Bundeswehr in Afghanistan - „Gibt es eine durchdachte Strategie?“

Statt auf ein abermaliges militärisches Eingreifen in Afghanistan zu drängen, sollte Norbert Röttgen die Auslandseinsätze der Bundeswehr ganz allgemein in den Blick nehmen. Denn solche Forderungen können erst erhoben werden, wenn ein paar grundsätzliche Fragen beantwortet sind.

Ein Taliban-Kämpfer sitzt neben seinen Waffen / dpa
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Autoreninfo

Erich Vad war General der Bundeswehr, langjähriger militärpolitischer Berater der Bundeskanzlerin und ist jetzt Unternehmensberater und Dozent an mehreren Universitäten im In- und Ausland.

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Die Eroberung von Kundus im ehemaligen deutschen Verantwortungsbereich Afghanistans durch die Taliban ist eine bittere Lektion. Kundus ist für den beinahe 20 Jahre langen Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr ein symbolträchtiger Ort. Hier waren deutsche Soldaten im Kampfeinsatz – zum ersten Mal seit 1945. Hier fielen deutsche Fallschirmjäger im Gefecht. Hier wurde vom damaligen deutschen Kommandeur ein umstrittener Luftangriff auf zwei von den Taliban entführte Lastwagen befohlen. Hier war die deutsche Bundeskanzlerin mehrfach vor Ort, um Flagge zu zeigen und den Gefallenen die Ehre zu erweisen – ein für eine Regierungschefin hochriskantes Unternehmen.

In Kundus hat die Bundeswehr bewiesen, dass sie kämpfen kann, wenn sie es muss. Nicht nur für die dort eingesetzten deutschen Soldaten, auch für viele Afghanen ist die Eroberung von Kundus durch die Taliban ein erschütterndes Ereignis. Sie wirft die berechtigte Frage auf: War der 59 Tote und Gefallene fordernde Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan umsonst?

Gefahr des Anheizens eines Bürgerkriegs

Vor diesem Hintergrund ist das vom CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen geforderte Stoppen des weiteren Vordringens der Taliban mit militärischen Mitteln, eine Art „Rollback“, auf den ersten Blick verständlich. Gleichwohl gilt es zu bedenken, dass wir bei Realisierung seines Vorschlags schnurstracks an den Beginn und in die Ausgangslage des westlichen Afghanistan-Engagements im Jahre 2001 zurückmarschieren würden.

Wir liefen zusätzlich Gefahr – gerade vor dem Hintergrund des politischen Doha-Prozesses und der laufenden Friedensverhandlungen der afghanischen Regierung mit den Taliban –, unwillkürlich zur Kriegspartei in einem Bürgerkrieg zu werden und würden diesen geradezu anheizen. Und ohne eine substanzielle Beteiligung der USA, die Afghanistan allerdings vorschnell verlassen wollen, würde ohnehin nichts aus Röttgens Idee. Ohne die Vereinigten Staaten und ohne deren massive Unterstützung hätte keiner der unzähligen Truppensteller den 20-jährigen Einsatz in Afghanistan durchgehalten – am allerwenigstens die deutsche Bundeswehr.

Verbündete müssten die „Kohlen aus dem Feuer holen“

An Röttgens Vorschlag ist zudem problematisch, dass seine angedachte deutsche Beteiligung an einem Militäreinsatz eher wieder im Bereich der Logistik und Sanität gesehen wird. Die anderen – die Amerikaner und Briten – müssten sich um die harten „facts and figures“ eines sicherlich verlustreichen Kampfeinsatzes kümmern. Sie – und nicht die Deutschen – müssten die „Kohlen aus dem Feuer holen“.

Das war auch in den zurückliegenden Jahren in Afghanistan – abseits der Kämpfe um Kundus – eine praktizierte, inzwischen international bekannte und von unseren politischen Freunden in der Welt verachtete deutsche Regierungslinie, an die Röttgens Vorschlag erinnert.

Taliban sind erprobte Kämpfer

Norbert Röttgen denkt aber offensichtlich überwiegend an den Einsatz der Luftwaffe und von Drohnen. Diese reichen aber allein nicht aus, um den Vormarsch der Taliban zu stoppen. Wir – oder besser gesagt unsere alliierten Freunde – müssten früher oder später Bodenkampftruppen einsetzen, zudem in einem verlustreichen Orts- und Häuserkampf, um etwa den Raum Kundus freizukämpfen. Kaum einer der gerade vorschnell und bedingungslos unter Führung der USA abgezogenen Truppensteller würde das politisch wollen und militärisch durchhalten, am allerwenigsten Deutschland.

Die Taliban sind zudem erprobte Kämpfer, die leider in weiten Teilen der afghanischen Landbevölkerung regelrecht schwimmen wie die Fische im Wasser – um an einen Vergleich Mao Tse Tungs zu erinnern. Sie kennen ihr durch Tausende Schluchten und den Hindukusch zerklüftetes Land bestens. Ihr personeller und materieller Nachschub ist aus den Stammesgebieten im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet mit seinen idealen Rückzugsräumen nahezu perfekt gesichert.

Afghanische Sicherheitskräfte sind nicht verlässlich

Hinzu kommt: Die irregulären Kämpfer der Taliban kennen nicht die Regeln des modernen Kriegsvölkerrechts. Sie kämpfen bekanntlich regellos und sind daher schon in dieser Hinsicht, und abgesehen von ihrer langjährigen Kampferfahrung, jedem westlichen Soldaten haushoch überlegen. Zudem lieben sie den Kampf. Krieg ist – im Gegensatz zu den Soldaten aus dem Westen – gewissermaßen ihr „way of life“.

