75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz - „Ich dachte jeden Tag, ich geh ins Gas“

Sie hat Auschwitz verlassen, aber Auschwitz hat nie sie verlassen. Als Rentnerin fand Schoschanna Kolmer Zuflucht in Israels erstem Altenheim für Überlebende des Holocausts. Seine Bewohner leiden noch stärker unter ihren Traumata als unter ihrer Altersarmut. Ein Besuch

Auschwitz hat sie nie verlassen: Schoschanna Kolmer mit Simon Sabag, dem Leiter des 1. Heims für Holocaust-Überlebnde / Hildebrandt
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Es verfolgt sie noch immer bis in ihre Träume. Ein Neugeborenes, die Augen noch verklebt. Gerade hat es sich  seinen Weg  auf die Welt gebahnt, in einer zugigen Baracke im KZ Auschwitz. Sie sieht noch, wie eine Wärterin die Nabelschnur zur Mutter durchtrennt. Sie hört, wie das Neugeborene schreit. Und dann ist da dieser Kübel mit Wasser. Sie sieht, wie die Wärterin den Säugling hineintaucht. Und dann ist es plötzlich sehr still. 

So geht das jetzt schon seit über 70 Jahren.Jede Nacht derselbe Traum. Schoschanna Kolmer schreckt daraus hoch, ihr Körper ist schweißgebadet, ihr Puls rast. Sie beruhigt sich erst wieder, wenn Asher auf sie einredet. Ihr Sohn. Nein, das Neugeborene aus dem Traum war nicht ihr Kind. Eine Mitinsassin hat es an einem Morgen im Herbst 1944 zur Welt gebracht. Doch die Bilder haben sich in ihre Seele eingebrannt. Das Messer, der Säugling, der Eimer. Sie haben eine Urangst in ihr geweckt. Und diese Angst lässt sie nicht wieder los. Sie sagt: „Ich träume jede Nacht, sie nehmen mir mein Kind weg.“  

Altenheim für Holocaust-Überlebende 

Man trifft Schoschanna Kolmer dort, wo sie heute lebt. In einem Altenheim im israelischen Haifa, eine Großstadt am Mittelmeer, 270 000 Einwohner. Sie ist 94 Jahre alt. Eine kleine Frau, über ihren Rollator gebeugt. Sie hat gerade einen Herzinfarkt überlebt. Doch sie strahlt eine beinahe heitere Gelassenheit aus. Braune Augen leuchten in einem Gesicht, das beinahe durchsichtig erscheint.  

Das Heim, in dem sie wohnt, ist ein besonderes Heim. Der Verein Yad Ezer Lechaver („Helfende Hände“) hat es 2011 aufgebaut, mit Spenden der Christian Embassy in Jerusalem. Das meiste Geld stammt aus Deutschland. Und da schließt sich der Kreis. Die Bewohner des Heims haben den Holocaust überlebt. Sie waren als Kinder im KZ, sie haben sich im Wald versteckt oder bei Pflegefamilien. Jetzt sind sie alt, die jüngste ist 76 , der älteste 95. 

Schlaflosigkeit, Angst, innere Unruhe 

Die meisten haben nie über die Erlebnisse ihrer Kindheit gesprochen. Es blieb keine Zeit dafür. Sie sind nach 1945 ins Gelobte Land  gekommen, um diesen Staat mit aufzubauen. Juden aus Deutschland, Polen, Rumänen oder der Tschecheslowakei. Sie haben Familien gegründet und Kinder großgezogen. Kein Mensch hat sie nach den Narben gefragt, die der Holocaust auf ihrer Seele hinterlassen hat. Ihre Erinnerungen mussten sie begraben. Doch jetzt, da sie alt sind und ihr Blick wieder zurückgeht, brechen sie wieder auf. 

Das verbindet Schoschanna Kolmer mit den anderen Bewohnern. Sie klagen über Schlaflosigkeit, Angstzustände und eine innere Unruhe. Man spürt davon nichts, wenn man mit ihnen im Speisesaal sitzt. Es ist ein einfach möblierter Saal, Decken auf den  Tischen. Schokoladenpuddings stehen auf dem Tisch. Sie mögen es süß hier. Süß war knapp im Krieg. Sie können noch immer nicht genug davon bekommen.  

