Causa Szájer erschüttert den Fidesz - Großer Skandal mit bisher kleinen Auswirkungen

Vor einer Woche war József Szájer noch Abgeordneter des Fidesz im Europaparlament und Fidesz-Mitglied. Jetzt ist er es nur noch, bis seine erklärte Mandatsabgabe und sein Parteiaustritt wirksam werden. Dazwischen liegt eine aufgeflogene Teilnahme an einer Gay-Party in Brüssel.

József Szájer bei einer Abstimmung im EU-Parlament / dpa
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Jan Mainka ist Chefredakteur und Herausgeber der Budapester Zeitung.

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Das Pikante an der Sache ist, dass es sich bei József Szájer nicht um irgendeinen Hinterbänkler unter den Fidesz-Europaparlamentariern handelt, sondern um einen Vertrauten und langjährigen Weggefährten von Ministerpräsident Viktor Orbán. Zusammen mit einer sehr übersichtlichen Zahl an Mitstreitern hatten sie 1988 den Fidesz gegründet.

In den Jahren danach gehörte Szájer stets zum engsten Führungszirkel der Partei. Gleich bei den ersten freien Wahlen 1990 zog er für den Fidesz ins ungarische Parlament. Zwischen 1994 und 2002 war er Fidesz-Fraktionsvorsitzender, und von 2002 bis 2004 Vize-Präsident des Parlaments. 2004 „tauschte“ er sein Budapester gegen ein Brüsseler Mandat. Dort bekleidete er im Laufe der Jahre zahlreiche Führungspositionen sowohl innerhalb der Fidesz-Gruppe als auch der EVP. Als der Fidesz 2010 zum zweiten Mal die Regierungsverantwortung übernehmen konnte, noch dazu gestützt auf eine Zweidrittel-, also verfassungsändernde Mehrheit, wurde Szájer zusätzlich zu seinem Brüsseler Engagement Präsident der Verfassungsgebenden Kommission.

Szájer prägte die konservative Verfassung

In dieser Funktion wirkte er federführend an der Erarbeitung der neuen christlich, konservativ geprägten Verfassung Ungarns mit. Das aus dieser Zeit und tatsächlich von ihm stammende Zitat „Die neue Verfassung wird auf meinem iPad geschrieben“ kündete nicht nur von seinem großen Selbstbewusstsein, sondern auch von seiner tatsächlich wichtigen Rolle bei der Erarbeitung der im April 2011 verabschiedeten ungarischen Verfassung.

Seit 1983 ist Szájer mit Tünde Handó verheiratet, der ersten Vorsitzenden des Landesgerichtsbehörde (OBH) und seit Beginn dieses Jahres Verfassungsrichterin. Ihre gemeinsame Tochter Fanny kam 1987 zur Welt. Das diesjährige sogenannte Einflussbarometer sah ihn auf Platz 32 der einflussreichsten Ungarn. Seit diesem Dienstag weiß man nun auch, dass Frau und Tochter nur zu einer sorgsam gehüteten bürgerlichen Fassade gehörten und Ungarns Homosexuelle nun einen Neuzugang verzeichnen können.

Besuch bei Gay-Party beendete politische Karriere

Anstoß für sein unfreiwilliges Outing war am Freitag sein Besuch einer Gay-Party in Brüssel. Weil es dabei angeblich zu laut herging, hätten Nachbarn die Polizei gerufen, die über eine „versehentlich“ offen gelassene Tür den etwa 25 spärlich bekleideten Männer alsbald Gesellschaft leisteten. Auf diese schien Szájer jedoch keinen gesteigerten Wert zu legen und versuchte sich entlang der Fassade über eine Regenrinne zu verdrücken.

Wenig erfolgreich. Die Hüter der Gesetze und Corona-Regeln machten ihn dingfest. Da Szájer seine Immunität als Abgeordneter nicht glaubhaft beweisen konnte, begleiteten ihn die Polizisten sodann nach Hause, wo er sich schließlich korrekt auswies. Vielleicht hoffte er zu dem Zeitpunkt noch, mit 250 Euro Bußgeld davonzukommen. Sicherheitshalber teilte er jedoch am Sonntag mit, dass er mit Berufung auf vorgeschobene Gründe wie Ermüdung durch das politische Tagesgeschäft zum Jahresende sein Abgeordnetenmandat aufgeben werde. Dieser erste Schritt hatte möglicherweise auch damit etwas zu tun, dass die Polizei zu allem Überfluss bei ihm auch noch Drogen gefunden haben soll.

Die Hoffnung, dass die Sache mit seinem überstürzten Weggang aus Brüssel für ihn ausgestanden sei, zerstob jedoch bereits am Dienstag, als die Polizei süffisant mitteilte, dass sich unter den erwischten Partygästen auch ein ungarischer Abgeordneter befinden solle, der soeben sein Mandat abgegeben habe. Mehr Anhaltspunkte brauchte es nun wirklich nicht mehr, um Szájer vor der Öffentlichkeit zu überführen und den Stein ins Rollen zu bringen.

Szájer wurde zum Outing gedrängt

Seitdem überschlagen sich die Ereignisse. Szájer hatte schließlich am Dienstag seinen Fehltritt öffentlich zugegeben – verbunden mit einer umfangreichen Entschuldigung. Am Mittwoch gab er seinen Austritt aus dem Fidesz bekannt. Am selben Tag distanzierte sich Premier Viktor Orbán von seinem langjährigen Parteifreund. „Was József Szájer getan hat, ist nicht mit der Werteordnung unserer politischen Gemeinschaft vereinbar.“ Ansonsten muss die Regierungsseite den Schock wohl erst noch verdauen. Nur sehr spärlich, wenn überhaupt, äußert man sich zum Vorfall.

