Brexit-Deal - Ein Königreich für ein Drama

Ein neuer Brexit-Deal zwischen der EU und Großbritannien ist ausgehandelt. Bis Samstag muss Boris Johnson im britischen Parlament eine Mehrheit für seinen harten Austritt erkämpfen. Doch Widersacher aus allen Himmelsrichtungen des Königreichs lassen seine Chancen nicht gut stehen

Hat das Warten auf den Brexit ein Ende? / picture Alliance
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Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

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„Wir haben einen großartigen, neuen Deal und das Parlament soll am Samstag zustimmen, damit wir uns anderen Prioritäten zuwenden können“, twitterte der britische Premierminister Boris Johnson am Donnerstagvormittag. Das Vereinigte Köngireich und die Europäische Union haben einen Austrittsvertrag ausgehandelt. Knapp vor dem von Johnson versprochenen Austrittsdatum, dem 31. Oktober, ist der Weg zum Brexit damit frei. 

Frei? Weit gefehlt. Der Sturm der Entrüstung gegen Johnsons Deal brach wenige Minuten nach der Verkündung des Abkommens los. Während Boris Johnson nach Brüssel reiste, um dort im Kreise der EU-Staatschefs an seinem ersten und unter Umständen letzten EU-Gipfel teilzunehmen, formierte sich in London der Widerstand gegen sein Abkommen: „Wir können diesem Deal nicht zustimmen“, stellte die Chefin der „Demokratischen Unionspartei“, Arlene Foster, schon am Morgen klar. An ihren zehn Abgeordneten hängt enormes Gewicht. Denn Boris Johnson hat im britischen Unterhaus, das dem Abkommen mit der EU erst noch zustimmen muss, keine Mehrheit mehr. 

Johnson könnte scheitern – wie einst May

In Westminster könnte es am Samstag beim Brexit also zum letzten Gefecht kommen. Bei einer außerordentlichen Sitzung des Unterhauses sollen die Abgeordneten, geht es nach dem Premierminister, seinen Scheidungsvertrag von der EU annehmen. Die Zahlen aber sehen nicht gut aus. Von 650 Sitzen kann Johnson derzeit nur auf 259 loyale Tories zählen. Man fühlt sich an Johnsons Vorgängerin Theresa May erinnert, die mit ihrem ausgehandelten Abkommen drei Mal am Widerstand des Parlaments scheiterte, weil den Abgeordneten ihr Brexit-Vertrag entweder zu hart oder zu weich war. Jetzt steht Boris Johnson in der parlamentarischen Arena und muss beweisen, dass er die wütenden Gegner bezwingen kann.

Labour-Chef Jeremy Corbyn stellte klar: „Dieser Deal ist noch viel schlechter als der Deal von Theresa May. Das Parlament hat schon Mays Deal mit großer Mehrheit abgelehnt.“ Corbyn, selbst EU-Skeptiker, hat sich von seinen proeuropäischen Parteigenossen inzwischen breitschlagen lassen, für ein zweites Referendum zur Brexitfrage einzutreten. Die Sozialdemokraten verfügen über 245 Mandate. Es gibt allerdings 19 Labour-Abgeordnete aus Wahlkreisen, die für den Brexit gestimmt haben. Unter Umständen kann Johnson einige dieser Labour-Politiker auf seine Seite holen. Vor allem, wenn er verspricht, seinen Deal bei einem zweiten Referendum dem Volk zur Zustimmung vorzulegen. Bisher lehnt Johnson eine weitere Volksabstimmung allerdings strikt ab.

Zünglein an der Waage

Für die Chefin der Liberaldemokraten dagegen ist die Sache sonnenklar. Jo Swinson und ihr proeuropäischer Club werden gegen Johnsons Deal stimmen. Die „LibDems“ sind gegen jeden Brexit. Ähnlich steht es um die schottischen Nationalisten. Die 35 Abgeordneten der SNP wollen den Brexit absagen, denn Schottland hat mit großer Mehrheit für den Verbleib in der EU gestimmt: „Der Brexitprozess zeigt, dass Schottland die Unabhängigkeit anstreben muss.“

Damit kommt den Rebellen innerhalb der Tory-Partei jetzt eine zentrale Rolle als Zünglein an der Waage zu. Da sind einmal die sogenannten „Tory-Spartaner“, die als besonders eifrige „Brexiteers“ bekannt geworden sind. Sie haben Theresa May die Gefolgschaft verweigert, scheinen aber Boris Johnson eher zugeneigt. Ihre 28 Stimmen braucht Johnson dringend, will er den Deal durchs Unterhaus bringen. 

