Charlie Hebdo - Neuer Anschlag: Frankreich und das Recht auf Blasphemie

Kurz nach Auftakt des Prozesses gegen die Attentäter auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo geht ein islamistischer Attentäter mit einer Machete auf Passanten los und verletzt sie schwer. Frankreich ist erneut erschüttert. Die Gefahr weiterer Attentate besteht.

Solidaritätskundgebung nach dem Attentat auf die Mitarbeiter von Charlie Hebdo im Januar 2015 / dpa
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Kay Walter arbeitet als freier Journalist in Frankreich

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Am Mittwoch, dem 2. September begann der Prozess gegen 14 mutmaßliche Helfer und Komplizen des Attentats auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo sowie auf einen koscheren Supermarkt im Januar 2015. Fünfeinhalb lange Jahre hat es gedauert, bis endlich die juristische Aufarbeitung dieser Anschläge starten konnte. Und nur wenige Tage nach Prozessbeginn erinnert ein islamistisches Attentat daran, dass die Gefahr immer noch akut ist. 

Erwartet wird ein Mammutprozess: 13 Männer und eine Frau sind angeklagt. Ihnen drohen als Mitwisser oder Mittäter lange Haftstrafen. Nur elf sitzen aber tatsächlich auf der Anklagebank, zwei Männer und die Frau sind flüchtig, eventuell auch bereits tot. 

200 Nebenkläger, 140 Zeugen und Experten

Es gibt fast 200 registrierte Nebenkläger, darunter Überlebende und Angehörige der 17 Anschlagsopfer. 140 Zeugen und Experten sollen gehört werden. Der Prozess wird also dauern. Belastend ist das vor allem für Opfer und Hinterbliebene. Ebenso wie die teils hitzige Debatte, die bereits im Vorfeld des Prozesses entbrannt ist.

Es geht um Grundsätzliches: Ist Frankreich seit dem Terrorjahr 2015 ein besserer oder ein schlechterer Ort geworden? Wer obsiegt: Die Hassprediger und ihre willfährigen Handlanger, die Worte in Taten umsetzen oder doch die bürgerlichen Tugenden der Gesellschaft? Beweisen die demokratischen Grundrechte ihre Stärke oder werden sie, im Gegenteil, im Namen ihrer Verteidigung über Gebühr eingeschränkt?

Macron verteidigt das Recht auf Blasphemie

„Wir dürfen keine Angst haben, weder vor dem Terrorismus, noch vor der Freiheit“, sagte Richard Malka, der Anwalt von Charlie Hebdo zum Prozessauftakt. Und die Zeitung veröffentlichte als Fanal erneut eben die Mohammed-Karikaturen, die die Brüder Kouachi vor fünf Jahren als Anlass für ihre Mordtaten genommen hatten. Freiheit, das heißt keine Angst zu haben, vor nichts und niemandem, finden sie. Und selbst Präsident Emmanuel Macron springt ihnen öffentlich bei: Er habe die journalistische Entscheidung nicht zu kommentieren, sagt er. Aber das „Recht auf Blasphemie“ werde er verteidigen. Das sei ein Grundpfeiler der Verfassung.

Attentäter benutzte Machete

Und doch ist es wieder passiert. Am Freitagmittag attackiert ein junger Mann pakistanisch-paschtunischer Herkunft mit einer Machete zwei Journalisten der Filmproduktionsfirma Première Ligne (Erste Reihe) und verletzt sie schwer. Die beiden Opfer sind inzwischen außer Lebensgefahr, der Täter gefasst und geständig. Aber der Terroranschlag geschah exakt vor dem Haus, in dem damals Charlie Hebdo saß. Nun wird seit fünf Jahren permanent berichtet, dass die Redaktion der Satirezeitschrift wegen der unveränderten Bedrohungslage an einen anderen, ungenannten und unbekannten Ort verzogen ist. Aber trotzdem fühlt sich ein junger Mann berufen, seinen „Glauben“ zu verteidigen, indem er eben hier in dessen Namen wahllos andere Menschen umbringt. Denn das war sein Ziel.

Wer hat ihn derart indoktriniert? Wer hat Schuld an solcher Verblendung? Wer predigt den Hass, Mord im Namen der Religion sei berechtigt?