Anders natürlich die Opposition, die ihre Freunde über das verfrühte Weihnachtsgeschenk kaum fassen kann. Sie kostet die Sache jetzt genüsslich aus. Kaum in der Lage, mit eigenen Themen groß zu punkten, versucht sie jetzt einen maximalen politischen Nutzen aus der Vorlage zu schlagen. Die Hauptangriffslinie entfaltet sich dabei entlang des Vorwurfs der Scheinheiligkeit, also Wasser predigen und selber Wein trinken. Oder konkreter: Nach außen für christliche Werte und das klassische Familienmodell eintreten, und sich hinter dem Rücken der Wähler auf drogenangereicherten Sex-Partys rumtreiben.

Orbáns ärgster Widersacher in den Reihen der Opposition, der vormalige Ministerpräsident Gyurcsány thematisierte darüber hinaus auch die Nationale Sicherheit. „Mit seinem heimlichen Leben voller homosexueller Kontakte und Drogen wurde Szájer erpressbar. Jeder Geheimdienst hätte den Fidesz, hätte Viktor Orbán erpressen können“, befand er. Und weiter: „Orbán hat zugelassen, dass an der Frontlinie ein erpressbarer Mann steht. Das ist der tatsächliche Skandal.“

Warum wurde die Zeitbombe nicht entschärft?

Dass mit Szájer praktisch eine wandelnde Zeitbombe in Brüssel saß, ist auch für viele Angehörige des Regierungslagers unbegreiflich. Dass niemand in der Partei und bei den Sicherheitsdiensten von Szájers nicht zu bändigender Leidenschaft, seine verdeckte Homosexualität auf wilden Gay-Partys rauszulassen, gewusst hat, ist kaum vorstellbar. Warum dann aber trotzdem niemand rechtzeitig aktiv wurde, ist ebenso unbegreiflich.

Außer blankem Entsetzen über den erneuten Sex-Skandal eines hochrangigen Fidesz-Politikers – vor einem Jahr zeigten Videos, wie sich der damalige Oberbürgermeister der westungarischen Stadt Győr auf einer Jacht bei einer Sex-Party vergnügte – gibt es innerhalb des Regierungslagers aber auch kritische Fragen zum Ablauf des Geschehens. Warum explodierte die Bombe ausgerechnet im für Orbán schlechtesten Moment? Also mitten in der heißen Phase der Abwehr von EU-Begehrlichkeiten in Sachen Rechtsstaatlichkeit, Stichwort: Doppelveto.

Fraglich ist weiterhin, warum die Polizei recht bereitwillig ausgerechnet und auch nur die Identität von Szájer praktisch offenlegte. Wer sind die anderen etwa 25 Männer? Warum dringt über deren Identität nichts nach außen? In diesem Zusammenhang wird auch der Verdacht einer bewusst gestellten Honigfalle geäußert. Zweifel werden auch bezüglich der angeblich bei Szájer gefundenen Drogen geäußert.

Wie geht es weiter?

Um die innenpolitischen Auswirkungen der Causa Szájer abzuschätzen, ist es noch zu früh. Der Fidesz hat zunächst getan, was auf der Hand liegt, nämlich sich von Szájer und seinen Taten distanziert. Es handle sich um einen klar lokalisierten Einzelfall, aus dem unter keinen Umständen Rückschlüsse auf die Partei und ihre Mitglieder gezogen werden können. Ob eventuell bei Geheimdiensten oder Parteigremien Köpfe von Leuten rollen werden, die das Doppelleben von Szájer kannten, ihn aber nicht stoppten, bleibt noch abzuwarten.

Das Fidesz-Wählerlager wird von dem Skandal wahrscheinlich kaum in Mitleidenschaft gezogen. Auch mangels bürgerlicher Alternative folgen die Fidesz-Wähler ihrer Partei durch dick und dünn. Und wem jetzt doch Zweifel kommen sollten, der beruhigt sein Gewissen mit den immer zahlreicher aufkommenden Verschwörungstheorien. Gerade geht in diesen Kreisen ein YouTube-Video viral, in dem sogar das Kunststück fertiggebracht wird, Szájer als Helden darzustellen. Indem er selbst die Initiative ergriffen hat, konnte er einem gegen Ungarn gerichteten Erpressungsversuch von vornherein das Wasser abgraben.

Die meisten Ungarn haben andere Sorgen

Inwieweit die Opposition nach dem momentanen Freudentaumel die Causa Szájer in politisches Kapital ummünzen kann, ist noch nicht abzusehen, könnte aber sehr überschaubar ausfallen. Wer zum Oppositionslager gehört, hält die Fidesz-Leute ohnehin für eine Bande an gewissenlosen moralisch verkommenen Individuen – ob nun mit oder ohne Szájers Sex-Eskapade.

Während die Causa Szájer auf Regierungslager und Opposition also eher einen neutralen Effekt haben wird, ist höchstens interessant, wie sie sich auf das Lager der unentschlossenen Wähler auswirken wird. Dabei dürfen wir aber nicht vergessen: auch Ungarn befindet sich inmitten einer schweren Coronakrise und Weihnachten steht vor der Tür. Das Getöse in den linksliberalen Medien und immer mehr, teils recht originelle Memes dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die meisten Ungarn jetzt ganz andere Sorgen haben, also sich zum moralischen Richter über den Fidesz aufzuschwingen.

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