Brexit - „Politisch wäre es nicht klug, ein zweites Referendum zuzulassen“

2016 stimmten 52 Prozent der Briten für einen Austritt Großbritanniens aus der EU. Jetzt steuert das Königreich auf einen harten Brexit zu, und immer mehr Bürger fordern eine erneute Abstimmung. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel erläutert, warum das derzeit nicht so einfach wäre

Ein Exit vom Brexit? Ein zweites Referendum als Notausgang scheidet derzeit aus / picture alliance
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Autoreninfo

Chiara Thies ist freie Journalistin und Vorsitzende bei next media makers.

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Wolfgang Merkel ist Direktor der Abteilung „Demokratie und Demokratisierung“  am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und Professor für Politikwissenschaft am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität. 

Herr Merkel, das Brexit-Durcheinander in Großbritannien nimmt kein Ende. Jetzt werden Forderungen nach einem zweiten Referendum lauter. War es da überhaupt eine gute Idee, das britische Volk 2016 über den Brexit abstimmen zu lassen?
Das kann man unterschiedlich beurteilen. Wenn man es vom Ergebnis her sieht, also vom Austritt aus der Europäischen Union her, war das politisch sicherlich nicht klug von David Cameron. Auf der anderen Seite sage ich als Demokratietheoretiker, ist es kein Fehler, herauszufinden, was das Volk will. Und wenn es dann befragt wird, muss ein solches Votum ernst genommen werden.

Sind Referenden für solche Befragungen der beste Weg?
Voksabstimmungen sind nicht immer das beste Instrumen. Wir wissen aus empirischen Forschungen, dass emotionale Stimmungslagen eine Rolle spielen. Auch erkennen die Abstimmenden manchmal die Komplexität der Entscheidungen und die Konsequenzen daraus nicht. Wir wissen ebenfalls, dass die Beteiligung bei Volksabstimmungen geringer ist als bei Parlamentswahlen. Es findet eine Selbstausgrenzung der – wie es ein Schweizer Kollege einmal etwas zynisch formuliert hat – „der Inkompetenten“ statt. Das klingt zynisch, ist aber statistisch beschreibend vollkommen korrekt: Die unteren Bildungsschichten bleiben weg. Also ist es oft nur eine Schrumpfversion des Volkes, die abstimmt. 

War das auch beim Brexit der Fall?
Nein: Bei der Brexit-Abstimmung haben sichtbar mehr Bürger abgestimmt als bei den letzten Parlamentswahlen in Großbritannien. Die Beteiligung lag bei 72,2 Prozent. Also, von der Wahlbeteiligung her war es zweifellos ein demokratisches Verfahren. Ob die Abstimmenden sich aber der Konsequenzen ihres Handelns bewusst waren, ist eine andere Frage. Aber über die Konsequenzen des Brexit sind sich auch die Experten alles andere als einig. 

Nun sind Volksentscheide in der Schweiz seit Jahrzehnten ein wichtiges politisches Instrument. Warum funktioniert das im Rest von Europa nicht?
Aber es funktioniert doch. Es hat eine Abstimmung in Großbritannien gegeben. Die hat ein klares, wenn auch knappes Ergebnis gebracht, das ist immer ein Problem bei Mehrheitsverfahren. Ich sage nur: Wenn die Beteiligung bei Referenden sichtbar unter der Beteiligung von Parlamentswahlen liegt, ist die Legitimität eines solchen Verfahrens deutlich niedriger, als wenn es über der Beteiligung bei Parlamentswahlen liegt. In der Schweiz haben wir bei Bundesreferenden in den vergangenen Jahrzehnten durchschnittlich etwa 40-43 Prozent Beteiligung gehabt. Das ist wenig. In Großbritannien waren es 72 Prozent – das ist zweifellos eine belastbare, demokratische Legitimität.

