Biden in Europa - Der Rückkehrer

Kehren die USA mit Joe Biden zurück nach Europa? Vieles während der aktuellen Reise des US-Präsidenten spricht dafür. Doch die geopolitische Landkarte hat sich verändert. Jetzt geht es zunächst um die Frage, ob Europa überhaupt ein Interesse an einem vertieften Bündnis mit den USA hat.

Joe Biden, Präsident der USA, spricht mit Journalisten vor dem EU-USA-Gipfel im Gebäude des Europäischen Rates / dpa
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Autoreninfo

George Friedman, 74, ist einer der bekanntesten geopolitischen Analysten der Vereinigten Staaten. Er leitet die von ihm gegründete Denkfabrik   Geopolitical Futures  und ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien „Der Sturm vor der Ruhe: Amerikas Spaltung, die heraufziehende Krise und der folgende Triumph“ im Plassen-Verlag.

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Die Europareise von US-Präsident Joe Biden hat sich bisher um das einzige Thema gedreht, bei dem sich fast die ganze Welt einig ist: Biden ist nicht Donald Trump. In den Vereinigten Staaten beklagen diejenigen, die für Trump gestimmt haben – fast die Hälfte aller Wähler – diese Tatsache. Die anderen freuen sich. 

Die Europäer, die beim G-7-Treffen dabei waren, schienen sich einig zu sein, dass Trumps Abgang eine wunderbare Sache ist. Aber die meisten europäischen Länder sind natürlich nicht Teil der G-7, und einige (wie Polen) fürchten sich vor Biden. Für viele europäische Länder ist die Trump-Biden-Sache ein Nicht-Thema. Der russische Präsident Wladimir Putin sagte, er halte Trump für viel interessanter, als Biden es je sein könnte – um dann aber festzustellen, dass Biden in Ordnung sei, wenn auch langweilig.

Ob es einem gefällt oder nicht: Bei der Reise geht es darum, inwieweit Biden die US-Politik in Europa und Russland verändern wird – was bedeutet, dass es bei dem Trip eben doch um Donald Trump geht. Oft wird jetzt behauptet, dass die USA wieder „auf der Seite Europas“ stünden, so wie sie es seit dem Zweiten Weltkrieg getan haben. Die Frage ist nur, was genau damit eigentlich gemeint ist.

Geopolitischer Realismus

Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Sowjetunion eine Bedrohung für das durch den Krieg zerstörte Europa. Es war dringend notwendig, dass die Vereinigten Staaten beim Wiederaufbau Europas halfen, damit es militärische Kräfte aufstellen konnte, um den Sowjets zu widerstehen und Länder wie Frankreich und Italien zu stabilisieren, die mächtige kommunistische Parteien hatten. Das Engagement der USA hatte weniger mit Sentimentalität zu tun als vielmehr mit einer geopolitischen Realität, die Westeuropa und die Vereinigten Staaten in ein weitreichendes Bündnissystem zwang.

Bei allem Gerede über fromme Tugenden war es zu früh, um von gemeinsamen Werten mit Deutschland und Italien zu sprechen. Und später, als die USA U-Boot-Stützpunkte in Spanien brauchten, zwang sich Washington dazu, höflich zum spanischen Militärmachthaber Francisco Franco zu sein. Die amerikanisch-europäische Beziehung war auf Notwendigkeiten aufgebaut, nicht auf gemeinsamen Werten.

Dies änderte sich im Jahr 1991. Die Sowjetunion kollabierte, und mit ihr der Zweck der Nato. Ihre Aufgabe war es, einen sowjetischen Angriff auf Westeuropa zu verhindern. Europa und die Vereinigten Staaten stellten militärische Kräfte auf, die für diese Aufgabe geeignet waren, und jedes Mitglied hatte einen bestimmten Verantwortungsbereich. Aber heute gibt es keine Sowjetunion mehr – eine Tatsache, die die europäischen Länder erst vor relativ kurzer Zeit entdeckt zu haben scheinen und dementsprechend ihre militärischen Kräfte drastisch reduzierten. 

