereits eingetroffen, und andere machten sich zum Freitagsgebet auf den Weg dorthin.

Noch immer in seinem Fahrzeug, knöpfte Tarrant seine kugelsichere Weste zu. Er setzte einen Helm auf. Zuvor hatte er eine Videokamera und ein Stroboskoplicht am Helm befestigt – das sollte seine Opfer verwirren; die Kamera war über ein Mobiltelefon mit dem Internet verbunden. So konnte er seine Gräueltat per Livestream auf Facebook übertragen – vor einem Publikum, das war ihm wichtig. 

E-Mail an die Regierungschefin  

Tarrant stellte sein „Manifest“ auf eine extremistische Website. Außerdem kündigte er sein Verbrechen per E-Mail an die neuseeländische Regierung, an die Premierministerin Jacinda Ardern sowie an nationale und internationale Medien an. Sein Manifest fügte er bei. 

Minuten später stieg Tarrant mit zwei halbautomatischen Schusswaffen mit mehreren Magazinen aus seinem Auto und näherte sich dem Eingang der Al-Noor-Moschee.

Urteil: lebenslänglich 

In dürren Worten beschrieb Richter Cameron Mander, der den Prozess gegen Tarrant vor dem Obersten Gerichtshof von Christchurch führte, was dann folgte: „Zu diesem Zeitpunkt befanden sich vier Gläubige, Mounir Soliman, Said Ali, Amjad Hamid und Hussein Moustafa, am Haupteingang der Moschee.“

Ohne Vorwarnung feuerte er mehrmals kurz hintereinander die Schrotflinte ab und tötete jeden von ihnen. Ein Verwundeter, Herr Moustafa, wurde aus nächster Nähe mit Schüssen in Rücken und Kopf hingerichtet. Das war der Anfang. Innerhalb einer Stunde starben 51 Gottesdienstbesucher, weitere 40 wurden schwer verletzt. Das Gericht befand, dass eine Mindestfreiheitsstrafe nicht ausreichte. Es verurteilte den Mörder zu lebenslanger Freiheitsstrafe ohne Bewährung. 

Eine Bühne für die Opfer

Prozessbeobachter hatten befürchtet, dass Tarrant von seinem gesetzlichen Recht Gebrauch machen würde, vor dem Hohen Gericht zu sprechen – und dass er dabei seine rechtsextremistische Ideologie verbreiten würde. Um das zu verhindern, ordnete der Richter Mander strenge Kontrollen der Medien an und bestand darauf, dass Tarrant aus dem Gerichtssaal entfernt werden würde, sollte er den Prozess als Bühne nutzen.

Opfern und Überlebenden wurde angeboten, vor dem Gericht zu erzählen, wie das Verbrechen ihr Leben verändert hatte. Ursprünglich wollten 60 Menschen diese Chance nutzen. Nachdem andere beobachtet hatten, wie heilsam diese Erfahrung war, stieg die Zahl auf 98 an.

Das Attentat hat die Gemeinschaft gestärkt 

Einige Muslime erzählten, wie der Mord ihren Glauben gestärkt hatte, dass sie als Gemeinschaft stärker geworden seien. Sie bedankten sich dafür, dass Neuseeländer aller Hautfarben sie als geschätzte Mitglieder der Familie der Nation umarmt hätten. Immer wieder fiel der Satz, dass der Täter versucht hätte, die Nation zu spalten und die Muslime von der Gesellschaft zu entfremden. „Das ist Ihnen aber nicht gelungen.“ 

Der Angeklagte hörte sich solche Sätze reglos an. Wann immer er in den Gerichtssaal geführt wurde, waren seine Hände und Beine gefesselt. Wenn ihn der Richter etwas fragte, reagierte er höflich und respektvoll. Konzentriert und aufmerksam hörte er auch den Überlebenden zu, wenn auch ohne Emotionen zu zeigen.

