Konservative in Großbritannien - Eine Partei im Modus der Selbstzerfleischung

Wie sehr das Chaos um den Brexit die Tories in Großbritannien erschüttert, zeigt sich auf dem Parteitag überall. Theresa Mays geplante Neuausrichtung der Partei wird so unmöglich und die Angst vor einer sozialistischen Labour-Regierung wächst. Doch es gibt Hoffnung – aus ungewohnter Richtung

Boris Johnson trat auf dem Parteitag vergleichsweise milde auf. Aber die Risse bei den Tories sind kaum zu übersehen / picture alliance
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Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

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Sogar den weißgelben Haarschopf schien Boris Johnson gebändigt zu haben, als er am Dienstag vor seine Parteifreunde trat. Dunkelblauer Anzug, die Krawatte im Blau der konservativen Tories, das weiße Hemd ordentlich in die Hose gesteckt, bemühte sich der schärfste, innerparteiliche Herausforderer der britischen Premierministerin Theresa May um das Image eines seriösen Politikers. Nach einigen zahmen Aufwärmscherzen donnerte er zwar in den Saal: „Chuck Chequers!“ Und: „Scrap the backstop“, womit er dazu aufrief, Mays Vorschlag eines sanften Brexitplans inklusive einer Lösung für Nordirland zu verwerfen. Er schreckte aber davor zurück, zu ihrem Sturz aufzurufen: „Lasst uns Theresa May unterstützen, damit sie ihren ursprünglichen Brexitplan verfolgt.“

Beifall für Brandreden gegen May

Parteitage sind Sittengemälde. Das ist auch in diesem heißen Brexit-Herbst nicht anders. Lange Schlangen wanden sich über die Treppen des Internationalen Konferenzzentrums in Birmingham, in dem die konservativen Tories diese Woche ihre jährliche Konferenz abhielten. „Wir sind Briten, wir stehen gerne an“, sagt eine Engländerin, die mit ihrem Mann angereist war: „Wir wollen jene unterstützen, die darauf bestehen, dass der Brexit, für den wir gestimmt haben, auch wirklich kommt.“ 

Hunderte Parteimitglieder warteten brav, oft über eine Stunde, auf Einlass in sogenannte Fringe-Events, die parallel zu den offiziellen Reden in der großen Halle abgehalten wurden. Die längsten Warteschlangen gab es in diesem Jahr vor den Veranstaltungen, bei denen die radikalsten Brexitfans Brandreden gegen die eigene Premierministerin hielten.  

Jeremy Corbyn als Schreckgespenst

Im Hauptsaal dagegen saßen die Delegierten bequem in den roten Sesselreihen und lauschten den Reden der Minister. „Opportunity“ stand in dicken Lettern an den Wänden. Um welche „Möglichkeiten“ es genau ging, erläuterten die loyalen Mitstreiter der Premierministerin.  Michael Gove etwa, Minister für Umwelt und im Herzen ein großes Brexitier, der aber bisher zu Theresa Mays sanftem Brexitplan hält, rief in den Saal: „Wir haben Plastikmüll um 90 Prozent reduziert, weil wir eingeführt haben, dass man für Plastiktüten zahlen muss.“ Das Publikum applaudierte brav. Der kollektive Puls beschleunigte sich aber erst, als Gove eine Schimpfkannonade gegen den hartlinken Labour-Führer Jeremy Corbyn losließ. 

Corbyn hat wohl innerlich triumphiert, weil man ihn als Schreckgespenst in praktisch jeder Rede in Birmingham beschwor. Sein Versprechen, als Premierminister in Downing Street Mr. 10 mit einer radikalen sozialistischen Regierung das Vereinigte Königreich umzubauen, erschüttert die Konservativen zutiefst. Statt sich ob dieses Horrorszenarios geeint hinter die Regierungschefin zu stellen, die aus der Mitte heraus Corbyn Stimmen abjagen könnte, zerfleischen sich die Tories allerdings in einem ideologischen Richtungsstreit über den Brexit. 

Kaum jemand glaubt Theresa May noch

Theresa May müht sich redlich, dabei die Contenance nicht zu verlieren. Gebetsmühlenartig trägt sie seit ihrem Amtsantritt vor über zwei Jahren Sprechsätze vor, die kaum jemand in der eigenen Partei noch zu glauben scheint: „Brexit heisst Brexit“, „Wir machen aus dem Brexit einen Erfolg“, „Wir wollen einen Brexit, der für alle gut ist“. Ihr eigener Austrittsplan, ein Freihandelsabkommen mit einem Verbleib der Güter im EU-Binnenmarkt,  wird von der EU wie von großen Teilen der eigenen Partei und der oppositionellen Labour-Partei abgelehnt. Ob die Regierungschefin noch in diesem Herbst vor oder nach einem möglichen Scheidungsvertrag mit der EU oder erst nach dem offiziellen Austrittsdatum im März 2019 gestürzt werden soll, wurde an jeder Ecke des riesigen Konferenzzentrums diskutiert. 

