Chinesische Marine - Die Seemacht des 21. Jahrhunderts

Beinahe unbemerkt von der Öffentlichkeit besitzt China inzwischen die größten Seestreitkräfte der Welt. Damit verdrängt es sogar die US Navy auf den zweiten Platz. Und Pekings Pläne gehen noch viel weiter. Es ist eine epochale Verschiebung in der globalen Machtarchitektur.

Feierliche Inbetriebnahme des chinesischen Flugzeugträgers Shandong im Dezember 2019 / Xinhua
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Thomas Speckmann ist Historiker und Lehrbeauftragter am Historischen Institut der Universität Potsdam.

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Es ist vorbei. Gelaufen. Taiwan ist nicht mehr zu verteidigen. Zumindest nicht militärisch. China ist zu stark. Nun auch für die Vereinigten Staaten. So könnte man das Fazit des Pentagons zusammenfassen. Bereits 18-mal hat das amerikanische Verteidigungsministerium die Abwehr einer chinesischen Invasion Taiwans durchgespielt. 18-mal endete die Simulation mit einer Niederlage der Amerikaner.

Wie konnte es dazu kommen? Soll die mächtige US Navy mit ihren großen Flugzeugträger-Kampfverbänden etwa nicht mehr in der Lage sein, die Taiwan-Straße zu kontrollieren? Diese nur 180 Kilometer breite Meerenge zwischen dem chinesischen Festland und dem kleinen taiwanischen Inselstaat? Sind die USA nicht die potenteste Militärmacht der Welt? Zumindest Letzteres trifft zwar weiterhin zu – aber nur noch global und nicht mehr regional. Russland hat dies bereits durch seine Kriege in Georgien, in der Ukraine und in Syrien demonstriert. China könnte versucht sein, es anhand von Taiwan vorzuführen.

Die stärkste Marine der Welt

Die Bedingungen dafür hat Peking sukzessive geschaffen. Systematisch wurde Asiens schlagkräftigste Militärmaschinerie aufgebaut. Sie wächst jedes Jahr um die Dimension der gesamten britischen Streitkräfte. Ihr Etat hat sich seit 1999 verzwölffacht. Inzwischen übertrifft er Japans Verteidigungshaushalt um das Sechsfache und Indiens Budget um das Vierfache. Und China verfügt über die Ressourcen, nicht nur wirtschaftlich stärker als die USA zu werden, sondern auch militärisch – nicht zuletzt durch das Potenzial, in Zukunft höhere Ausgaben finanzieren zu können als die bislang führende Militärmacht der Welt.

Für diesen Status spielen Marine und Luftwaffe zur Projektion von Macht weit über das eigene Territorium hinaus eine Schlüsselrolle. Beinahe unbemerkt von der westlichen Öffentlichkeit besitzt China inzwischen die umfassendsten Seestreitkräfte der Welt – gemessen an der Anzahl der Schiffe. Auch dies hat das Pentagon nun offiziell festgestellt. Damit verdrängt erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg eine Marine die US Navy auf den zweiten Platz. Unter chinesischer Flagge versammelt sich heute eine Flotte von 360 Kriegsschiffen. Ihr Kern besteht aus 130 modernen Zerstörern, Fregatten und Korvetten. Sie werden ergänzt von 62 U-Booten, davon ein Fünftel mit atomarem Antrieb, wovon vier wiederum mit Nuklearwaffen ausgerüstet sind.

Neben diesen ersten U-Booten mit Interkontinentalraketen, die China die atomare Zweitschlagfähigkeit verleihen, haben in den vergangenen Jahren vor allem die ersten Flugzeugträger der Volksrepublik für Aufsehen gesorgt. Der erste wurde in der Ukraine erworben und in China fertiggestellt. Der zweite ist eine Kopie des ersten und basiert ebenfalls auf einer russischen Konstruktion. Ein dritter befindet sich im Bau, orientiert sich aber an amerikanischen Trägern. Von diesem Typ sollen drei weitere folgen.