Die afghanischen Sicherheitskräfte sind, abgesehen von Teilen der sehr gut ausgebildeten Spezialkräfte der afghanischen Armee (die aber in der Hauptstadt und in den größeren Provinzstädten konzentriert sind) keine verlässliche Größe für eine westliche Militärintervention, wie sie Röttgen vorschwebt. Sie konnten und können das Vakuum, das die überstürzt abziehenden Koalitionsstreitkräfte hinterlassen, keinesfalls füllen.

An Kampfeinsatz war nie gedacht

Der ISAF-Einsatz (International Security Assistance Force) der Nato war auch immer – und das darf man nicht vergessen – ein Einsatz zur Unterstützung („Assistance“) Afghanistans im Sicherheitssektor. Es ging nie darum, das Land mit Truppen zur allgemeinen Befriedung zu besetzen oder die Taliban endgültig zu besiegen. Dazu hätte der Deutsche Bundestag niemals seine Zustimmung erteilt. An einen solchen Kampfeinsatz wurde nie gedacht.

In Kundus ist die Bundeswehr im relativ ruhigen und beschaulichen deutschen Einsatzraum in einen solchen aber regelrecht hineingeschlittert. Wir haben in Afghanistan – jedenfalls im Rahmen des ISAF-Mandats – keinen Krieg geführt und führen wollen! Dazu gab und gibt es kein politisches Mandat, und der Kräfteansatz der Koalitionsstreitkräfte war dazu auch gar nicht ausreichend und geeignet.

Es fehlte eine gemeinsame Strategie

Gleichwohl haben die USA parallel zu den von ISAF unterstützten afghanischen Sicherheitskräften Krieg geführt. Man denke an die US-geführte Operation „Enduring Freedom“ und an unzählige, unilaterale, manchmal mit den Verbündeten gar nicht abgestimmte Einsätze der US-Spezialkräfte, der CIA im Verbund mit privaten Sicherheitsfirmen sowie an Drohneneinsätze. Das lief zweitweise nicht gerade kohärent und miteinander abgestimmt ab – auch als Ergebnis wechselnder US-Strategien zur Aufstandsbekämpfung in Afghanistan.

Was komplett fehlte, war eine kohärente und vor allem realistische gemeinsame Strategie der Truppensteller. Es gab keinen inhaltlich und zeitlich definierten „end state“ der Auftragserfüllung in Afghanistan. Es fehlten klar definierte und realistische Ziele und ein abgestimmtes Zusammenwirken zwischen den Akteuren auf der militärischen wie auf der zivilen Seite. Trotz des deutschen Mantras „vernetzter Sicherheit“ fehlten eine Staatlichkeit und Wiederaufbau sowie eine die Sicherheitsbelange koordinierende zivile Führung.

Erfahrungen sollten gründlich ausgewertet werden

Die militärische Seite versuchte das stets zu kompensieren. Ich habe es selbst bei der Morgenlage des amerikanischen Oberbefehlshabers erlebt: Etwa 80 Prozent der im militärischen Hauptquartier besprochenen und durchzuführenden Aktionen und Maßnahmen betrafen zivile Aktivitäten von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen. Im Vergleich zu diesem umfangreichen und anspruchsvollen „Nation Building“, also dem Aufbau staatlicher, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Strukturen in einer teilweise von Stammesdenken geprägten Gesellschaft, war der militärische Auftrag von Sicherheit im Land und der Ertüchtigung der afghanischen Sicherheitskräfte ein vergleichsweise leichtes Unterfangen. Und im Gegensatz zum oft zu beobachtenden „zivilen“ Chaos lief die militärische Maschinerie in Afghanistan eher reibungslos, wenngleich diese in der Regel medial angeprangert wurde, wenn etwas schief lief.

Diese und andere Erfahrungen unseres beinahe 20-jährigen Einsatzes in Afghanistan sollten wir gründlich auswerten. Da hat die deutsche Verteidigungsministerin recht. Statt seiner Forderung eines militärischen Vorgehens gegen die weiter vordringenden Taliban in Afghanistan sollte Norbert Röttgen die parlamentarische Sommerpause dazu nutzen, die laufenden Auslandseinsätze der Bundeswehr einmal gründlicher in den Blick zu nehmen und dabei nach Antworten zu suchen auf folgende Fragen:

Welche Auslandseinsätze der Bundeswehr haben was und in welcher Zeit erreichen können? Welche Auslandseinsätze der Bundeswehr laufen mehr oder weniger nach dem Motto der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, nämlich „Dabei sein ist alles, aber bitte ohne Kampfeinsatz“? Gibt es eine durchdachte und realistische Strategie aller Akteure in den Einsatzgebieten der Bundeswehr? Haben wir unsere Interessen klar definiert? Sind die gesetzten politischen Ziele erreichbar? Und nicht zuletzt: Wann und unter welchen Bedingungen muss der Exit erfolgen und der Auslandseinsatz beendet werden?

Erst dann, wenn auf diese grundsätzlichen Fragen halbwegs befriedigende Antworten gegeben werden können, sollten deutsche Politiker solche Forderungen erheben, wie Röttgen es soeben getan hat.

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