Persönlich ist das für die Frau, die sich selbst als „bloody difficult woman“ bezeichnet, wohl viel härter, als sie zu erkennen gibt. Hinter dem bitteren Machtkampf und der schon quälenden Brexit-Unsicherheit steht die ungelöste Frage: Wofür stehen die Konservativen im Vereinigten Königreich? Theresa May war angetreten, die Partei in ihrer Wirtschaftspolitik in die Mitte zu ziehen. Der kleine Mann und die kleine Frau in Mittelengland sollten ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden. Diese Politik entsprach Theresa Mays eigener Herkunft als Pastorentochter, die in Oxfordshire aufgewachsen ist. Das globalistische Big Business in London, dem ihr Vorgänger David Cameron huldigte, ist ihr immer fremd geblieben. 

EU wird mit Sowjetunion verglichen

Doch wegen des Brexit und der permanenten Führungskrise ist aus ihrem Plan, sich um die Mittelklasse Englands zu kümmern, nichts geworden. Aus Angst und Ärger über die Folgen der Globalisierung haben viele aus ihrem Umfeld für den Brexit gestimmt. Jetzt aber ist kaum Zeit, eine Strategie zu entwickeln, um die englischen Grafschaften und den deindustrialisierten Norden auf die Digitalisierung im 21. Jahrhundert vorzubereiten. 

Das Brexitchaos hat die Führungsriege so sehr erschüttert, dass selbst moderate Tories wie der neue Außenminister Jeremy Hunt sich ohne Not beschädigen. Zum Auftakt des Parteitages riet er der EU, aus der Geschichte der Sowjetunion zu lernen: „Wenn man ein Gefängnis baut, braucht man sich nicht wundern, wenn die Insassen ausbrechen wollen.“ CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen, auf Kurzbesuch in London, sagte dazu: „Er hat das Maß verloren, es gibt doch noch ein Leben nach dem Parteitag.“ In Brüssel fordert man eine Entschuldigung vom britischen Außenminister.

Einer von Mays Kritikern, der exzentrische Rechtsaußen Jacob Rees-Mogg, wurde bei seinen Auftritten in den Frindge-Events stets mit Standing Ovations begrüßt. „Kein Problem, wenn wir ohne Deal aus der EU herausfallen“, war seine Mantra. Die britischen Industriellen trauen ihren Ohren nicht mehr. Boris Johnson hat schon im Sommer mit der wegwerfenden Bemerkung „F... Business“ Geschichte geschrieben. So etwas ist bei den Tories noch nicht vorgekommen, die konservative Partei ist schließlich die politische Heimat des Big Business. Theresa May und ihr Schatzkanzler Philip Hammond versuchen zwar, die Angst der britischen Industriellen vor „No Deal“ zu dämpfen, in dem sie für einen sanften Austritt mit Übergangsphase bis Ende 2020 kämpfen. Doch für Rees-Mogg zählen diese schwächlichen Vorsichtsmaßnahmen nicht. „93 Prozent der Weltbevölkerung leben nicht in der EU, da draußen ist die Welt, zu der wir Briten gehören!“

Der Kandidat einer anderen Zukunft

Für dieses Großbritannien steht auch Sajid Javis. Der Innenminister ist das Kind eines pakistanischen Einwanderers. Er hat versprochen, die harsche Immigrationspolitik gegen Einwanderer milder zu gestalten. Die Einschränkung der EU-Einwanderung unterstützt er allerdings. Javis steht hinter Theresa May und ihrem sanften Brexitplan. Ihm werden Chancen auf ihre Nachfolge nachgesagt. Javis wäre ein Bruch mit der bisherigen Torytradition, die sehr weiß und bis auf wenige Ausnahmen wie Margaret Thatcher und Theresa May sehr Upper Class war.  

Seine Scherze sind noch etwas steif und seine politischen Statements sanft, als wären sie in Watte gepackt. Im polarisierten Klima dieses Parteitages, an dem Theresa May als wandelnde politische Leiche durch die Hallen zieht, wirkt Javid wie das Versprechen einer anderen britischen Zukunft, in der die Kinder des Commonwealth im Vereinigten Königreich das Zepter in die Hand nehmen.

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