Molenbeek Frankreichs?

Sicher nicht der Dachverband der französischen Muslime CFCM. Der hat schon vor dem neuerlichen Anschlag in einem Aufruf jedwede Gewalt verurteilt. Aber offenbar gilt das nicht für sämtliche Prediger, schon gar nicht in Saint-Denis, dem Vorort, in dem der Täter aufgewachsen ist. Französische Medien fragen, ob die alte Königsstadt Saint-Denis zum Molenbeek Frankreichs geworden sei. Hier wurde ein Kind, das zum Zeitpunkt des ersten Terrorattentats 12 Jahre alt war, zu blindem Hass auf das Feindbild Charlie Hebdo erzogen – in pakistanisch-islamistischen Kreisen durchaus nicht unüblich. Ein Hass, so tödlich und so dämlich, nicht einmal zu wissen, dass man die imaginierten Feinde sicher nicht an ihrer ehemaligen Adresse in der Rue Nicolas Appert antreffen würde.

Terrorismusexperten rechnen mit weiteren Anschlägen in den kommenden Wochen - solange der Prozess läuft. Die Stimmung in den öffentlichen Diskussionen heizt sich ebenfalls weiter auf. Zwar fordert noch niemand dazu auf, die „Banlieues zu kärchern“, wie zu seinen Amtszeiten Ex-Präsident Nicolas Sarkozy, aber selbst dessen sozialistischer Nachfolger im Amt, Francois Hollande, befindet, Frankreich sei „mit den islamistischen Terroristen noch nicht fertig“, was immer das heißen soll.

Aufgeladene Stimmung 

Die abwegige Einlassung der Verteidiger, die Angeklagten im Beihilfeprozess seien unschuldig, sie hätten schließlich nicht wissen können, dass die besorgten Waffen für einen Terroranschlag gedacht gewesen seien, trägt nicht eben zur Beruhigung der Lage bei. Die Erregung in der Debatte führt dazu, alles in einen Topf zu werfen, Details und Unterschiede zu verwischen.

Der Anwalt Patrick Klugmann beklagt zu Recht, dass die von ihm vertretenen Opfer des Mörders Amedy Coulibaly, der in einem Supermarkt an der Porte de Vincennes kaltblütig vier Menschen erschoss, um so die Attentäter in der Redaktion des Magazins freizupressen, in der öffentlichen Wahrnehmung kaum präsent sind. Charlie Hebdo überstrahle alles. Aber Coulibaly hatte das koschere Geschäft mit voller Absicht ausgewählt: Er wollte Juden töten. Antisemitismus war mindestens sein zweites Motiv bei der versuchten Erpressung. 

Überhaupt wird der Prozess immens aufgeladen. Immer wieder heißt es, es werde ein historischer Prozess. Manche erwarten sogar, die Ideologie des radikalen Islamismus werde abgeurteilt. Das kann nicht gehen. Ein bürgerliches Gericht urteilt über konkrete Handlungen. Ideologie spielt nur insofern eine Rolle, wie sie Motive erklärt. Das ist für alle Opfer von Terroristen ein unfassbares Problem, weil ihr Leid nicht wirklich verhandelt werden kann. Kein Gericht vermag das zu tun. 

Die Gefahr bleibt

Etwas zu ändern ist eine politische Frage, keine juristische. Einstweilen bleibt die Gefahr. Gérard Biard, der wie alle seine Kollegen von Charlie Hebdo rund um die Uhr unter Polizeischutz steht, weil sie regelmäßig mit Morddrohungen konfrontiert sind, stellt fest: „Sobald man einen kritischen Kommentar auf sozialen Netzwerken veröffentlicht, nehmen die Leute das sofort persönlich. Sie beschimpfen und bedrohen uns. Aber Satire und Karikaturen sollen doch stören. Sie sollen zum Denken anregen.“ 

Man muss die Witze der Satiriker nicht mögen. Man darf ihre Ideen sogar grundfalsch finden. Keine politische Position, auch kein Glaube ist sakrosankt. Egal welcher. Niemand ist gezwungen, die Meinung eines anderen zu teilen. Aber laut sagen muss er sie können. Immer und jederzeit. 

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