Eine Träne für die Mutter eines Opfers 

Irgendwann wandte sich die Mutter eines ermordeten Opfers an Tarrant. Sie erklärte, sie habe „keinen Hass auf ihn“, sie habe ihm verziehen. Tarrant nickte ihr zu. Er blinzelte kurz und schien sich eine Träne aus dem Auge zu wischen. Mehr Gefühle ließ er nicht zu. 

Dann kam das Urteil. Vier Stunden lang las Richter Mander einen Bericht über die Ereignisse an diesem Tag vor. Der Richter Mander sprach über jedes einzelne Opfer und über die Umstände, unter denen es starb oder verletzt wurde. Dafür bekam er in Neuseeland viel Beifall. 

Wie der Mord das Herz der Muslime zerriss 

Zum ersten Mal erfuhren die Neuseeländer von der kaltblütigen Realität der Folgen des Hasses, der an diesem Tag das Herz der muslimischen Gemeinschaft zerriss. Der Richter beschrieb, wie sich Tarrant einen Weg durch den Flur der Moschee zum Hauptgebetsraum bahnte. Dort ermordete er Ata Mohammad Ata Elayyan und Ali Elmadani.

Auf der Rückseite des Gebäudes befanden sich über 120 Gläubige. Tarrant schoss auf die am Boden liegenden Gläubigen und wandte sich dann zwei großen Gruppen zu, die sich zu beiden Seiten des Gebetsbereichs versammelt hatten. Auch sie konnten nicht entkommen.

Er tötet einen Vater vor den Augen seines Kindes

Er feuerte eine halbautomatische Schusswaffe in eine Masse von Menschen. Ein dreijähriges Kind, Mucaad Ibrahim, klammerte sich verängstigt an das Bein seines Vaters, als Tarrant diesen mit zwei gezielten Schüssen tötete.

Bei der Urteilsverkündigung erschien Tarrant in dieser Woche als hohle Hülle eines menschlichen Wesens. Unmittelbar nach seiner Verhaftung hatte er sich noch arrogant und erbarmungslos gezeigt und sich bei der Polizei beklagt, er sei enttäuscht, dass er nicht noch mehr Menschen getötet habe. Was ist das für ein Mensch? 

Er war ein Einzelgänger

Brenton Tarrant wurde 1990 geboren. Er wuchs im ländlichen Australien auf, in einer Stadt namens Grafton, etwa 500 Kilometer nördlich von Sydney. Er war das jüngste von drei Geschwistern. Seine Eltern trennten sich, als er noch zur Schule ging. Er trieb Sport (Rugby League), war jedoch übergewichtig und wurde schikaniert. Sein Vater arbeitete als Müllmann. Seine Familie wurde respektiert.

Als er 20 Jahre alt war, starb Tarrants Vater an Krebs. Er war untröstlich. Er erbte den Nachlass seines Vaters und reiste dann durch Europa und Pakistan. Während dieser Zeit wurde er von weißen extremistischen Gruppen radikalisiert. Im August 2017 wanderte Tarrant nach Neuseeland aus, anscheinend mit der einzigen Absicht, einen Massenmord zu begehen. Er trat einem Schützenverein bei, erwarb einen Waffenschein und trat einem Fitnessstudio bei. Er war ein Einzelgänger. Er versuchte nie, in Neuseeland zu arbeiten. 

Trost von der Regierungschefin 

Als liberales sozialdemokratisches Land hatte Neuseeland Ende der 1950er Jahre die Todesstrafe für Mörder aufgehoben. Am Ende verurteilte Richter Cameron Mander Brenton Harrison Tarrant zu lebenslanger Haft ohne die Möglichkeit einer Bewährung. Was bedeutet, dass er im Gefängnis sterben wird. 

Sie hoffe, dass sein Name nie wieder erwähnt werde, sagte Neuseelands Regierungschefin Jacinda Ardern – auch mit Blick auf Stephan Balliet im fernen Deutschland und andere rechtsextreme Attentäter, die ihre Anschläge wie Tarrant live gestreamt hatten und die sich in ihren Manifesten auf ihn beriefen. 

In Neuseeland könnte sie Recht behalten. 

Übersetzung: Antje Hildebrandt 

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