China und Russland

Damit würde Pekings Flugzeugträger-Flotte auf sechs Einheiten wachsen. Auffallend ist hier die Parallele zu russischen Vorhaben. Auch Moskau arbeitet intensiv an seinen militärischen Fähigkeiten zur Machtprojektion über große Entfernungen. Schon bis zum Jahr 2026 soll die zweitgrößte Flugzeugträger-­Armada der Welt mit sechs Trägerkampfgruppen entstehen. Als zwei Mächte, die erst gerade wieder im März ihre strategische Verbundenheit und ihre gemeinsame Front gegen den Westen beim Treffen ihrer Außenminister demonstriert haben, würden China und Russland dann in Zukunft gemeinsam über zwölf Flugzeugträger verfügen – und auch in dieser Schiffsklasse die US Navy mit elf Einheiten auf den zweiten Platz verweisen.

Doch lassen sich derlei Vergleiche überhaupt anstellen? Kommt es nicht weiterhin vor allem auf die Qualität der Ausrüstung und der Ausbildung der Besatzungen von Kriegsschiffen an? Dies trifft sicherlich auch auf das 21. Jahrhundert zu. Den Westen beruhigen könnten hier Analysen, nach denen die US Navy weiterhin führend ist bei Schiffstonnage, Schiffsgrößen und Feuerkraft. Als immer noch doppelt so stark wie Chinas Marine bezeichnet sie etwa das amerikanische Center for International Maritime Security.

Angst vor neuer Technik

Daher beunruhigen in Washington derzeit weniger die maritimen Bauvorhaben konkurrierender Mächte wie China und Russland, zumal dort in den vergangenen Jahren immer wieder Zeitpläne und auch Vorhaben an sich korrigiert werden mussten. Alarmiert ist man in den USA vielmehr aufgrund der zunehmenden Verwundbarkeit der eigenen Flotte. Gerade den Flugzeugträgern als Rückgrat amerikanischer Machtentfaltung in Übersee könnte ein ähnliches Schicksal drohen wie ihren Vorgängern, den Schlachtschiffen: Sie wurden im Zweiten Weltkrieg reihenweise versenkt – und zwar nicht von ihresgleichen, sondern von Flugzeugen mit Bomben und Torpedos. Alle großen Seemächte machten diese Erfahrung – ob auf Seite der Alliierten oder der Achsenmächte. Nach dem Krieg ersetzte dann endgültig der Flugzeugträger das Schlachtschiff als größten Kriegsschiffstyp.

War es die Angriffsmöglichkeit über weite Entfernungen, die den Flugzeugträger dem Schlachtschiff überlegen machte, so ist es heute der Flugzeugträger, der nun selbst durch eine Angriffsmöglichkeit über weite Entfernungen gefährdet ist: die Rakete. China hat weitreichende Lenkwaffen entwickelt, die sich zur Bekämpfung beweglicher Ziele und damit auch zur Zerstörung von Flugzeugträgern eignen sollen – aus einer Distanz von 1.500 bis 3.000 Kilometern. Damit werden die US-Träger im Pazifik von Jägern zu Gejagten.

Künstliche Intelligenz

Ein ähnliches Schicksal droht einem weiteren Pfeiler amerikanischer Seemacht wie Abschreckung. Bislang galten die strategischen Atom-U-Boote mit ihren Interkontinentalraketen zur nuklearen Zweitschlagfähigkeit als vom Gegner schwer zu orten, wenn nicht unauffindbar in den Weiten und Tiefen der Ozeane. Doch eben an dieser angenommenen Unverwundbarkeit wird zunehmend gezweifelt. Technologische Fortschritte nicht zuletzt im Bereich der künstlichen Intelligenz (KI) könnten gegnerische Fähigkeiten erhöhen, die amerikanische Unterseeflotte aufzuspüren und zu zerstören. Von einer sich anbahnenden Revolution in der U-Boot-Abwehr ist bereits die Rede. 

Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg sehen sich die Vereinigten Staaten in ihrer technologischen Überlegenheit bedroht – eingeholt in Entwicklung und Einsatz von KI durch China. Nach dem jüngsten Bericht der National Security Commission on Artifical Intelligence besitzt die Volksrepublik nicht nur die Ambition, sondern auch die Macht und das Talent, die USA innerhalb eines Jahrzehnts als führende KI-Nation hinter sich zu lassen.

