Streit um Brexit - Die Parlamentarier proben den Aufstand

Große Teile der eigenen Partei versagen Premier Boris Johnson die Gefolgschaft. Sie wechselten die Seiten. Johnson warf sie daraufhin aus der Partei. Das Parlament will einen No-Deal-Brexit um jeden Preis verhindern, Neuwahlen erscheinen plötzlich wahrscheinlich

Das britische Unterhaus, das „House of Commons“ in London
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Thomas Kielinger ist seit 1998 London-Korrespondent der Welt und Ehrenoffizier des „Order of the British Empire". Er ist Autor der soeben erschienenen Biografie „Die Königin. Elisabeth I. und der Kampf um England" (C.H. Beck).

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Die Parlamentarier proben den Aufstand – und sie sind dabei, ihn zu gewinnen. Sie haben der Downing Street das Heft aus der Hand genommen und werden am Mittwoch ihr eigenes Gesetz aufpflanzen: Einen No-Deal Brexit soll, darf es nicht geben. Punktum. 

Wie hieß doch die magische Formel, die einst Dominic Cummings, Johnsons Berater, erfand, um dem Brexit im Referendum von 2016 zum Durchbruch zu verhelfen? „Take back control“, so lautete die Devise – London will von Brüssel die Kontrolle über seine eigenen nationalen Belange zurückgewinnen. 

Wie entmachtet

In der Tat, Kontrolle wird jetzt vor aller Augen neu erworben. Aber nicht so, wie die Brexiteers es sich gedacht hatten. Vielmehr entwendet das Parlament nicht so sehr der EU als der eigenen Regierung die höchste Autorität. Cummings ist durch den Gang der Dinge wie entmachtet.

Das hat mit seinem eindimensionalen, auf nichts als den No-Deal-Brexit fokussierten Kabinett der Volkstribun Boris Johnson getan, dieser Glücksritter gegen die parlamentarische Hoheit.

28 Abgeordnete der Tories haben zusammen mit dem Ensemble der Oppositionsparteien, darunter der Alt-Trotzkist Jeremy Corbyn, Parteichef von Labour, gegen ihre eigene Partei gestimmt. Ein Massenabfall. Der Fraktionsführer der Konservativen hat ihnen daraufhin die Mitgliedschaft der Fraktion entzogen, sie werden bei der nächsten Wahl nicht mehr als Kandidaten aufgestellt werden.

Churchills Enkel ist raus

Solche Granden sind dabei wie Sir Nicholas Soames, der Enkel von Winston Churchill; Kenneth Clark, der „Father of the House“, das älteste Mitglied des Unterhauses; zwei frühere Finanzminister sowie etliche andere Leuchten der Partei, die einmal für die „One Nation Tories“ standen, eine die gesamte Gesellschaft umgreifende Volkspartei. Sie werden einfach hinausgeschaufelt, entsorgt, dem blinden Brexit-Eifer der Johnson-Clique geopfert.

Die Tories, in Gestalt ihrer selbstherrlichen neuen Regierung, sind geschrumpft zu einen Haufen extremistischer Brexiteers, die aus ihrem Affekt gegenüber der EU ihre neue raison d’être zu gewinnen suchen. 

Eine Brexit-Partei gibt es doch schon

Wie das – eine Brexit Partei gibt es aber doch bereits, oder? Tatsächlich, Nigel Farage ist der eigentliche Gewinner dieser Woche, Brexit kann er besser als jeder andere. Er wird daher diese Stelle im politischen Spektrum der Insel weiter beherrschen und den Konservativen eine Menge Wasser abgraben, wie er das bereits 2016 tat, als David Cameron vor lauter Angst vor dem Ukip-Anführer, der Farage damals war, das Referendum anberaumte. Das britische Unglück begann mit diesem panischen Schritt.

Und Boris Johnson, der Premierminister? Er sieht jetzt in einer Unterhauswahl seine einzige Rettung. Mit seiner rhetorischen Begabung, seinem schauspielerischen Talent, diesem dramatischen Aplomb darf er sich einen glatten Triumph über Labour und die „Corbynistas“ errechnen, um dann später, gewählt, das Verbot gegen den No-Deal-Brexit aus dieser Woche umzukehren.

