Flüchtlingszahlen - Die Balkanroute ist wieder offen

Die Lage in den Flüchtlingslagern in Bosnien-Herzegowina wird immer angespannter. Die Behörden in Kroatien und Slowenien bereiten sich deshalb auf neue Migranten vor. Auch in Deutschland betrachtet man den zunehmenden Verkehr auf der Balkanroute „mit großer Sorge“

Flüchtlingscamp in Vučjak / picture alliance
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Helena Truchla lebt in Tschechien und arbeitet als Journalistin für die Zeitungen aktualne.cz und Hospodarske noviny daily newspaper.

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Die sogenannte Balkanroute, die von der Türkei aus über Griechenland schließlich durch Südosteuropa führt, galt über drei Jahre hinweg als offiziell gesperrt. Nach Angaben deutscher Behörden nimmt aber die illegale Migration seit einigen Monaten wieder zu. Dies zeigt ein Bericht des Bundesministeriums des Innern, welcher der Welt am Sonntag vorliegt.

Alle „migrationsrelevanten Indikatoren“ wie illegale Grenzübertritte und Asylanträge seien demnach „in allen Staaten der Balkanregion derzeit auf einem nochmals höheren Niveau als in den Vergleichszeiträumen 2017 und 2018“.

Nach Angaben der Bundespolizei nutzen die Menschen „nunmehr ein weit verzweigtes Netz von Routen durch die Staaten der Balkanregion, um nach Mittel- und Westeuropa zu gelangen. Ein zentraler Knotenpunkt ist dabei der Una Sana Kanton in Bosnien und Herzegowina.“

Überfüllte Lager Sedra, Borici, Bire und Miral

Vor Ort in Bosnien verfolgt die Luxemburgerin Fabienne Dimmer die Situation. Sie arbeitet für die Organisation Catch a Smile, welche dort die Freiwilligenarbeit koordiniert. Dimmer ist deshalb im ganzen Land unterwegs. „Mehr und mehr Leute kommen hierher. Als ich im Sommer in Sarajevo war, hab ich festgestellt, es gibt so viel mehr türkische Kurden, Iranern, Marokkaner, Tunesier, Syrer.“

Dimmer ist in Bosnien schon seit März 2018 regelmäßig tätig. „Wir unterstützen die Finanzierung oder Durchführung von Freiwilligenprojekten, die den Menschen in ihrem täglichen Leben helfen, beispielsweise bauen wir Küchen“, sagt sie. Sie kennt die überfüllten Lager Sedra, Borici, Bire und Miral.

Das Schlimmste sei, sagt Dimmer, dass einige der Flüchtlinge Jahre lang in den Lagern in verschiedenen Ländern verbringen. „Ich habe zufällig zwei Leute hier kennen gelernt, und ich habe festgestellt, dass sie sich schon 2016 getroffen haben, in Griechenland, und jetzt erneut, in Bosnien. Und in der Zwischenzeit haben sie nichts getan, sie konnten nicht. Obwohl sie natürlich arbeiten und die Kinder in die Schule schicken wollten“, sagt sie. Das sind die Gründe, weshalb viele Flüchtlinge versuchen, immer weiterzukommen. Sie wollen raus aus dieser Situation.

Kein Wasser, kein Strom, aber gefährliche Minen

Die bosnischen Behörden haben an diesem Mittwoch beschlossen, die Lager in Bire und Miral zu sperren. Das bedeutet, dass Flüchtlinge und Migranten ab diesem Freitag die Einrichtungen nicht mehr verlassen dürfen, außer wenn sie sich auf den Weg zur kroatischen Grenze machen, um Bosnien und Herzegowina endgültig zu verlassen.

Das letzte frei zugängliche Camp ist Vučjak, in der Nähe von der Stadt Bihać. Aber es ist kein offizielles Lager, es befindet sich auf dem Gelände einer ehemaligen Mülldeponie. Das Rote Kreuz warnte bereits im Oktober vor einer drohenden humanitären Katastrophe in Vučjak. In den überfüllten Zelten leben nach Angaben der lokalen Polizei bis zu 2500 Migranten, die Kapazität beträgt aber höchstens 1000 Plätze. Die Menschen hier haben keinen Zugang zu fließendem Wasser oder Strom. Sie sind auch von Minen bedroht, den tödlichen Überbleibseln des Jugoslawienkrieges der frühen 1990er Jahre.

Die Lage hängt von Griechenland ab

Von Bosnien aus versuchen die meisten Menschen, es nach Kroatien zu schaffen. Es ist das erste Mitgliedsland der Europäischen Union auf dem Weg, dann weiter nach Slowenien, das im Schengenraum liegt. „Von sicheren Außengrenzen kann heute keine Rede sein“, warnte der Präsident der Bundespolizei in der Welt am Sonntag.

