Bürgerkrieg in Syrien - Viele Verbrechen und kein Recht

Die Gräueltaten in Syrien reißen nicht ab. Die internationale Gemeinschaft beschuldigt sich lieber gegenseitig, als die Verantwortlichen zu verfolgen. Doch eine kleine Gruppe privater Ermittler sammelt unter Einsatz ihres Lebens Beweise über Kriegsverbrechen

Luftangriff auf Aleppo: Die internationale Gemeinschaft schaut den Kriegsverbrechen tatenlos zu / picture alliance
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Autoreninfo

Mark Kersten ist promovierter wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Munk School of Global Affairs in Toronto und wissenschaftlicher Leiter der Wayamo Foundation. Er ist Autor des Blogs und des Buchs Justice in Conflict.

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Fünf Jahre nach Beginn des Krieges und zehn Tage nach einer erneut gescheiterten Waffenruhe ist die Lage in Syrien so grauenvoll wie bekannt: Hunderte tote Zivilisten, die Stadt Aleppo belagert, der Zugang zu Hilfsorganisationen versiechend und keine Aussicht darauf, dass die Verantwortlichen der unzähligen Gräueltaten zur Rechenschaft gezogen werden. Die USA und Russland sind viel zu sehr damit beschäftigt, sich gegenseitig der Kriegsverbrechen zu beschuldigen. Und der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) befasst sich nicht mit Syrien.

600.000 Dokumente gesammelt

Einzig eine Gruppe privater Kriegsverbrechen-Ermittler lässt sich von all dem nicht abschrecken. Die Kommission für Internationale Gerechtigkeit und Verantwortung (Commission for International Justice and Accountability, Cija) arbeitet daran, dass auch die schrecklichen Verbrechen in Syrien aufgeklärt werden. Die Cija ist eine Nichtregierungsorganisation, die aus ehemaligen Ermittlern großer internationaler Gerichtshöfe besteht. Sie wird von Staaten finanziert, hat aber kein Vollzugsmandat. Gegründet hat sie der Kanadier Bill Wiley, den die geopolitischen Restriktionen im Kampf für Gerechtigkeit immer stärker frustrierten.

Seit vier Jahren nun sammelt die Cija Beweise, schmuggelt sie aus Syrien hinaus und lagert sie an geheimen Orten. Es ist ein mühsamer, gefährlicher und meist undankbarer Job.  Aber die Ermittler wollen sicherstellen, dass wenn es zu Gerichtsverfahren kommt, diese nicht am Mangel an Beweisen scheitern. Bisher haben sie mehr als 600.000 Dokumente sichergestellt.

Wer ist Schuld an dem Versagen?

Es ist gar nicht so einfach, einen Schuldigen für das Versagen der Verbrechensbekämpfung in Syrien zu finden. Der Internationale Strafgerichtshof wurde 2002 erschaffen, um die weltweit die Straffreiheit zu beenden. Aber für syrisches Gebiet ist er nicht zuständig. Er könnte dort nur Menschen verfolgen, die etwa für den „Islamischen Staat“ oder Rebellentruppen kämpfen, aber Bürger derjenigen Saaten sind, die dem IStGH angehören, etwa Großbritannien, Jordanien, Tunesien und Georgien. Aber diese Kämpfer stehen nach Ansicht des Gerichtshofs hierarchisch zu weit unten in den Truppen beider Seiten, als dass sich eine Strafverfolgung lohnen würde.

Auch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat bisher keine Form eines Verantwortungs-Mechanismus zustande gebracht, um sich mit dem Gemetzel in Syrien zu befassen. Die USA haben trotz ihres derzeitigen Draufgängertums anfangs kein Interesse daran gezeigt, Syrien an den IStGH zu verweisen. Hillary Clinton, damals Außenministerin, sagte, dass eine Verfolgung von Baschar al-Assad und seinesgleichen „nicht hilfreich“ auf dem Weg zum Frieden sei. Nachdem die USA ihre Position änderten und eine Resolution für eine Intervention des IStGH in Syrien unterstützten, folgte ein seltenes Doppelveto im Sicherheitsrat von Russland und China.

Vor diesem Hintergrund wurde viel über die Gründung eines alternativen Gerichtshofes nachgedacht. Eine Art Ad-hoc- oder Hybrid-Tribunal, dass vor Ort Kriegsverbrechen ermittelt und verfolgt. Bisher ist es aber bei der Diskussion geblieben.

