Brexit-Verhandlungen - Ohne Mehrheit und ohne klares Ziel

Das Königreich liegt wund. Es wird von Terroranschlägen, Brandkatastrophen und politischen Scharmützeln gebeutelt. Aber Großbritannien hält zumindest an einem fest: Der EU-Austritt soll kommen. Koste es, was es wolle

Das gebeutelte Königreich stürzt in den Brexit. Hält der Fallschirm für Theresa May? / picture alliance
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Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

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Die Brexit-Verhandlungen begannen am Montag um 11.00 Uhr in Brüssel. Eine Stunde später, um 11.00 Uhr Londoner Zeit, hielten die Briten eine Schweigeminute zum Gedenken an die Opfer des Grenfell-Tower-Brands ab. Dutzende Menschen waren vorigen Mittwoch einem Feuer in einem Londoner Wohnblock zum Opfer gefallen. In der Nacht zum Montag aber war es dann zu einem Terrorangriff vor einer Moschee im Nordlondoner Stadtteil  Finsbury Park gekommen, dem vierten Anschlag in vier Monaten. Ein vermutlich rechtsradikaler Extremist war mit einem Lastwagen in eine Gruppe von gläubigen Muslimen gefahren. Ein Mann starb, viele sind verletzt.

Das Land kommt nicht zur Ruhe

Großbritannien kommt nicht zur Ruhe. Im Gegenteil. Die politische Klasse kämpft an allen Fronten. Dabei sind die Brexit-Verhandlungen das größte politische Projekt der Briten seit dem Beitritt zur EU vor 44 Jahren. Was das Vereinigte Königreich jetzt bräuchte, wäre ein kühles Verhandlungsteam, das an einem Strang zieht. Davon aber kann keine Rede sein. Ein knappes Jahr nach dem EU-Referendum vom 23. Juni, in dem die Briten mit 52 zu 48 Prozent für den Austritt aus der Europäischen Union stimmten, tritt die konservative Regierung von Theresa May ohne gesicherte Mehrheit und ohne klares Ziel gegen 27 EU-Partner an. Seit sie die Wahlen am 8. Juni verpatzt hat, wetzen die Konkurrenten in ihren eigenen Reihen die Messer. 

Welchen Brexit hätte sie gern? Theresa May gehörte vor einem Jahr noch zu jenen, die für den Verbleib in der EU gekämpft hatten. Seit die 60-jährige ehemalige Innenministerin von den siegreichen Brexitieren zur Premierministerin gekürt wurde, konvertierte sie zu einer ultraharten Position – sie will aus der EU, dem gemeinsamen Markt und der Zollunion austreten, um die Einwanderung senken, die Freizügigkeit der EU-Arbeitnehmer und die Gerichtsbarkeit des Europäischen Gerichtshofs beenden zu können.

Mays Position der Schwäche

Aus ökonomischen Gründen widerspricht ihr da schon seit geraumer Zeit ihr eigener Finanzminister Philip Hammond. Der 61-jährige Karrierediplomat ist ebenfalls ein ehemaliger „Remainer“, der noch voriges Jahr für den Verbleib in der EU gestimmt hatte. Auch er sagt zwar, dass „ein Land, das aus der EU austritt, automatisch aus allem austritt“, er möchte Großbritannien aber danach wieder möglichst nahe zumindest an die Zollunion heranverhandeln. Dass Hammond als Finanzminister mit seinem „weichen“ Brexit-Plan überhaupt wieder nominiert wurde, zeigt die neue Position der Schwäche von Theresa May. Sie hätten den Konkurrenten gerne entsorgt, verfügt dafür aber heute nicht mehr über die nötige  Autorität. 

Denn bei den vermasselten Frühwahlen vom 8. Juni konnten die Konservativen ihre Mehrheit nicht wie geplant ausbauen. Sie verfügen nur über 317 von 650 Sitzen. Die Labour-Partei hat auf 262 Mandate aufgestockt. May wird dafür die Schuld gegeben, da sie im Wahlkampf volksfern und hölzern wirkte. Sie ist jetzt im Parlament auf die Unterstützung der nordirischen DUP angewiesen – die ultrakonservativen nordirischen Unionisten opponierten einst gegen das Karfreitagsabkommen, das den Krieg zwischen der katholischen Irischen Republikanischen Armee IRA und den protestantischen Unionisten 1998 beendete. Heute ist dieses Abkommen die Basis eines Friedens, der vom Austritt aus der EU bedroht wird. Zwischen Irland und Nordirland, das gemeinsam mit Großbritannien aus der EU austreten wird, muss dann eine EU-Außengrenze hochgezogen werden. 