Atomare Abschreckung hat ausgedient

Glaubte man im Westen über Jahrzehnte, die nukleare Abschreckung erlaube keine klassischen Kriege von Großmacht gegen Großmacht mehr, sondern allenfalls Stellvertreterkriege, wie sie den Kalten Krieg prägten, so hat hier in China ein neues Denken und in Russland auch bereits ein neues Handeln begonnen. Die nukleare Abschreckung dient Peking und Moskau zwar weiterhin in ihrer ursprünglichen Ausrichtung zur Verhinderung eines Angriffs auf das eigene Territorium und eines globalen Krieges. Aber zugleich wird der atomare Schutzschirm genutzt, um unter ihm regionale Kriege konventioneller Art zu führen, ohne dabei die Vernichtung des eigenen Landes riskieren zu müssen. In der Ukraine und in Syrien haben Russland dieses Denken und Handeln bereits militärische Erfolge gebracht. Moskau hat dazu gezielt in moderne, mobile Streitkräfte investiert, die in kurzer Zeit regional militärische Überlegenheit erringen können. In Asien wirkt Chinas Aufrüstung ähnlich ausgerichtet.

Peking investiert nicht nur massiv in den Ausbau seiner nuklearen Abschreckung – das Arsenal von allmählich gut 300 atomaren Sprengköpfen soll weiter kontinuierlich wachsen, flexibel einsetzbar durch neue, mobile Interkontinentalraketen mit Mehrfachsprengköpfen. Auch nichtnuklear will man Washington auf Distanz halten. Dazu dient ein umfassendes Raketenbauprogramm – von weitreichenden ballistischen bis hin zu sehr zielgenauen Raketen und Marschflugkörpern. Auch Hyperschallwaffen, gegen die es bislang keine Abwehr geben soll, zählen zu diesem Abschreckungspotenzial. Von Zielübungen bis hin zum US-Stützpunkt auf Guam im Westpazifik wird berichtet. Ende Januar sollen chinesische Kampfflugzeuge einen Angriff mit Antischiffsraketen auf einen amerikanischen Flugzeugträger vor Taiwan simuliert haben. 

In Washington sieht man sich gezwungen, über eine neue, dezentrale Aufstellung der eigenen Kräfte in kleineren und noch mobileren Einheiten nachzudenken – möglichst außerhalb der Reichweite chinesischer Raketen.

Expansive Außenpolitik

Für Peking wiederum bilden diese Raketen einen Schutzschirm, unter dem es eine Flotte versammelt, die zu amphibischen Angriffsoperationen in der Lage ist – bislang eine Domäne der US Navy. Ihr ähnlich werden große Hubschrauberträger in Dienst gestellt – sie gelten als Kopien der amerikanischen Originale. Hinzu kommen moderne Docklandungsschiffe. Diese Angriffseinheiten sollen das Marinekorps der Volksrepublik transportieren. Die amerikanischen Marines erhalten ein chinesisches Pendant. Damit könnte China nicht nur seine Kette von Basen im Südchinesischen Meer absichern, sondern auch endgültig offensiv gegen Taiwan vorgehen – chinesische Drohungen, Manöver und das Eindringen in Gewässer und Luftraum des bis heute von Peking als „abtrünnige Provinz“ bezeichneten Inselstaats haben ohnehin schon massiv zugenommen.

Zu einem weiteren maritimen Macht­instrument hat China inzwischen seine Fischereiflotte gemacht. Nicht nur wird ihr immer wieder vorgeworfen, in Gewässern anderer Staaten zu fischen. Auch zur direkten Konfrontation mit Anrainern des Südchinesischen Meeres ist sie im Einsatz. Von „Pekings kleinen blauen Männchen“ wird allmählich gesprochen – von paramilitärischen Schiffen, die als Fischerboote getarnt seien. Anfang März drang eine Armada von 220 solcher Trawler in die Lagune des Whitsun-Riffes ein, eine exklusive Wirtschaftszone der Philippinen.

Immer wieder Konfrontationen

In Manila kehrte das Trauma des Verlusts des Scarborough-Riffes an China 2012 zurück – auch damals hatte Peking gewaltsam Fakten geschaffen, wie schon zuvor 1995 auf dem Mischief-Riff, heute eine Basis von Chinas Luftwaffe und Marine. Für derlei Operationen, die an Russlands Besetzung der Krim durch „kleine grüne Männchen“ erinnern, ist die chinesische Seemiliz bekannt, eine Teilstreitkraft des Militärs.