Das Ende der Friedensdividende

Ein Militärbündnis kann aber ohne ein Militär nicht wirklich existieren. Sollten die Russen also jemals nach Westen vordringen, wäre zum Beispiel Deutschland kaum in der Lage, dem eine bedeutende Streitmacht entgegenzustellen. Die USA wären durch einen Vertrag zum Einsatz gezwungen und müssten die Last tragen. Als Trump vorschlug, 10.000 Truppenangehörige aus Europa abzuziehen, sahen die Europäer das als die Beendigung des Engagements der USA. Trump forderte von den anderen Mitgliedern gleiche Anstrengungen.

Die frühen 1990er-Jahre brachten noch eine weitere massive Veränderung im globalen System mit sich: den Vertrag von Maastricht. Dies ist für die Nato-Frage wichtig, weil eine der treibenden Kräfte bei der Gründung der Verteidigungsbündnisses darin bestand, dass Europa nicht über die wirtschaftlichen Möglichkeiten verfügte, eine schlagkräftige Streitmacht aufzustellen. Es gab aber keinen Grund, warum sich Europa nicht selbst verteidigen konnte, sobald es sich erholt hatte. Es war gewiss nicht unvernünftig, dass Europa in den Nachkriegsjahren mehr sicherheitspolitische Verantwortung von den Vereinigten Staaten verlangte. Und es war auch nicht unvernünftig, dass die USA diesem Wunsch entsprachen. Denn so hatten sie die Möglichkeit, einen Krieg zu vermeiden und heikle Entscheidungen von den Europäern fernzuhalten, die in den Jahren 1914 und 1939, offen gesagt, unverantwortlich gehandelt hatten. 

Nun ist es aber so, dass die Bruttoinlandsprodukte der Europäischen Union und der nordamerikanischen Freihandelszone ungefähr gleich groß sind. Und an diesem Punkt ist es schwer zu erkennen, worin der Zweck der Nato für die Vereinigten Staaten bestehen oder welchen Wert sie haben soll. Washingtons Hauptaugenmerk richtet sich auf China, und die Nato spielt dabei fast keine Rolle. Es ist nicht unvernünftig, wenn die Vereinigten Staaten von Europa eine militärische und diplomatische Beteiligung an diesem Konkurrenzkampf verlangen – und es gibt kaum einen Grund, US-Streitkräfte in größerer Zahl auf europäischem Boden zu halten.

Unterschiedliche Interessen

Die Gründung der EU machte deutlich, was schon lange offensichtlich war: dass Europa wirtschaftlich nicht mehr von den USA abhing. Wenn überhaupt, dann löste sie eine Ära aus, in der Europa eine Wirtschaftspolitik verfolgte, die die Interessen der USA herausforderte. Die Vorstellung, dass die USA und die EU miteinander konkurrieren könnten, während die USA für die Sicherheit Europas verantwortlich blieben, ist und war bizarr. Es war ein großartiger Deal für Europa, aber für die USA schwer zu verdauen.

Insofern stellt sich tatsächlich die Frage, worin das Interesse für die USA besteht, wieder mit ihren europäischen Partnern zusammenzuarbeiten. Die Umstände, die einst zu dieser Partnerschaft geführt haben, sind nicht mehr gegeben. Und weil die Europäer nicht besonders sentimental gegenüber den Amerikanern sind, haben sie an dieser Beziehung ein Interesse, das von dem amerikanischen Interesse abweicht. Sie wollen US-Militärgarantien und bis zu einem gewissen Grad auch amerikanische Wirtschaftskooperation – während die USA darauf bestehen, dass Europa mehr Verantwortung für seine eigene Verteidigung übernimmt.

Die USA und Europa sind zudem in grundsätzlichen Fragen gespalten, ebenso wie die einzelnen EU-Mitglieder. Nur ein Beispiel dafür ist die Nord Stream 2-Pipeline, die russisches Erdgas nach Europa transportieren soll. Polen ist darüber entsetzt, Deutschland ist eifrig engagiert, Portugal verhält sich gleichgültig. Die Europäische Union schwächelt noch immer wegen der Folgen der Finanzkrise von 2008 und natürlich an den Auswirkungen der Corona-Pandemie. Großbritannien ist ausgetreten, und die EU droht, Polen und Ungarn an die Kandare zu nehmen, während Brüssel darüber nachdenkt, wie man mit einer Zentralbank für die Bedürfnisse unzähliger Länder sorgen kann.