Neuwahlen sind nicht allein Johnsons Sache

Aber Vorsicht: Eine Neuwahl kann er nicht so einfach ansetzen, wie es frühere Premierminister vermochten. Früher konnte ein britischer Regerierungschef innerhalb einer maximal fünfjährigen Legislaturperiode den Termin einer Neuwahl allein festsetzen, je nach den Chancen, die er sich ausrechnete, nach seinem Standing in der Volksgunst.

Das ist seit 2010 nicht mehr möglich, als damals die Koalition aus Tories und Liberaldemokraten ein neues Gesetz beschloss, den so genannten „Fixed-term Parliamentary Act“, der jetzt ein für allemal feste fünf Jahre als Sitzungsperiode festschreibt. Der Premier kann jetzt nicht mehr innerhalb dieser Frist nach eigenem Gutdünken den Termin für Neuwahlen festsetzen. Die kann es innerhalb der fünf Jahre nur noch geben, wenn der jeweilige Herr der Downing Street mindestens zwei Drittel der Abgeordneten für seine Idee von Neuwahlen hinter sich vereinigt.

Schafft Johnson das? Jahrelang hatte die Labour Partei gejubelt: Nur her damit, den Tories werden wir es zeigen, mit ihrer Austeritäts-Politik und allen Ungerechtigkeiten, die daraus entstanden sind. Neuwahlen, natürlich – nichts lieber als das, lieber heute als 2020, wenn sie satzungsgemäß fällig sind!

Doch das sieht im September 2019 anders aus. Unter dem gewaltigen Druck der allgemeinen Ablehnung eines No-Deal-Brexit ist auch Labour auf dieses Ziel eingeschwenkt und kann nicht riskieren, Johnson zur nötigen Zwei Drittel Mehrheit der Stimmen im Unterhaus zu verhelfen, solange das Gesetz, das den No Deal verhindert, nicht in trockene Tücher gehüllt ist.

Prozedurale Finessen

Das ist es aber noch nicht, noch muss auch das Oberhaus zustimmen, wo zwar die Regierung keine Mehrheit hat, aber durch allerlei prozedurale Finessen die Billigung aufhalten kann. Sodann muss die Vorlage zum Buckingham Palace, für die königliche Unterschrift. Derweil nähert sich der 31. Oktober, laufen die Fristen davon, und nichts ist gewonnen.

Ergo: Es wird keine Neuwahlen geben, ehe nicht das Gesetz zum Verbot des No-Deal wasserdicht gegen alle Versuche Johnsons gefeit ist, es zu umgehen. Für Labour haben sich die Prioritäten geändert: Erst der Sieg über den No-Deal-Brexit, dann Neuwahlen.

Eine neue Frist?

Was jetzt aus dem Brexit wird, ist ungewisser denn je. Wenn es bis zum 31. Oktobober zu keinen überarbeiteten „withdrawal agreement“, einem Auszugsvertrag mit der EU kommt, tritt eine neue Verhandlungsfrist in Kraft, diesmal bis zum 31. Januar 2020.

Das wirft die große Frage auf: Wie viele von denjenigen, die keinen No-Deal wollen, aber einen Brexit durchaus, werden bis dahin so frustriert sein, dass sie möglicherweise die ganze Chose noch einmal dem Wahlvolk zur Abstimmung in den Schoß legen? Wofür wird Labour kämpfen – für einen geordneten Brexit oder eine neue „people’s vote“, ein neues Referendum?

So oder so: Die Gespaltenheit der Gesellschaft kann nicht mehr lange dauern, ehe sie unheilbar wird und die politische Kultur auf Jahre zerrüttet. Schon jetzt werfen Johnson und die Seinen dem Parlament Verrat am Referendum von 2016 vor. Wenn aber das Parlament und das Volk gegeneinander aufgehetzt werden, geht die britische Demokratie einer dunklen Zeit entgegen.


 

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