Auch Chinas Küstenwache – die größte der Welt – wird offensiv eingesetzt. Ihre Schiffe fuhren beinahe jeden Tag im vergangenen Jahr – so oft wie noch nie zuvor – zu den unbewohnten und von Peking beanspruchten Senkaku-­Inseln im Ostchinesischen Meer, die Fisch­gründe und Bodenschätze bergen und von Japan als Teil seines Territoriums verwaltet werden. Immer wieder kommt es hier zu Konfrontationen zwischen chinesischen Schiffen und japanischen Fischerbooten – beide Seiten haben ihren Küstenwachen seit Februar den Einsatz von Waffengewalt erlaubt. Wie im Fall Taiwan stehen die USA auch hier bereit, ihrem Verbündeten militärisch beizustehen. Japan soll sich auf die amerikanische Verteidigung der Senkaku-Inseln weiterhin verlassen können – dieses Versprechen hat Washington als „unerschütterliche Verpflichtung“ Mitte März abermals erneuert. Wie ernst man dort die chinesische Herausforderung und entsprechend die Sicherheitskooperation mit Tokio nimmt, demonstrierte die Administration von Joe Biden mit der Wahl Japans als Ziel der ersten Auslandsreise der neuen amerikanischen Außen- und Verteidigungsminister.

Verschiebungen auf den Weltmeeren

Welch epochale Verschiebungen in der maritimen und damit globalen Machtarchitektur nicht erst in der Gegenwart vom pazifischen Raum ausgehen, war hingegen in weiten Teilen Europas in Vergessenheit geraten. Umso mehr schreckt man nun in den europäischen Hauptstädten auf. Dabei wird die Bedeutung der gegenwärtigen Entwicklung erst mit Blick auf die vergangenen Jahrhunderte vollends klar. Bis zum Zweiten Weltkrieg hatte gegolten: „Britannia rules the seas.“ Die Royal Navy hatte die Weltmeere für gut ein Jahrhundert nach Nelsons Sieg über Napoleons Armada dominiert. Auch in den Jahrhunderten vor der Zäsur von Trafalgar 1805 waren es die Europäer gewesen, die das maritime Weltgeschehen durch ihre koloniale Expansion geprägt hatten – ob Portugiesen, Spanier, Niederländer, Franzosen oder Engländer.

Doch dann begann spätestens in den Zwanziger- (und nicht erst in den 2020er) Jahren das asiatische Jahrhundert auf See: Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg war die amerikanische Marine erheblich stärker im Pazifik als im Atlantik aufgestellt. Von 15 Schlachtschiffen wurden zwölf der Pazifikflotte zugeteilt, von sechs Flugzeugträgern vier. Zugleich waren es die neuesten und kampfkräftigsten Einheiten. Sie wurden gezielt dem damaligen potenziellen Kriegsgegner entgegengestellt: Japan mit der drittgrößten Flotte der Welt. Tokio war es schließlich auch, das mit den damals modernsten Flugzeugträgern, Schlachtschiffen, Kreuzern und Zerstörern die Kräfteverhältnisse im pazifischen Raum zu seinen Gunsten verschob – zunächst in einem maritimen Wettrüsten mit den USA, dann in einem maritimen Eroberungsfeldzug gegen die USA.

Washington – militärisch geschwächt durch den japanischen Überfall auf ­Pearl Harbor und die Niederlage gegen die Japaner auf den Philippinen – sah sich gezwungen, die bis dahin schlagkräftigste Flotte der Welt zur Niederringung des japanischen Militarismus aufzubauen; 1945 bestehend aus mehr als 6.700 Schiffen, darunter 99 Flugzeugträger, 23 Schlachtschiffe, 72 Kreuzer, 377 Zerstörer, 232 U-Boote und Tausende von Landungsschiffen, überwiegend für amphibische Operationen im Pazifik. Ein maritimer „Pivot to Asia“ durch Franklin D. Roosevelt lange vor Barack Obama.

Amerika rüstet auf

Zwar blieben die USA auch nach Japans Kapitulation im pazifischen Raum engagiert – und führten in Korea und Vietnam ihre bis heute verlustreichsten Kriege nach 1945. Aber ihre Flotte schrumpfte dennoch stark. Nur fünf Jahre nach dem alliierten Sieg über die Achsenmächte stand weniger als ein Zehntel der amerikanischen Weltkriegsschiffe noch in Dienst. Alleine 80 Flugzeugträger und 150 U-Boote waren ausgemustert. Und selbst zum Höhepunkt des Wettrüstens im Kalten Krieg sollte noch nicht einmal mehr dieses Niveau wieder erreicht werden – 568 Schiffe im Jahr 1987 bildeten das Maximum.