Geteiltes Risiko

Es gibt geopolitische Fragen, bei denen sich Europa entweder engagieren oder seine Beteiligung verweigern muss. Das betrifft etwa die Haltung gegenüber Russland, das in Wahrheit viel schwächer ist, als es sich selbst darstellt. Dennoch ist die militärische Macht eines Landes immer relativ zur Stärke seiner Gegner zu sehen. Im Moment ist Europa nicht gegen die zugegebenerweise wenig wahrscheinliche, aber eben auch nicht völlig auszuschließende Möglichkeit gewappnet, dass Russland nach Westen vordringt. Und diese Frage ist derzeit besonders relevant, weil die Vereinigten Staaten in eine Konfrontation mit China verwickelt sind. Die Europäer müssen sich entweder mit ihrem Verbündeten abstimmen und die Risiken teilen – oder deutlich machen, dass sie das nicht wollen.

Europa hat die Möglichkeit, dem transatlantischen Bündnis wieder beizutreten, und zwar mit militärischen Fähigkeiten, die auf seiner heutigen Wirtschaftskraft basieren, nicht auf der von vor 40 Jahren. Ein Bündnis gründet auf geteiltem Risiko – und natürlich existieren Risiken, auch wenn sie weniger dramatisch sind als zu Zeiten des Kalten Krieges. 

Wenn Europa sich entscheidet, passiv zu bleiben, dann können ja immerhin noch deren einzelne Mitgliedstaaten aktiv werden. Die EU ist bei Lichte besehen lediglich ein gemeinsamer Wirtschaftsraum – und kein Nationalstaat mit einer entsprechenden Verteidigungspolitik. Aber die Wirtschaftspolitik bestimmt nun einmal auch die Verteidigungsfähigkeiten, und wenn die irrationale Struktur der EU, bei der die wirtschaftliche Macht von militärischer Macht getrennt ist, vor 1991 jemals sinnvoll gewesen sein mag, so ist das heutzutage sicherlich nicht mehr der Fall.

Rückkehr ohne Vorteil

Die USA haben zwei Möglichkeiten, sollte Europa seine Richtung nicht ändern. Die erste ist, sich aus Europa zurückzuziehen und die Verteidigung des Kontinents dem Kontinent selbst zu überlassen, während die Amerikaner sich China zuwenden. Die zweite besteht darin, die Europäische Union zu ignorieren und mit den einzelnen europäischen Staaten sowohl in Verteidigungs- als auch in Wirtschaftsfragen zu verhandeln. 

Für die USA stellen beide Optionen ein Problem dar. Die EU scheint vor weitreichenden Maßnahmen gegen China zurückzuschrecken und zieht bescheidenere und weniger riskante Maßnahmen vor. Die Zusammenarbeit mit einzelnen Ländern wiederum könnte misslingen und Amerika in innereuropäische Politik verwickeln. Die Klarheit über den Auftrag der Nato wie einst im Kalten Krieg ist nicht mehr gegeben. In einer Frage, die für die Vereinigten Staaten von zentraler Bedeutung ist, bringt eine „Rückkehr nach Europa“ nur minimale Vorteile mit sich.

Im Großen und Ganzen wäre ein sinnvolles Bündnis für die Vereinigten Staaten von Vorteil. Aber die Frage ist, ob auch die Europäer solch ein sinnvolles Bündnis wollen. Zu einem Treffen zu gehen und die Gastgeber lediglich nicht zu beleidigen, stellt noch keine „Rückkehr nach Europa“ dar. Und angesichts der Tatsache, dass Europa nicht geneigt ist, die schmerzhaften Entscheidungen zu treffen, die eine den Gegebenheiten angepasste Beziehung erfordert, ist es schwer zu verstehen, was eine „Rückkehr nach Europa“ bedeuten soll. Abgesehen natürlich von der Tatsache, dass man bei solchen Gelegenheiten mit einigen interessanten Leuten zu Abend essen kann.

Wir schreiben das Jahr 2021, und es liegt an den Europäern, zu erkennen, dass sie sich ihrer künftigen Rolle klar werden müssen, wenn sie an einem Bündnis mit den Vereinigten Staaten interessiert sind.

 

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