Streitpunkt Nordirland

Nordirland ist deshalb einer der drei explosivsten Verhandlungspunkte zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich. Nach Meinung aller sollen die Modalitäten der nordirischen Grenze möglichst bald geklärt werden. Wie das gehen soll, ist aber bisher unklar, weil ja auch noch niemand weiß, wie die Bedingungen nach dem Austritt überhaupt sein werden. Tritt Großbritannien aus dem Binnenmarkt und der Zollunion aus, dann kann die Grenze nur schwer offen bleiben. Wenn die britische Regierung nach dem Austritt ein weitreichendes Freihandelsabkommen erreichen kann, dann könnte es sein, dass Nordiren und Iren nicht durch Grenzpfosten zu trennen sein werden. Ein Freihandelsabkommen aber ist in weiter Ferne. Es kann bis zu sieben Jahren dauern, so lange verhandelte Kanada mit der EU. Die Briten und die EU werden deshalb versuchen, erst den Scheidungsvertrag und dann ein Übergangsabkommen auszuhandeln – all das in den kommenden achtzehn Monaten, damit die nationalen Parlamente sie ratifizieren können.

Neben der nordirischen Grenzfrage gehört zu den Eröffnungskapiteln bei den Verhandlungen auch die Frage der Rechte der über drei Millionen EU-Bürger, die heute in Großbritannien leben. Werden sie weiter zu gleichen Bedingungen in ihrer neuen Heimat bleiben können? Wird Großbritannien zustimmen, ihnen automatisch Gesundheitsversorgung, Pensions- und Sozialversicherung zukommen zu lassen? Da auf dem EU-Kontinent wiederum etwa eine Million Briten leben, sollte sich eine gegenseitige Lösung aber finden lassen. 

Wie hoch wird die Rechnung?

Der dritte Punkt, der gleich zu Beginn der Verhandlungen geklärt werden soll, ist die Rechnung für die bisherige Mitgliedschaft. Großbritannien muss sich entweder weiter an den Pensionen seiner EU-Diplomaten und an bereits vereinbarten Programmen wie dem Studienaustausch Erasmus beteiligen oder einer Abschlagszahlung zustimmen. Aus Brüsseler Sicht beläuft sich diese auf bis zu 100 Milliarden Euro. Davon will London nichts wissen. Doch hinter den Kulissen haben die verantwortungsvolleren Minister in Mays Kabinett durchblicken lassen, dass es am Geld nicht scheitern soll. 

Wer sich aber in Mays Kabinett durchsetzen wird und ob die Premierministerin noch am Ende der Verhandlungen, die bis 29. März 2019 abgeschlossen sein sollen, im Amt ist – das weiß niemand zu sagen. Oppositionschef Jeremy Corbyn hat seit einem erfolgreichen Wahlkampf als volksnaher Kämpfer gegen die Ungleichheit an Selbstbewusstsein gewonnen und fordert die Regierungschefin permanent zum Rücktritt auf. Dass ihre Minderheitsregierung in den kommenden Monaten aufgrund eines innenpolitischen Problems im Parlament gestürzt wird, ist bei dem derzeitigen politischen Chaos im Land wahrscheinlich. 

Denn in der Brexit-Frage, und das ist vielleicht die schlechteste Nachricht für alle Pro-Europäer, sind sich die konservativen Tories und die Labour-Opposition im Grundsatz einig. Keiner weiß zwar, was Brexit genau heißt. Beide Parteien aber haben sich in ihren Parteiprogrammen klar auf den EU-Austritt festgelegt. 80 Prozent der neugewählten 650 Abgeordneten im britischen Unterhaus treten heute für ihn ein. Auch wenn vielen Briten dabei mulmig ist und das Triumphgeschrei der EU-Feinde längst verstummt ist, ziehen sie in die diplomatische Schlacht nach Brüssel, um sich von der EU zu trennen. Der Brexit, so sieht es zu Beginn der Brüsseler Verhandlungen aus, wird kommen.

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