Jahresrückblick auf Belarus - Das Jahr des Aufstands

Seit 2013 hat Simone Brunner immer wieder aus Belarus berichtet. Im Sommer brachen die bisher größten Proteste gegen den Langzeit-Herrscher Alexander Lukaschenko aus. Wie plötzlich aus Freunden Revolutionäre und aus Kollegen politische Gefangene wurden.

Die belarussische Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowskaja im europäischen Parlament/ dpa
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Autoreninfo

Simone Brunner lebt und arbeitet als freie Journalistin in Wien. Sie hat in Sankt Petersburg und in Wien Slawistik und Germanistik studiert und arbeitet seit 2009 als Journalistin mit Fokus auf Osteuropa-Themen.

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„Läuft die Party noch?“, fragte ich. „Ja, aber wir haben einen Ortswechsel gemacht“, schrieb Jan als Antwort. Ich sollte es an diesem Abend nicht mehr zu dieser Party schaffen. Aber die letzten Worte, die wir vor mittlerweile zwei Jahren gewechselt hatten, standen noch im Facebook-Messenger, in weißen Buchstaben auf blauem Grund, als ich ihm vor ein paar Wochen wieder schrieb. Doch diesmal war alles anders.

Ich überlegte, was ich Jan eigentlich sagen wollte. „Ich bin so froh, dass du wieder in Freiheit bist“, tippte ich in die Tastatur. Etwas Besseres fiel mir nicht ein. „Viele viele Grüße aus Wien, mein Lieber!“ Vor zwei Jahren hatte ich Jan bei einem Journalistenworkshop in Minsk kennen gelernt. Wir sollten uns originelle Rechercheideen überlegen, Jan und ich waren in einem Team.

Zu 15 Tagen Haft verurteilt

Wir schlugen eine Geschichte über die belarussisch-österreichische Freundschaft vor. Immerhin ist Österreich, das Land, in dem ich lebe, einer der großen Auslandsinvestoren in Belarus, dem Land, in dem Jan lebt. Wir lachten viel, blödelten herum, schweiften ab, sprachen dazwischen über den Krieg in der Ostukraine, von dem wir beide berichtet hatten, über russische Propaganda und gemeinsame Bekannte. Beim internen Wettbewerb, bei dem wir unsere Ideen den Kollegen vorstellen sollten, schnitten wir ziemlich schlecht ab. Es war sehr lustig. Heute, zwei Jahre später, gab es auch keine Party mehr.

Es war ein Sonntag Anfang November, als bei den Protesten in Minsk wieder hunderte Menschen festgenommen wurde. Darunter auch ein Journalist. Es war Jan. „Bist du etwa vom KGB?“ hatten ihn Kollegen zuvor noch scherzhaft angepöbelt, weil er noch nie festgenommen worden war. Jan schrieb darüber auf seinem Twitter-Account, aber nur einen Tag später, am Sonntag, dem 8. November, änderte sich das. Jan wurde in einen Gefangenentransporter gezerrt und später zu 15 Tagen Haft verurteilt. Als wir wenige Tage nach seiner Freilassung über Telegram miteinander sprachen, rang ich wieder um die richtigen ersten Worte.

Faszinierende Widersprüche

„Es ist schön, deine Stimme zu hören“, sagte ich. „Ja“, sagte Jan nur. Diesmal ging es nicht um die nächste Party oder blöde Witze. Sondern um Polizeigewalt, Folter und seine Haft. Immer wieder hatte ich aus Belarus berichtet. Seit meiner ersten Reise 2013 war ich völlig von diesem Land fasziniert. Vom Widerspruch zwischen brutaler Repression und unterschwelliger Europäisierung. Von den hippen Galerien, Läden und Lokalen, die der IT-Boom in Minsk aus dem Boden stampfte. Von den sprachgewandten und weltoffenen Belarussen selbst, die so gar nicht zum Klischee der „letzten Diktatur Europas“ passen und jeden Rubel für die nächste EU-Reise auf die Seite legen. Von den mutigen Aktivisten und Politikern, die trotz der aussichtslosen Lage versuchen, etwas zu verändern. Und vor allem den hartgesottenen Journalistenkollegen, die trotz aller Gefahren einfach weiter ihren Job machen.