„Es ist wie in einer Famile“

Ein  munteres „Shalom“. schallt Schoschanna entgegen, als sie zum Abendessen in den Raum schlurft. Es wird geredet und gelacht beim Essen. „Es ist ein bisschen wie eine Familie“, sagt Chava Herschkowitz, 77, die sich ums Organisatorische kümmert. Und so, wie sie ein bisschen betont, ahnt man schon, dass es hinter der Fassade auch Streit  gibt, wie in jeder Familie. 

Der Speisesaal ist das Zentrum. Journalisten aus der ganzen Welt kommen gern vorbei. Die Bewohner sind die letzte Generation, die noch aus erster Hand davon erzählen kann. Vom Verlust der Familie. Von der Todesangst. Vom Hunger. Von der Kälte. Als Botschafter für den Frieden, so sehen sie sich selber, sagt Schoschanna Kolmer. Und sie erzählt, wie neulich junge Exil-Iraner zu Besuch waren, und wie einer sagte, den Holocaust habe es nie gegeben. 

Jeder 3. Überlebende lebt unter der Armutsgrenze

Schoschanna Kolmer hat ihm dann die Nummer gezeigt, die man ihr in Auschwitz in den Arm tätowiert hat: 80227. Sie hat viel erzählt, auch von dem Neugeborenen, das ertränkt wurde. Sie sagt: „Am Ende haben diese Männer geweint.“ 180.000 Überlebende leben heute nach Schätzungen noch in Israel, davon wohl jeder Dritte unterhalb der Armutsgrenze. Der Krieg hat ihnen den Zugang zum Studium oder zu einer adäquaten Ausbildung versperrt. Die meisten schlugen sich mit schlecht bezahlten Jobs  durch. 

Schoschanna Kolmer vor ihrer Deportation nach Auschwitz

Jetzt sind sie alt, ihre Rente reicht kaum zum Leben, geschweige denn für ein Heim. Schoschana Kolmer hat als Näherin gearbeitet und zwei Kinder großgezogen. Heute bekommt sie 140 Dollar im Monat. Deshalb hat sie ihre Tochter in diesem Heim. untergebracht. Es liegt im Zentrum von Haifa, in einer ruhigen Seitenstraße. Im Garten  thront die stählerne Plastik einer Sechs. Es ist ein symbolisches Grab. Die Sechs steht für die sechs Millionen Juden, die der Holocaust das Leben gekostet hat. 

Auschwitz hat sie nie verlassen 

Schoschanna Kolmer hat überlebt. Sie sagt, sie könne es immer noch nicht fassen. Ihre ganze Familie hat sie in Auschwitz verloren. 130 Menschen. Sie sagt: „Ich dachte jeden Tag, ich gehe ins Gas.“ Sie teilt sich ein Zimmer mit Asher, ihrem Sohn. Er ist 59 Jahre alt. Ein runder Mann, der wenig redet und sich zum Rauchen in den Hof schleicht. Sie sieht kaum noch, er hilft ihr, auch beim waschen und anziehen. Er wollte nicht mit ihr in dieses Heim ziehen. Doch ohne ihn wollte sie nicht. „Was sein soll mit mir, soll sein mit ihm.“

Jetzt sitzt er auf seinem Bett. Draußen wird es dunkel, die Sonne ist nur noch ein roter Tennisball. Asha horcht in sich hinein. Er kann die Geschichten seiner Mutter nicht mehr hören. Sie hat sie ihm schon erzählt, als er noch klein war. Sie kann nicht anders. Schoschana Kolmer hat Auschwitz verlassen, aber Auschwitz hat sie nie verlassen. 

Man redet nicht mit den Kindern über den Holocaust 

Die anderen im Heim wissen das. Sie rollen mit den Augen, wenn sie wieder damit anfängt. Mit den Kindern über den Holocaust zu sprechen, das ist  ein Tabu. Man will den eigenen Nachwuchs nicht ängstigen. Doch ist Schweigen die bessere Alternative? Diese Frage ist der Schlüssel zu diesem Heim. Simon Sabag hat es gegründet, 48 Jahre alt, ein ehemaliger Manager einer Supermarkt-Kette, seit einem schweren Auto-Unfall 1996 schwerbeschädigt. 