Die kroatischen und auch die slowenischen Behörden registrieren bereits einen Anstieg. Nach Angaben des slowenischen Innenministeriums ist in diesem Jahr eine Zunahme der Zahl der illegalen Grenzübertritten zu verzeichnen, die in der überwiegenden Mehrheit der Fälle nicht aus der Republik Kroatien, sondern in die Republik Kroatien erfolgt.

Slowenien lässt die Menschen bislang nicht weiter nach Westen ziehen. „In den ersten zehn Monaten dieses Jahres haben wir 9710 Menschen zurückgebracht, also die überwiegende Mehrheit. Menschen aus Pakistan, Algerien, Afghanistan, kamen am häufigsten“, sagt die Pressesprecherin des Innenministeriums in Ljubljana, Vesna Mitric dem Cicero.

Anstieg der Zahlen

Nach Angaben der deutschen Behörden hängt die Entwicklung auf der Balkanroute von der von der Zahl der Flüchtlinge ab, die nach Griechenland kommen. Sie nutzen meistens den Seeweg, und diese Zahl wird von der norwegischen NGO Aegean Boat Report aufgezeichnet.

Ihre Daten zeigen, dass in diesem Jahr mehr Menschen ins Land kamen als in den beiden Vorjahren. Während es im Jahr 2017 insgesamt 23.000 und ein Jahr später 32.000 waren, waren es in den ersten zehn Monaten dieses Jahres bereits fast 46.000. Das bestätigt auch ein interner Bericht der Europäischen Kommission.

Quelle: Aegean Boat Report

Der Deal macht die EU abhängig

Die Mitgliedstaaten der Union haben sich vor drei Jahren mit Ankara darauf geeinigt, dass alle Flüchtlinge und Migranten, die illegal aus der Türkei nach Griechenland ziehen, zurückgebracht werden. Damals hat diese Maßnahme die Balkanroute nach Deutschland, Italien oder Frankreich faktisch gesperrt. Laut der Europäischen Kommission wurden aber seit 2016 nur 1944 Menschen zurück in die Türkei geschickt. 2019 waren es nur 138. Die Abschieberate sei „so gering wie nie zuvor“, steht in dem Bericht.

Auf dem Balkan sind viele Menschen stecken blieben, und nach Serbien und Griechenland verschlechtert sich jetzt die Lage auch in dem kleineren Bosnien-Herzegowina. Die Zunahme ist bemerkbar. „Erdogan beginnt langsam, die Flüchtlinge freizulassen“, glaubt Fabienne Dimmer. Die EU kann machen, was sie will, aber sie ist auf ihn angewiesen.“

Bamf-Mitarbeiter sind vor Ort

Bezüglich der Anzahl der Personen, die auf der Balkanroute unterwegs sind, ist die derzeitige Situation nicht mit 2015 und 2016 zu vergleichen. Anfang November machte darauf auch der kroatische Innenminister Davor Božinović aufmerksam. „Zu dieser Zeit überquerten jeden Tag 10.000 Menschen das kroatische Territorium. Derzeit leben im Una Sana Kanton nur etwa 4.000 bis 6.000 Menschen“, sagte er. Nach Schätzungen von Dimmer geht es aber eher um 8.000 bis 10.000.

Beamte des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf) reisen nun persönlich auf den Balkan. Sie wollen herausfinden, wie Deutschland dem multiethnischen Land helfen kann, das selbst mit Korruption und einer kaum funktionierenden Staatsverwaltung zu kämpfen hat.

Versuche, die Lage zu verbessern

Slowenien plant seinerseits unter anderem die Verstärkung seines Grenzschutzes. Die dortige Polizei verstärkte laut Innenministerium ihre Arbeit in Gebieten mit erhöhtem Migrationsdruck (hauptsächlich entlang der kroatischen Grenze) durch personelle und technische Aufstockung. „Wir sind uns unserer Verantwortung für die Sicherheit des Schengen-Raums bewusst“, sagt eine Pressesprecherin. Die Situation soll unter Kontrolle sein. Derzeit helfen auch 150 Armeeangehörige beim Schutz der Grenzen.

Die Kroaten bereiten sich ebenfalls vor, die Grenze zu Bosnien wird von fünf unbemannten Flugzeugen und 450 Nachtsichtkameras bewacht. Der größte Teil der Technologie wird mit Geldern aus Brüssel gekauft. Die EU versucht, den Schutz der EU-Außengrenzen zu unterstützen. Die Aufnahmeeinrichtung für Asylsuchende in der Hauptstadt Zagreb wird zur Zeit auch wiederherstellt, und das Land kauft größere Mengen an Matratzen ein.

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