Belgien und der UN-Migrationspakt - „Auf der richtigen Seite der Geschichte“

Belgiens Regierung ist über dem Streit um den UN-Migrationspakt zerbrochen. Aus Protest verließen die Minister der nationalistischen Partei N-VA die Regierung. Doch Premierminister Charles Michel gelang es, die Regierungskrise zu beenden – zumindest auf dem Papier

Auch die Bundeskanzlerin war nach Marrakesch gereist – allerdings mit der Rückendeckung der Regierung / picture alliance
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Eric Bonse berichtet seit 2004 aus Brüssel über Europapolitik. Er betreibt auch den EU-Watchblog „Lost in Europe“.

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Nun hat er es also doch getan. Nur einen Tag, nachdem die belgische Regierungskoalition im Streit um den UN-Migrationspakt zerbrochen ist, ist Premierminister Charles Michel nach Marrakesch geflogen, um den Pakt zu besiegeln. „Ich habe keine Mehrheit mehr“, sagte Michel bei der internationalen Konferenz, an der auch Kanzlerin Angela Merkel teilnahm. „Aber ich bin aufrecht und stolz. Mein Land steht auf der richtigen Seite der Geschichte.“

Machtkampf in der „Schweden-Koalition“

Hier stehe ich, ich kann nicht anders – so die Botschaft des liberalen belgischen Premiers. Michel wirkte entschlossen und erleichtert. Dabei hat er einen tagelangen, nervenzerrenden Machtkampf mit der nationalistischen flämische Partei N-VA hinter sich. Noch im Sommer hatte N-VA-Chef Bart De Wever den Migrationspakt mitgetragen. Doch im Herbst schwenkte er auf Ablehnung um. Am Sonntag zog er die N-VA-Minister aus der Regierung zurück. 

Damit geht nach vier Jahren ein umstrittenes Experiment zu Ende: Die so genannte „Schweden-Koalition“, die nach den gelben und blauen Farben der vier beteiligten Parteien benannt wurde, ist zerbrochen. Von Anfang an hatte die streitlustige N-VA den anderen beteiligten Parteien – Liberale und Christdemokraten aus Flandern und der Wallonie – das Leben schwer gemacht. 

Einigkeit nur in der Wirtschafts- und Sozialpolitik

Nur in der Wirtschafts- und Sozialpolitik konnten sich die belgischen Koalitionäre auf eine gemeinsame, wirtschaftsliberale Linie einigen. Auch die Terrorattentate im Jahr 2016 schweißten die „Schweden“ zusammen. Doch in fast allen anderen Fragen gab es Streit. Die N-VA versuchte, das Maximum für ihre Heimatregion Flandern herauszuschlagen und sich am rechten Rand zu profilieren.

Zuletzt schoß sich die Partei auf die Migranten ein, die über Brüssel und die belgische Küstenregion nach England streben. Noch am vergangenen Donnerstag lancierte die N-VA eine Kampagne mit offen ausländerfeindlichen und rassistischen Akzenten. Die Kampagne wurde zwar nach Protesten wieder zurückgezogen. Doch umso härter traten de Wever und seine Partei dann im Streit um den UN-Migrationspakt auf.

Migrationspakt als rote Linie

„Die Regierung, die nach Marrakesch fährt, hat nicht die Unterstützung der N-VA“, drohte De Wever. Dies sei eine rote Linie, machte er klar. Premier Michel ließ sich jedoch nicht einschüchtern. Er suchte eine „alternative“ Mehrheit im Brüsseler Föderal-Parlament – und setzte sich am Freitag durch. Grüne und sozialistische Abgeordnete trugen einen Antrag zugunsten des Migrationspaktes mit und schafften es so, die N-VA zu isolieren.

Doch damit war der Streit nicht beendet – im Gegenteil. Am Samstag wurde eine Krisensitzung einberufen. N-VA-Chef De Wever sagte nach dem Treffen, wenn seine Partei „in der Regierung keine Stimme" mehr habe, dann habe es auch „keinen Zweck" mehr weiterzumachen. Michel bekräftigte, dass er Belgien als Chef „einer verantwortungsbewussten Koalition" in Marrakesch vertreten werde.

Mit der Minderheitsregierung bis zur Wahl 2019?

Der Premier kann sich dabei auf das Votum des Föderal-Parlaments berufen – doch eine eigene Mehrheit hat er nicht mehr. Vielmehr will er nun versuchen, mit einer Minderheits-Regierung bis zur Wahl im Mai 2019 durchzuhalten. Noch am Sonntag ernannte Michel die Nachfolger für die N-VA-Minister. Der Christdemokrat Pieter de Crem soll Innenminister werden, Außenminister Didier Reynders soll auch noch das Verteidigungsressort übernehmen.

Die Regierungskrise ist damit beendet – zumindest auf dem Papier. Die Verfassung schreibe nicht vor, dass er für sein neues Kabinett ein Vertrauensvotum im Parlament einhole, erklärte Michel. Die Grünen und die Sozialisten sehen das allerdings anders. Dass die neue Regierung „Michel II“, wie man sie in Brüssel nennt, bis zur Wahl durchhält, ist denn auch keineswegs sicher. Vor allem die Verabschiedung des Haushalts könnte zum Problem werden.

Nationalisten drohen mit dem „totalen Krieg“

Klar scheint nur, dass nun der Wahlkampf eröffnet ist. Die flämischen Nationalisten haben bereits angekündigt, die Migrationspolitik zum Thema zu machen. Dabei stehen sie selbst unter Druck. Denn der rechtsextreme „Vlaams Belang“ fordert einen noch härteren Kurs gegen Flüchtlinge. Die Rivalen der N-VA hatten bei der Kommunalwahl im Oktober überraschend kräftig zugelegt. Auch dies trug zur Verhärtung im Streit um den UN-Migrationspakt bei.

Dass Michel standhaft blieb und trotz allem nach Marrakesch geflogen ist, hat die Lage nicht beruhigt. Im Gegenteil: Nun gehen der frühere Migrationsminister Theo Francken von der N-VA und seine Amtsnachfolgerin Maggie de Block aufeinander los. Sie habe von Francken „ein Ministerium im Chaos“ übernommen, beschwerte sich die flämische Liberale. Francken schoß sofort zurück und warf de Block schäbiges Verhalten und Lügen vor. Wenn das so weitergehe, werde es im „totalen Krieg“ enden.

Es sieht fast so aus, als werde in Belgien bald ein neuer Pakt nötig: für ziviles Verhalten unter erwachsenen Menschen. Der Streit um die Migration hat das ohnehin tief zerrissene Land nicht geeint, sondern weiter gespalten.
 

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