Er hat Geld gesammelt, um das Heim zu eröffnen. Und jetzt, da die Warteliste länger wird und die Spenden zäher fließen, wächst ihm die Arbeit über den Kopf. Er  sitzt in seinem Büro, man sieht die Wände vor lauter Fotos nicht. Sabag mit Israels ehemaligem Staatspräsident Schimon Peres, Sabag mit den berühmtesten Rabbinern des Landes. Das wichtigste Foto passt in ein Portemonnaie. Es zeigt eine blonde Dame mit melancholisch umflorten Blick. Rosa, seine Mutter. Als Jugendliche hat sie ein KZ in Griechenland überlebt. Ihr Sohn sagt, sie habe nie mit ihm darüber gesprochen. Aber er habe immer gespürt, wie sehr sie dort gelitten hat. 

Wahl zur „Miss Holocaust Survivor“

Rosa Sabag ist tot. Sie starb 1990, mit nur 67 Jahren. Eine Frau, die Kinder über alles liebte, nicht nur ihre eigenen. Sie kümmerte sich um Waisen. Vielleicht hätte sie auch selber Hilfe gebraucht, aber wer wusste das schon. Sie sprach nie darüber. Ihr Sohn sagt, er habe ihr Bild vor Augen, wenn er den anderen helfe. Er will, dass es ihnen gut gut. Seine Mutter hat ihn auch zu einer Aktion inspiriert, die in Israel eine Kontroverse ausgelöst hat: Die Wahl zur „Miss Holocaust Survivor“.  

Zweimal schon wurde diese andere Schönheitskönigin gekürt. Viele fanden das geschmacklos. Politiker warfen Sabag vor, er benutze das Leid der Alten, um um Spenden zu werben. Sabag steht dazu. Und die Frauen im Heim stehen hinter ihm. Sie sagen, sich schön zu machen, das sei Balsam auf ihrer Seele. So feiere man das Leben. 

Revierkämpfe um Geld und Anerkennung

Wie es in ihnen aussieht, weiß kaum einer besser als Sozialarbeiterin Amit Eshed. Sie hilft ihnen bei Behördengängen. Sie sagt, fast alle litten unter Depressionen und Angstzuständen. Viele bräuchten therapeutische Hilfe. Doch dafür fühlt sich der Verein nicht zuständig. Es ist ein finanzielles Problem. Simon Sabag sagt, wer Hilfe brauche, müsse sie sich schon selber suchen. Doch das lehnen viele eben ab, auch aus falsch verstandenem Stolz und einer diffusen Angst. 

Es ist eine explosive Gemengelage, die da entsteht. Denn zu diesen Beschwerden kommen die üblichen Revierkämpfe. Es geht um Geld und  Anerkennung für ihr Leid. Eifersüchtig wachen die Bewohner darüber, wer wieviel bekommt. Hinter hervorgehaltener Hand klagen die Juden aus dem polnischen Gebieten, sie hätten mehr gelitten als die Juden aus Rumänien. 

Die Entschädigung reichte nur für eine Zahnleiste

Schoschanna Kolmer, die MissHolocaust Survivor von 2012, zu 25 Prozent schwerbeschädigt, abgespeist mit einer Wiedergutmachung von 20.000 D-Mark. Doch kann man das Leid in Geld aufwiegen? Schoschanna Kolmer sagt, das Geld habe nur gereicht, um sich die obere Gebissleiste sanieren zu lassen. Wie zum Beweis öffnet sie den Mund. Unten hat sie keine Zähne mehr. Fragt man sie, was sie sich wünschen würde, wenn sie in ihrem Leben noch einen Wunsch frei hätte, lächelt sie versonnen. Dann sagt sie: „Vielleicht ein neues Herz.“ 

Dieser Text ist zuerst in „Christ und Welt“ erschienen. Schoschanna Kolmer ist im September 2019 gestorben. 

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