Lebensgefährliche Suche nach Beweisen

Keine Frage, es ist eine ungewöhnliche Idee, eine private Organisation dafür einzusetzen, Kriegsverbrechen aufzudecken. Und einigen Gerechtigkeitsverfechtern, vor allem denjenigen, die sich mit der Dokumentation befassen, ist der neuartige Ansatz der Cija nicht ganz geheuer. Riskieren die Mitarbeiter in Syrien doch ständig ihr Leben für ein abstraktes Ziel, das vielleicht erreicht wird, vielleicht aber auch nicht. Zudem muss die Cija mitunter zwielichtigen Gestalten vertrauen, die ihr Zugang zum Beweismaterial verschaffen. Und die Organisation konzentriert ihre Ermittlungen in Syrien auf Staatsverbrechen und nicht auf die von der Opposition oder Rebellentruppen begangenen.

Aber die Cija, wie ich sie kennengelernt habe, versteckt sich nicht vor diesen unbequemen Wahrheiten. Die Mitglieder verstehen sie als zulässige Kritik ihrer Arbeit. In einer idealen Welt würde die internationale Gemeinschaft einen Weg finden, den Internationalen Strafgerichtshof oder ein anderes Tribunal in Syrien zu unterstützen. Aber diese Welt existiere nicht.

Internationale Strafgerichtshof nur bedingt geeignet

Es ist außerdem kurzsichtig, davon auszugehen, dass der IStGH automatisch die bessere Institution dafür wäre, Bürgerkriegs-Verbrechen zu ermitteln. In der Realität liegt die Risikobereitschaft des IStGH verständlicherweise so niedrig, dass die Ermittler nicht zu den Orten kommen könnten, wo die schlimmsten Verbrechen passieren.

Zum Beispiel in die sudanische Region Darfur.  Dorthin haben die IStGH-Offiziellen keinen Fuß gesetzt, obwohl der UN Sicherheitsrat sie 2005 darum gebeten hatte, den dortigen Völkermord zu untersuchen. In Libyen kamen sie 2011 erst nach den Aufstand und dem Bürgerkrieg an. Und in vielen Ländern, wie etwa der Zentralafrikanischen Republik, arbeiten sie nur in Gebieten, die von UN-Truppen geschützt sind. Selbst wenn Syrien also dem IStGH unterstellt würde, würden Ermittler wohl erst Jahre später auftauchen.

Den traditionellen Rechtsweg umgedreht

Die Cija dreht den traditionellen Rechtsweg um. Historisch wurde erst ein Tribunal gegründet, das daraufhin innerhalb seines Mandats die Untersuchungen aufnahm. Dank der Cija werden die Beweise schon vorher gesammelt. Was das für die Praxis bedeutet, ist unklar. Erhöht oder senkt  es den Druck, ein Gericht zu schaffen, dass die Verbrecher vor Ort verfolgt?

Die andere große Frage ist, ob die Beweise je verwendet werden. Es gibt einen tragischen Spalt zwischen der regelmäßig formulierten moralischen Empörung über das Leiden in Syrien und dem Interesse der Staaten, Gerechtigkeit herzustellen. Nicht einmal die diversen UN-Berichte über nicht genehmigte Hilfslieferungen oder der vom „Islamischen Staat“ ausgeübte Massenmord am jesidischen Volk hat zu Untersuchungen geführt. Nicht einmal gegen in Europa lebende mutmaßliche Kriegsverbrecher wurden Ermittlungen eingeleitet, obwohl die benötigten Beweise teilweise schon vorhanden sind.

Umdenken ist nötig

Es wäre einfach, wenn wir Russland, China und das syrische Regime beschuldigen könnten, globaler Gerechtigkeit im Wege zu stehen. Aber in Syrien wird das Recht permanent von ausgerechnet den Staaten untergraben, die sich ihm angeblich am stärksten verpflichtet fühlen. Viel mehr Energie wird darauf verwendet, militärisches Engagement zu stärken, einen Regimewechsel herbeizuführen und Terrorismus zu bekämpfen.

Damit aber jemals Recht gesprochen wird, ist ein Umdenken nötig: Die Kriegsteilnehmer vor Ort sollten nicht als Terroristen oder radikale Islamisten gesehen werden, die es auszurotten gilt. Sie sollten als Verbrecher verfolgt werden. Cija-Chef Bil Wiley sagt es so: „Durch einen gewissenhaft fairen Prozess lässt sich zeigen, dass diese Leute keine Soldaten Mohammeds sind, sondern Anführer eines kriminellen Syndikats.“ Es bleibt zu hoffen, dass die von Wiley und seinen Mitstreitern gesammelten Beweise in so einem Prozess zum Einsatz kommen. Und hoffentlich früher als später. 

Übersetzung: Constantin Wißmann

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