Zu heute hat sich diese Zahl wiederum halbiert. Die Kampfkraft der US Navy des Jahres 2021 ist zwar ungleich höher. Aber auch das modernste Kriegsschiff kann nur an einem Ort präsent sein. Daher hatte Donald Trump 2016 angekündigt, die Flotte von 270 auf 355 Schiffe auszubauen. Bis Ende 2020 war sie allerdings nur auf 293 Einheiten gewachsen.

Der Westen wurde bereits überrascht

Der Westen sollte die Entschiedenheit, mit der China auch im Militärischen zu einer Supermacht aufsteigen will, nicht unterschätzen. „Weltklasseniveau“ ist das von Peking offiziell erklärte Ziel. Bislang gelingt insbesondere der Aufbau einer global einsetzbaren Marine rascher, als noch vor wenigen Jahren von westlichen Experten vorhergesagt. Und es wäre im Ernstfall nicht das erste Mal in der Geschichte Asiens, dass Europäer wie Amerikaner unangenehm überrascht würden von der militärischen Wirklichkeit. 

Es waren internationale Sensationen, als 1905 die modern ausgerüsteten, gut ausgebildeten und effizient geführten Seestreitkräfte Japans die bis dahin für überlegen gehaltene Flotte der europäischen Großmacht Russland bei der japanischen Insel Tsushima in der Koreastraße vernichteten, indem sie am 7. Dezember 1941 überraschend die amerikanische Pazifikflotte mitten in ihren Stützpunkt Pearl Harbor dezimierten und nur drei Tage später das modernste Schlachtschiff der Royal Navy im Südchinesischen Meer versenkten – ein britisches Desaster bei der erfolglosen Verteidigung Singapurs gegen die japanische Invasion. In allen Fällen hatte man derartiges im Westen nicht für möglich gehalten.

Kontrolle des Welthandels

Heute geht es in Asien nicht nur um Gebietsansprüche und Interessensphären einer werdenden Supermacht China. Dort verlaufen auch Handelsrouten, deren freier Zugang elementare Voraussetzung für die globalisierte Weltwirtschaft ist. Was es bedeutet, wenn solche Lebensadern des internationalen Handels selbst nur für wenige Tage zerschnitten sind, hat die Blockierung des Suezkanals durch das havarierte Containerschiff EverGiven sehr eindrücklich vor Augen geführt.

Umso mehr geht es in Asien nun um die Sicherheit der Seewege. Alleine durch das Südchinesische Meer verläuft ein Drittel des maritimen Welthandels über jährlich mehr als 60.000 Schiffspassagen mit einem Warenwert von über fünf Billionen Dollar – eine der strategisch bedeutendsten Wasserstraßen der globalisierten Welt. China sieht sich hier einem immer heftigeren Kampf um die Rechte des Seeverkehrs ausgesetzt. Dies betonte Xi Jinping bereits 2018 bei seiner Rede zur Neuausrichtung der maritimen Streitkräfte auf dem Deck eines chinesischen Flugzeugträgers. Für ihn ist der Aufbau einer „Weltklasseseemacht“ bis zum Jahr 2035 ein wichtiger Garant für den Wohlstand und die wirtschaftliche Entwicklung seines Landes. Die Folge ist ein Paradigmenwechsel in der maritimen Strategie: von der Verteidigung der nahen Gewässer hin zum Schutz der fernen Gewässer – festgeschrieben 2019 in einem Weißbuch, das Chinas maritimen Interessen den gleichen Stellenwert beimisst wie der territorialen Integrität der Volksrepublik.

In der Konsequenz hat die Präsenz chinesischer Kriegsschiffe im Indischen Ozean stark zugenommen. Dieser Seeweg wird schon heute für den internationalen Handel stärker genutzt als der Atlantik. Die Marine der Volksrepublik soll die Routen chinesischer Öltanker und Containerschiffe sichern – nicht zuletzt die Lieferungen iranischen Öls. Peking ist als letzter verbliebener Importeur zu einer zentralen Stütze des Regimes in Teheran geworden. Zusammen mit Russland hielten China und Iran 2019 ein Manöver ihrer Seestreitkräfte im Golf von Oman ab. Anlaufen können chinesische Kriegsschiffe inzwischen Überseestützpunkte in Dschibuti am Horn von Afrika und in Gwadar in Pakistan. Sie sollen möglichst bald ergänzt werden von Hafenanlagen in Sri Lanka und in Myanmar.

