Brexit - Vorbereiten auf den Worst Case

Langsam realisiert Großbritannien, was ein „No Deal”-Szenario für das Land bedeuten könnte. Kommt es zu keinem Scheidungsvertrag mit der EU, droht ab dem 1. April 2019 Chaos an Grenzen, in Supermärkten und in Unternehmen. Auch die Krankenhäuser sind alarmiert

Theresa May und Jean-Claude Juncker: Von einem Scheidungsvertrag noch weit entfernt / picture alliance
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Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

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Natürlich lieben die Engländer ihren Cheddar-Käse aus Somerset. Aber wie sehr? Der britische Konsument hat sich längst an die Vorzüge der EU-Mitgliedschaft gewöhnt. Sollte das Vereinigte Königreich am 29. März 2019 ohne ein Abkommen aus der EU ausscheiden, dürften sich erst einmal an den weißen Felsen von Dover Lastwagen Schlange stehen, deren Fuhren nicht schnell genug abgefertigt werden können. Verderbliches Gemüse und Obst würde wohl an den Grenzen verrotten. Französischer Käse könnte zeitweise aus den Regalen in Supermärkten verschwinden. Denn die Briten fielen in diesem Fall auf die Regeln der Welthandelsorganisation WTO zurück und müssten mit Zöllen und Verzögerungen rechnen.

Zur Zeit kursieren in Großbritannien Horrorszenarien für den Fall von „No Deal”: „Flugzeuge würden in Heathrow am Boden stehen bleiben”, schreibt die Tageszeitung The Independent und zitiert eine Studie des „Institute for Economic Affairs”. Verlässt das Vereinigte Königreich den EU-Luft-Binnenmarkt ohne Abkommen, dann gelten die bisherigen Sicherheitsabsprachen nicht mehr. In weiser Voraussicht buchen viele Engländer ihre Osterferien 2019 lieber nicht am Roten Meer in Ägypten, sondern im englischen Seebad Eastbourne.

Die Zeit drängt

Auch der Eurostar nach Paris könnte im Tunnel stecken bleiben, wenn die Sicherheitskontrollen auf der anderen Seite nicht mehr gelten. Lange Schlangen stünden bei der Passkontrolle an, wenn die alte EU-Reisefreiheit nicht mehr gilt. „No Deal” hieße, dass Briten nicht mehr ungehindert in die EU ziehen und EU-Bürger nicht mehr so einfach in Großbritannien arbeiten könnten. Allerdings hat Theresa May am Freitag nachmittag in einer Ansprache die 3,7 Millionen EU-Bürger in Großbritannien beruhigt: „Ihre Rechte werden auch im Falle eines No-Deal-Szenaros gewahrt bleiben“. 

Die britische Wirtschaft freilich wird das nicht beruhigen. Brechen die Verhandlungen zwischen Briten und EU zusammen, dann gibt es auch keine Übergangsphase bis Ende 2020. Die britische Regierungschefin Theresa May wird sich deshalb in den kommenden zwei Monaten noch emsig bemühen, ein Scheidungsabkommen mit der EU auszuhandeln. Der informelle Gipfel in Salzburg endete mit einer Demütigung für die Britin. Sie erhielt eine glatte Abfuhr für ihren Brexitplan.

Knackpunkt Nordirland

Theresa May hat einen sanften Brexitplan vorgelegt, wonach Großbritannien zwar aus der Zollunion austritt, aber im Binnenmarkt für Güter bleiben möchte. Bei den 27 EU-Chefs ist dies schwer durchzusetzen. Mays Plan untergräbt aus deren Sicht die Grundidee des EU-Binnenmarktes, wonach nicht nur Güter, sondern auch Personen frei reisen dürfen. Knackpunkt bei den Verhandlungen ist die Grenzfrage in Nordirland.