Nun liegt das Brexit-Referendum mittlerweile mehr als zwei Jahre zurück – und es ist immer noch nichts passiert. Wäre es an der Zeit, dass Referendum zu wiederholen?
Nein. Die Legitimitätshierarchie in Demokratien bedeutet: An der Spitze steht das politische Volk, davon leitet sich die Legitimität des Parlaments ab – und zwar durch freie, gleiche und allgemeine Wahlen. Vom Parlament hängt in parlamentarischen Regierungssystemen wiederum die Legitimität der Regierung ab. Es ist also eine dreistufige Hierarchie. Jetzt können Eliten oder die unterlegene Minderheit – denen das Ergebnis nicht passt – nicht einfach sagen, dass sie ein zweites Referendum abhalten wollen, bevor das erste überhaupt implementiert worden ist. 

Die Aktivisten für ein zweites Referendum führen oft neue Mehrheitsverhältnisse als Argument an. Wäre ein zweites Referendum in diesem Fall nicht legitim?
Nein, eine politisch legitimierte Halbwertszeit muss sich etwa an der Dauer einer Legislaturperiode orientieren. Das wären in Großbritannien dann etwa vier Jahre. Grundsätzlich sind Entscheidungen in der Demokratie natürlich revisionsfähig. Aber bitte nicht, weil einer unterlegenen Minderheit das Ergebnis nicht passt und dann so lange gewählt wird, bis das Ergebnis stimmt und die heimischen Medien und die Eliten zufrieden sind. Das geht nicht, denn wir hatten in Großbritannien ein Verfahren mit beachtlicher Volksbeteiligung, auch wenn die Kampagnen nicht frei von Unwahrheiten und einseitigen Interpretationen waren. Aber solche Verdrehungen geschehen nie nur auf einer Seite.Das Gegenteil zu behaupten, wie das von der Remain-Fraktion getan wird, ist selbstgerecht und seinerseits eine Verdrehung. 

Also sollte man das Referendum nicht gerade darum wieder aktuell wiederholen?
Das geht nicht so einfach. Das Parlament hat ja den Brexit mit einem Gesetz zusätzlich fundiert. Es müsste mit Mehrheit das Gesetz wieder aufheben und ein neues Referendum beschließen. Für ein zweites Referendum gibt es aber derzeit keine Mehrheit im Parlament. 

Könnten denn die Bürger einen Volksentscheid initiieren, um so eine zweite Abstimmung durchsetzen?
Eine solche Volksinitiative von unten sieht die weitgehend ungeschriebene Verfassung nicht vor. Ob es ein Referendum gibt oder nicht, entscheidet das Parlament. Ich würde nicht nur aus demokratischen, sondern auch aus pragmatisch-politischen Gründen davor warnen. Was wäre denn gewonnen? Selbst wenn am Ende 52 Prozent der Bürger für einen Verbleib stimmen, sind 48 Prozent dagegen. Dann vertiefen sich die gegenwärtigen gesellschaftlichen Spannungen nur noch weiter. Politisch wäre es nicht klug, so etwas zuzulassen. 

Gesetzt den Fall, dass Referenden nach einer Legislaturperiode wiederholt werden können, wird Demokratie dann nicht irgendwann beliebig?
Nein, Demokratien müssen revisionsfähig sein. Sie müssen ihre eigenen Entscheidungen korrigieren können. Das gilt für das Volk, das Parlament und die Regierung. Wenn sich deutliche neue Mehrheiten bilden oder gewichtige Gründe vorliegen, kann ein Referendum auch in kürzester Zeit wiederholt werden. Private Umfrageinstitute oder der Chorus der Medien sind dafür aber eben keine geeigneten Mittel. In der Demokratie können Entscheidungen nur durch gesetzliche Verfahren getroffen werden. Dort, wo Referenden zugelassen sind, müssen sie aber als eine wichtige Entscheidung des Volkes akzeptiert werden. Das gilt auch für den Brexit. 

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