Boris Johnsons Binnenmarktgesetz - Corona-Chaos ohne Brexit-Bedenken

Im Streit um das Binnenmarktgesetz kündigt die EU-Kommission rechtliche Schritte gegen Großbritannien an. Das Land steckt so tief in der Krise, dass sich die erschöpften Briten nicht einmal mehr aufregen, wenn die Regierung ein Gesetz beschließt, mit dem offen internationales Recht gebrochen wird.

Dass Boris Johnson siegreich aus dem Schlamassel hervorgehen könnte, erscheint langsam auch Parteifreunden fraglich / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

So erreichen Sie Tessa Szyszkowitz:

Anzeige

Wo war Theresa May, als Dienstag Nacht im britischen Unterhaus über das kontroverse Binnenmarktgesetz abgestimmt wurde? Die ehemalige Premierministerin sitzt nach wie vor als Abgeordnete auf den Hinterbänken im House of Commons. Dort wurde sie in den vergangenen Tagen zur Chefkritikerin ihres Nachfolgers Boris Johnson, der zurzeit ein Gesetz durch die beiden Parlamentskammern schickt, das nach Eingeständnis eines Ministers „internationales Recht in ganz bestimmten Fällen bricht“. Das sei „unverantwortlich“ und „leichtsinnig“, sagte May in einer Wortmeldung.

Bei der dritten und entscheidenden Abstimmung aber fehlte sie wie auch die anderen parteiinternen Rebellen. Zwanzig Enthaltungen wurden gezählt. Kein einziger Tory stimmte gegen das Gesetz, mit dem die Briten Teile des Austrittsabkommens mit der EU aushebeln werden können. Das Gesetz wurde mit 340 zu 256 Stimmen angenommen und geht jetzt in die Debatte im House of Lords.  

Der Brexit als eine Art Glaubensfrage

Damit ist das Ultimatum der EU abgelaufen, das sie den Briten gestellt hatte: Das rechtsbrüchige Binnenmarktgesetz sollte bis 30. September ganz vom Tisch genommen werden. Da dies nicht passiert ist, hat Brüssel nun juristische Schritte gegen Großbritannien angekündigt.

Die Briten haben sich in EU-Fragen eindeutig radikalisiert. Ging es anfangs einem Teil der konservativen Partei darum, aus den politischen Institutionen der EU auszutreten, aber möglichst eng wirtschaftlich vernetzt zu bleiben, so ist heute aus dem Brexit eine Art Glaubensfrage geworden. Der Brexit ist der Kitt, der die Regierung von Boris Johnson zusammenhält. Gleichzeitig ist er ein explosiver Treibstoff, der sein Team zu immer extremeren Aktionen treibt.

Mit Knalleffekt aus dem Binnenmarkt

„Boris war nicht von Anfang für „No Deal“, aber er ist inzwischen fest im Lager von Dominic Cummings“, analysiert Sir Ivan Rogers für Cicero die Lage: „Johnson und sein Chefberater denken: Zur Hölle mit den Verhandlungen, wir sollten einfach weggehen“,  Der ehemalige britische EU-Botschafter beriet Theresa May bis Januar 2017 in Sachen Brexitverhandlungen. Frustriert über den Mangel an Realismus und Verständnis für die EU-Verträge warf er dann das Handtuch. Sir Ivan gilt als einer der besten EU-Experten des Vereinigten Königreichs und berät heute Banken und Universitäten in Brexitfragen.

Für Rogers ist der Chefberater des Premierministers der entscheidende Faktor: „Cummings möchte in diesem Herbst die Inszenierung von 2019 wiederholen: Er will einen Kulturkampf, einen Krieg gegen das House of Lords, und gegen die obersten Richter. Er ist ja nicht blöd, er weiß, dass man ein abgeschlanktes Freihandelsabkommen schlecht als Triumph bezeichnen kann.“ Im Januar 2021 sähen die Briten erstmals, wie sehr der Brexit ihrer Wirtschaft schadet. Cummings wolle daher am liebsten mit einem Knalleffekt aus dem Binnenmarkt austreten: „No Deal ist vielleicht noch schmerzhafter für die Wirtschaft, aber man kann einen kompromisslosen Austritt besser als Triumph eines befreiten Britannien verkaufen.“

Wie einander noch vertrauen?

Diese Woche läuft die neunte Verhandlungsrunde zwischen Briten und EU-Beamten. In Briefings machen beide Seiten klar, dass keine Seite der anderen den Gefallen tun wird, den Verhandlungstisch als erstes zu verlassen. Deshalb wird immer noch verhandelt. Im Zentrum stehen Fischereirechte und Staatshilfen. Beides, darüber besteht in London und Brüssel Einigkeit, könnte man lösen. Bisher hat EU-Chefverhandler Michel Barnier vom britischen Pendant David Frost wenig Konkretes zu hören bekommen.

Eine Einigung ist inzwischen schwer denkbar. Es ist für die Brüsseler EU-Institutionen kaum vorstellbar, ein Freihandelsabkommen mit dem Vereinigten Königreich auszuhandeln, das dann eventuell nach einigen Monaten auch einfach absichtlich und öffentlich gebrochen wird. So wie es jetzt mit dem Austrittsabkommen zwischen Großbritannien und der EU gerade geschieht, das den Status eines internationalen Vertrages hat.