Ein Austritt des Vereinigten Königreichs bedeutet, dass die EU-Außengrenze künftig zwischen Nordirland und Irland verläuft. Um das Belfaster Friedensabkommen nicht zu gefährden, das auf einer offenen Grenze beruht, wollen EU und UK beide eine Regelung für eine grüne Grenze finden. Die EU hatte sich deshalb schon im Dezember 2017 mit Theresa May auf einen „Backstop” verständigt: Sollten Briten und EU zu keinem Verhandlungsergebnis über die zukünftigen Beziehungen gelangen, dann bleibt Nordirland bis auf weiteres in der EU-Zollunion und in Teilen des EU-Binnenmarktes.

Meuterei in der eigenen Partei

Das aber lehnen die Hardliner in Mays eigener Partei ab, weil Nordirland dann anders als Großbritannien behandelt wird. Erreicht die Regierungschefin ein Scheidungsabkommen mit den EU-27, muss über den Vertrag noch im britischen Parlament abgestimmt werden. Da die Regierungschefin nur über eine hauchdünne Mehrheit im House of Commons verfügt, zählt jede Stimme. Die große Mehrheit der Abgeordneten der oppositionellen Labour-Party wird gegen Mays EU-Deal stimmen – wenn er denn zustande kommt. Sollten dann Tory-Rebellen wie der ehemalige Außenminister Boris Johnson der eigenen Parteichefin in den Rücken fallen, dann könnte die Premierministerin darüber stürzen. Etwa 50 Tory-Abgeordnete drohen mit Meuterei.

Die Hardliner halten ein „No-Deal”-Szenario für die ehrlichere Lösung. Dass es zu Chaos an den Grenzen und leeren Supermarktregalen kommen könnte, hält eine prominente Brexiteerin schlicht für „Angstmacherei”. Sie will zwar ihren Namen nicht nennen, findet aber, dass Großbritannien für den Brexit gestimmt habe, und sich jetzt nicht von der EU in ein demütigendes Abkommen zwingen lassen sollte, bei dem man sich weiter den Regeln der EU unterwirft, ohne mitbestimmen zu können. Boris Johnson hat dies in einer Zeitungskolumne so ausgedrückt: Die Regierungschefin lege mit ihrem Brexit-Vorschlag Großbritannien einen „Selbstmordgürtel” um, der Auslöser sei in den Händen der Brüsseler Bürokraten.

Ironischerweise könnten sich die Brexit-Fans mit ihrer Meuterei gegen den May-Kompromiss selbst um den sicher geglaubten Sieg bringen: Stimmen die Hardliner gegen Mays Deal im Parlament und stürzt daraufhin die Regierungschefin, könnten Neuwahlen Jeremy Corbyns Labour-Party an die Macht bringen. Dieser ist zwar auch EU-Skeptiker, könnte den Brexit theoretisch aber wieder absagen, wenn der Druck aus Partei und Volk stärker wird.  

Gehen die Medikamente aus?

In der allgemeinen Unsicherheit über die Zukunft der Handelsbeziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU versuchen sich die Betroffenen inzwischen auf alle Szenarien vorzubereiten. „Ärzte warnen vor Risiken für Krebspatienten”, titelt etwa die Boulevardzeitung Daily Mail und warnt: Lebenswichtige Medikamente könnten nicht ausreichend vorhanden sein und nicht schnell genug aus der EU nach Großbritannien gebracht werden.

Der schwedisch-britische Pharmakonzern AstraZeneca hat sich deshalb seit dem Brexit-Votum 2016 auf diese Variante vorbereitet. Man wird im Vereinigten Königreich Vorräte an Medikamenten für sechs Wochen einlagern, um Engpässen vorzubeugen, sollte Großbritannien am 29. März 2019 ohne Abkommen aus der EU ausscheiden. Chaos sei deshalb nicht zu erwarten. Ein Firmeninsider sagte zu Cicero: „Wir empfehlen jedenfalls nicht, dass einzelne Personen zu Hause Medikamente horten.”

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