Doch dieses Jahr sollte alles in den Schatten stellen. Die Covid-19-Pandemie, die von Lukaschenko zu einer „Psychose“ verspottet wurde. Die Präsidentschaftswahlen am 9. August, von massiven Wahlfälschungen begleitet, an denen sich beispiellose Proteste entzündeten, die immer noch anhalten. Ein Mix aus Elternzeit – mein Baby war im Sommer erst wenige Monate alt – Covid-19-Reisebeschränkungen und Akkreditierungs-Chaos machten eine Belarus-Reise für mich bisher leider unmöglich. Doch sobald mein Baby schlief, hing ich nächtelang vor dem Computer, sprach mit Freunden, mit Kollegen. Fassungslos klickte ich mich durch die Videos, die vor allem von den ersten drei Gewaltnächten nach den Wahlen kursierten. Blendgranaten, Tränengas, Schläge.

Eine Revolution?

Bald gab es den ersten Toten. Das fachte die Proteste nur noch weiter an. Eine Revolution? Es war verrückt, in den ersten Tagen dieses Aufstandes all diese bekannten Orte zu sehen, die ich doch kaum wiedererkannte. Wie Schodsina, eine Autostunde von Minsk entfernt, bekannt für sein Untersuchungsgefängnis, wohin Gefangene gebracht werden, wenn die Minsker Strafanstalten schon zu voll sind.

Die beklemmende Atmosphäre, als wir dort vor drei Jahren, zwischen streunenden Hunden, auf die Freilassung von Bekannten warteten, habe ich heute noch vor Augen. Diesmal: Überall Menschen, Jubelstimmung. Oder Hrodna, die Stadt an der polnischen Grenze, wo sich Arbeitende in einer Fabrik für Lukaschenkos Gegenkandidatin Swetlana Tichanowskaja stark machten, wie ein Video zeigt, das viral ging. Und natürlich Minsk, die sich zu einer regelrechten Hipster-Stadt gemausert hatte, mit seinen riesigen Plätzen und Prospekten, die immer irgendwie zu groß wirkten, für das Land, für die Stadt, für die Menschen. Jetzt waren sie plötzlich voll mit Leuten.

Freunde werden zu Revolutionären

Auch in meinem Umfeld änderte sich etwas. Selbst Freunde, mit denen ich nie über Politik, sondern immer nur über Musik, Literatur und Kultur diskutiert hatte, marschierten jetzt als Revolutionäre auf der Straße und skandierten: „Lukaschenko, hau ab!“ Dauernd spülte mir Facebook alte Erinnerungen an vergangene Belarus-Reisen in meine Timeline, von der Tomatenernte auf der Datscha im Sommer 2015 bis hin zur letzten Minsk-Reise. Eine Freundin, die bisher nicht gerade mit regimekritischen Tönen aufgefallen war und sich bestenfalls nur über den schrulligen „Luka“ lustig gemacht hatte, marschierte plötzlich jeden Sonntag mit weiß-roten Blumen in der Hand und Tränen in den Augen über die Minsker Plätze. Sie schrieb mir einmal: „Ich möchte einfach nicht in einem zweiten Nordkorea leben.“

Doch mit der Zeit wandelten sich die Nachrichten. Die Jubelmeldungen, die glücklichen Gesichter mit dem Victory-Zeichen, die Selfies vor dem weiß-rot-weiße Flaggenmeer, dem Symbol der Proteste. Die Euphorie, die Zuversicht wich einem Ton der Ernüchterung, der Wut. Schleichend, Woche für Woche, stiegen die Repressionen wieder an. Ihr Radius zog auch in meinem Umfeld immer weitere Kreise.

Listen der Festgenommenen

Eine Freundin wurde kurzfristig festgenommen, kam aber sofort wieder frei. Ein Bekannter, mit dem ich seit dem Ausbruch der Proteste im Kontakt war, wurde festgenommen. Ein IT-Unternehmer, den ich über die Jahre immer wieder getroffen hatte, wurde inhaftiert. Und zuletzt eben auch Jan, der Journalist. Jeden Sonntag, dem traditionellen Tag der Protestmärsche, klickte ich mich bang durch die Listen der Festgenommenen, um zu sehen, ob ich einen Namen kenne. Ich tue es bis heute.

Auf ORF lief zuletzt ein Beitrag des Nahostkorrespondenten Karim El-Gawhary. Er erzählte von einem Freund, der in Ägypten inhaftiert worden war. Er reflektierte über die Rolle des Journalisten, der plötzlich über seinen eigenen Freund berichten muss. Über journalistische Objektivität und kritische Distanz. Es waren wahre Worte. Aber in Belarus, dachte ich  mir zugleich, einem Land, dessen Hauptstadt von Berlin so weit entfernt ist wie Paris, passiert das inzwischen auch fast jeden Tag.

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