Erstaunlich wenig Protest im Vereinigten Königreich

Hinzu kommt, dass es dabei um das Protokoll für Nordirland geht. Um den fragilen Frieden an der grünen Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland zu schützen, gibt es Sonderbestimmungen für Nordirland im Austrittsabkommen. Diese will die Regierung Johnson mit dem neuen Binnenmarktgesetz außer Kraft setzen, damit wiederum keine (Zoll-)Grenze zwischen Nordirland und Großbritannien im irischen Meer entsteht. Der Brexit, und das war eigentlich von Anfang an sonnenklar, destabilisiert das heikle Friedensabkommen in Nordirland, dessen Grundlage die EU-Mitgliedschaft aller Beteiligten war. Nur wenn alle im EU-Binnenmarkt und der EU-Zollunion sind, kann die grüne Grenze ohne Zollgrenzen und Kontrollen erhalten bleiben. Mit einem harten Brexit, auf den Boris Johnson jetzt zusteuert, wird der hart erkämpfte Frieden in Nordirland in Frage gestellt.

Gegen diese irrwitzige populistische Fehlentwicklung gibt es erstaunlich wenig Protest im Vereinigten Königreich. Neueste Umfragen zeigen, dass die Briten ihren Brexit nicht mehr für toll halten – 50 Prozent halten ihn laut Umfrageinstitut YouGov für falsch, nur noch 39 Prozent für sinnvoll. Boris Johnson aber hat bei den Parlamentswahlen im Dezember 2019 noch eine große Mehrheit von 80 Abgeordneten gewonnen, und die Opposition kann gegen die neuerliche Eskalation wenig tun.

Corona-Chaos statt Brexit-Bedenken

Außerdem ist der Brexit nicht das vordringliche Problem der Bevölkerung. Sie ist vielmehr komplett von der Covid-19-Pandemie überfordert. Als Boris Johnson Ende März viel zu spät einen Lockdown über das Königreich verhängte, hatte sich das Virus bereits tief in die weitgehend ungeschützten, sensibelsten Kreise der britischen Gesellschaft ausgebreitet: In den Pflegeheimen und Krankenhäusern starben Tausende Patienten und Pfleger. Offiziell sind 42.000 Briten an Corona gestorben, nach glaubwürdigen inoffiziellen Schätzungen aber eher fast 60.000.

Der an Absurdität kaum zu überbietende Zickzack-Kurs der Regierung Johnson bei den Coronamaßnahmen geht munter weiter. Hatte man im August die Leute zurück ins Büro beordert, musste man im September alle wieder nach Hause schicken – außer die, die unbedingt am Arbeitsplatz erscheinen müssen. Die britische Wirtschaft erlebte ob dieses Chaos einen tieferen Einschnitt als die EU-Staaten. Der neue von der Regierung verhängte Slogan „Build Back Better“ klingt vielen, die gerade ihre Arbeitsplätze verlieren, wie blanker Hohn.

Zahlreiche Kritiker von links und recht

Die meisten Briten haben es längst aufgegeben, verstehen zu wollen, welche Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung gerade gelten. Da Johnsons Minister und Berater oft dabei ertappt werden, die eigenen Maßnahmen nicht zu befolgen, machen sich inzwischen viele ihren eigenen Reim und ihr eigenes Covid-Regime. Weil die Infektionszahlen deshalb enorm steigen – 7.100 tägliche Neuinfektionen, bereits 71 Tote am Dienstag – hat die Regierung drakonische Strafen verkündet, sollte soziale Distanz nicht eingehalten werden.

Die härtesten Brexitfans in den eigenen Reihen – Parlamentarier wie Steve Baker oder Graham Brady – sind jetzt zu schärfsten Kritikern von Johnsons Covidchaos geworden. Brady fordert gemeinsam mit etwa 80 Rebellen, dass die Regierung neu geplante Coronamaßnahmen erst im Parlament abstimmen lassen muss. Gemeinsam mit Oppositionschef Keir Starmer fordern die zahlreichen Kritiker von links und rechts vor allem eines von ihrem Regierungschef: mehr Klarheit.

Genau das aber kann Boris Johnson nicht bieten. Am Dienstag entschuldigte sich der Premierminister sogar dafür, dass er dabei erwischt wurde, dass er seine eigenen Maßnahmen nicht erklären konnte und die Unwahrheit darüber erzählt hatte, ob man sich jetzt noch zu sechst im Freien treffen könne oder nicht. Kleinlaut erklärte der Premier, er habe leider „falsch gesprochen“.

Johnson ist in der Lage, Positionen zu ändern

Dass Boris Johnson siegreich aus diesem Schlamassel hervorgehen könnte, erscheint langsam auch Parteifreunden fraglich. Der britische Knoten an Coronachaos und Brexitbasar ist kaum zu lösen. Einen Rest seines Rufes, in letzter Minute Wunder vollbringen zu können, hat Boris Johnson sich aber noch erhalten können.

Er könnte die Ratifizierung des umstrittenen Binnenmarktgesetzes im Parlament einige Wochen hinauszögern und bis Mitte Oktober doch noch ein schlankes Freihandelsabkommen mit der EU aushandeln. Dann könnte er behaupten, dass er die Bestimmungen des Binnenmarktgesetzes, die internationales Recht brechen, doch nicht einsetzen muss, weil sich die Basis der Beziehungen wegen des Freihandelsabkommens mit der EU geändert habe. Nach dieser von ihm selbst inszenierten Krisensituation wäre ein No Deal am Ende doch noch einmal vom Tisch, und Johnson könnte versuchen, sich als Retter der Nation darzustellen.

Selbst ein harscher Kritiker wie Sir Ivan Rogers gesteht dem Premierminister zu: „Gut ist zumindest, dass Boris Johnson in der Lage ist, seine Position zu ändern, wenn er erkennt, dass eine komplette Kehrtwende absolut notwendig ist“.

Anzeige