Denn den proeuropäischen Flügel der konservativen Tory-Partei hat der Premier eigenhändig selbst vor einigen Wochen abgetrennt, als er 21 Abgeordnete aus der Partei geworfen hat. Die moderaten Politiker hatten Johnsons No-Deal-Drohung nicht mittragen wollen. 

Wer lässt sich umstimmen?

Insgesamt sitzen heute bereits 35 unabhängige Abgeordnete und fünf Mandatare der Neugründung „Independent Group“ im „House of Commons“. Darunter sind auch einige Labour-Leute, die sich in Corbyns Partei nicht mehr zu Hause fühlten. Wie viele dieser ehemaligen Tories und ehemaligen Labour-Politiker jetzt mit der Regierung stimmen werden, bleibt abzuwarten. Der ehemalige, moderate Tory-Finanzminister Philip Hammond? Vielleicht. Der ehemalige Generalstaatsanwalt Dominic Grieve, der für ein zweites Referendum eintritt und glaubt, Großbritannien wäre besser innerhalb der EU aufgehoben? Wohl kaum.

Boris Johnson hat mit seinem Abkommen nur deshalb überhaupt eine Chance, die Mehrheit des Parlaments zu überzeugen, weil sich eine tiefe Brexit-Müdigkeit über das ehrwürdige Unterhaus gelegt hat. Die Sache hätte für viele einen großen Vorteil: Die endlose Brexit-Unsicherheit käme damit zu einem Ende.

In Brüssel empfindet man das ähnlich: „Wo es einen Willen gibt, gibt es einen Deal“, twitterte Jean-Claude Juncker am Donnerstag vormittag. Juncker tritt am 31. Oktober als EU-Kommissionspräsident ab, ein chaotischer Brexit wäre für ihn ein trauriger Abschied. Auch sein Brexit-Kommissar Michel Barnier bemühte sich daher um optimistische Töne in Brüssel: „Die Quadratur des Kreises ist gelungen.“ 

Das ist neu im Brexit-Deal

Nach dem neuen Austrittsabkommen wurde nur das Nordirland-Protokoll von etwa 60 Seiten verändert, der Rest bleibt so wie mit Theresa May besprochen. Neu ist, dass Nordirland zwar de facto in der EU-Zollunion bleibt, gleichzeitig juristisch gesehen aber auch in der Zollgemeinschaft des Vereinigten Königreichs. Die Briten können dann theoretisch eigenständige Handelsverträge mit Drittstaaten aushandeln. Nordirland bekommt kein Veto, wenn es um die Regeln der EU geht, die Nordirland auch künftig hinsichtlich von Gütern im EU-Binnenmarkt und der EU-Zollunion befolgen wird müssen. Die Regionalregierung in Belfast wird mit einfacher Mehrheit alle vier Jahre entscheiden, ob sie aus diesem Deal aussteigen will. 

Mit diesem Zugeständnis verlor Boris Johnson die Unterstützung von Arlene Foster, der Chefin der nordirischen „Demokratischen Unionspartei“. Sie fürchtet, dass Nordirland sich über die kommenden Jahre immer näher an Irland angleichen und immer weiter von Großbritannien entfernen wird. Dafür sorgt auch die neue Zollgrenze, die jetzt zwischen Nordirland und Großbritannien im irischen Meer verläuft – ein Kompromiss, dem Boris Johnson zugestimmt hat, obwohl er lautstark und mehrfach in den vergangenen Jahren verkündet hatte, dass „kein britischer Premierminister dem jemals zustimmen kann.“

Boris Johnson aber kann das. Ist es ein Zeichen dafür, dass er eben keine Überzeugungen hat und bereit ist, selbst die Einheit mit Nordirland zu opfern, um seinen Brexitplänen und seiner eigenen Karriere zu nutzen? Oder zeigt all das, dass er etwas hinbekam, woran alle anderen scheiterten?

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