Der Westen entdeckt den Pazifik

Die Reaktion der USA ist eine noch engere sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit Indien, Japan und Australien. Ihr Quadrilateral Security Dialogue wird bereits „Asiatische Nato“ genannt. Schon seit 1992 veranstalten Washington und Neu-Delhi gemeinsame Seemanöver im Indischen Ozean, seit 2015 verstärkt von der japanischen Marine, seit 2020 auch von der australischen. Im Südchinesischen Meer, das Peking zu etwa vier Fünftel für sich beansprucht, zeigt die US Navy regelmäßig Flagge mit ihren Freedom of Navigation Operations. Japanische, australische, kanadische und britische Kriegsschiffe kreuzen ebenfalls in Gebieten, auf die China Anspruch deklariert. 

Auch die Kontinentaleuropäer entdecken wieder verstärkt den Pazifik, den Indischen Ozean und demonstrativ das Südchinesische Meer: seit Herbst mit einem französischen Atom-U-Boot, gefolgt im Frühsommer von den Niederländern als Begleitung der Queen Elizabeth, des größten jemals in Großbritannien gebauten Flugzeugträgers, und im Sommer dann mit einer deutschen Fregatte – für Berlin die erste militärische Mission in der Region seit fast zwei Jahrzehnten.

Unaufhaltsames Wettrüsten?

Noch forcierter als ohnehin schon wird auch das maritime Wettrüsten der vergangenen Jahre nicht nur in Asien fortgesetzt. Es sind nun nicht mehr allein die Seestreitkräfte von Indien, Südkorea, Japan und Australien, die angesichts der chinesischen Herausforderung nachrüsten, um ihre Schlagkraft zu erhöhen: Canberra mit neuen U-Booten aus französischer Produktion und Patrouillenbooten aus Deutschland, Seoul und Neu-Delhi mit Flugzeugträger-Projekten, Tokio mit dem Umbau eines Zerstörers mit Hubschraubern zu einem Träger mit Kampfflugzeugen – dem ersten seit dem Zweiten Weltkrieg. Auch die alten Seemächte Europas ziehen nach. Frankreich hat den Bau des größten Flugzeugträgers seiner Geschichte angekündigt – 70.000 Tonnen mit Nuklearantrieb, Plattform für das neue europäische Kampfjetprojekt „Future Combat Air System“. Großbritannien macht Schlagzeilen mit der höchsten Aufstockung seines Verteidigungshaushalts seit drei Jahrzehnten. Zusätzliche 26 Milliarden Euro sollen in „Spitzenkapazitäten“ investiert werden, vor allem in die Marine.

Wird all dies zu einer neuen Rüstungsspirale führen? Lässt sie sich noch stoppen? Bereits vor einem Jahrhundert gab es ein ähnliches Szenario. Auch damals rüsteten die großen Seemächte um die Wette. Viele der damaligen Protagonisten sind heute erneut beteiligt – die USA, Japan, Frankreich, Großbritannien, Deutschland. Vorbild für Verhandlungen mit China könnten daher die Konferenzen, Abkommen und Verträge der 20er- und 30er-Jahre zur Begrenzung der Flottenstärken sein. Mit ihnen gelang zumindest eine Drosselung und Verlangsamung des maritimen Wettrüstens vor dem Zweiten Weltkrieg.

Ob auch dieses Mal dann dennoch ein Krieg folgen würde? Hoffnung, dass es anders kommen könnte, macht die überraschende Einigung zwischen China, Russland und den USA auf ein Übereinkommen im Cyberraum. Nach sechs Jahren Verhandlungsstillstand haben nun doch alle UN-Mitgliedstaaten Mitte März den Empfehlungen für mehr Cybersicherheit einer Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen zugestimmt. Angesichts der zunehmenden Konflikte zwischen Peking, Moskau und Washington, auch auf dem digitalen Feld, wird die Einigung als Durchbruch gesehen. Warum derlei Verhandlungen nicht ebenfalls im Bereich maritimer Rüstung und Sicherheit beginnen? Noch kann der Westen sich hier auf Augenhöhe mit China bewegen. Noch hat sich die globale Machttektonik nicht vollends verschoben. Noch.

 

Dieser Text stammt aus der Juni-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

 

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